Читать книгу Die Kinder der Wellen - Claus Bork - Страница 6
Abschied
ОглавлениеBalder erwachte davon, daß irgendjemand ihm in den Arm kniff.
"Du mußt fort." Es war Saronrogn.
Balder setzte sich im Bett auf und rieb sich die Augen. Dann starrte er verständnislos durch das Dachfenster zu den Sternen.
"Es ist ja mitten in der Nacht."
"Ich weiß auch nicht, warum," sagte Rogn irritiert. "Vater wartet unten auf dich. Beeil dich bißchen, in die Klamotten zu kommen."
Balder sprang aus dem Bett, zog die Hose und die Jacke an und sprang die Treppe in vier langen Sprüngen hinunter. Er fand sie an der Feuerstelle, wo sie saßen und auf ihn warteten.
Das Feuer warf seinen warmen Schein aus dem Kamin auf sie. Auf dem Tisch stand eine Kerze und flackerte.
Der Schwarze Saron saß mit seinem mächtigen Oberkörper über den Tisch gelehnt. Das meiste des Stuhls war fast unter ihm verschwunden. Trotz seiner furchterweckenden Erscheinung und seinem immerwährenden harten Zug um den Mund, hatte er etwas gequältes und wehmütiges an sich. Er sah zu Balder auf, räusperte sich und sagte:
"Du mußt heute Nacht fort, Balder!"
Er erwartete eine Antwort.
Dann streckte er den Arm über den Tisch. In der offenen Handfläche lag ein Pfeil mit goldener Spitze und zwei Reihen weißer Steuerfedern.
"Der steckte vor kurzem im Tor. Es eilt, mein Freund."
"Wer hat ihn dort hingeschoßen?"
"Das war Javer," antwortete Saron. "Hier - iß nun die Grütze, während wir sprechen. Du mußt auf eine lange Reise. Ich habe dir ein paar Sachen eingepackt, aber erst sollst du essen."
"Ist Javer hier in Dorntal?"
Der Schwarze Saron schüttelte den Kopf.
"Nein, das glaube ich nicht. Wo Javer ist, das weiß nur Javer selbst. Aber er hat einen Platz in Dandar."
Der Schwarze Saron löste umständlich einen Knoten und entfernte ein Papier vom Pfeil, das um ihn herumgewickelt war. Nachdem er es aufgefaltet hatte, las er es vor sich selbst, grunzte leise und las laut an Balder gewandt vor.
"Er ist entlarvt. Sie holen ihn in der Nacht. Sorg dafür, daß er rechtzeitig wegkommt. Ich erwarte ihn auf Braunhöhe."
Es war unterschrieben mit: Javer."
Balder starrte nachdenklich in die Grütze, stocherte etwas mit dem Löffel in ihr herum und begann zu essen. Dann schnitt er eine Grimasse. Die Grütze war dampfend heiß, und er hatte sich die Zunge verbrannt.
Jemand klopfte an einen der Fensterläden draußen.
Der Schwarze Saron erhob sich schnell und verließ sie. Als er einen Augenblick später zurückkam, hielt er ein paar Lederstiefel in der Hand.
"Hier, die sind für dich von Signe. Ich soll dir viel Glück auf der Reise wünschen."
"Von der alten Signe?" murmelte Balder und wog sie in der Hand.
Saron nickte.
"War da auch ein Paar für mich?" fragte Saronrogn.
"Du mußt ja nicht fort," sagte der Schwarze Saron mit leuchtenden Augen. "Aber wenn du es eines Tages mußt, wird auch ein Paar für dich da sein."
Er trommelte rastlos mit den Fingern auf der Tischplatte.
Als Balder seine Grütze gegessen hatte, holte er seinen Rucksack.
Der Wind frischte draußen auf, und die Fensterläden klapperten von den Windstößen.
"Dann komm," sagte der Schwarze Saron heiser. "Sie sind jetzt auf dem Weg nach Dorntal. Du mußt ein gutes Stück von hier weg sein, bis sie sich hierher genähert haben."
"Die Nachtwanderer?"
Saron nickte. Er legte die Hände auf Balders Schultern und sah ihn ernst an.
"Du bist weder ein Junge noch ein Mann." Er lächelte und hatte einen warmen Glanz in den Augen. Aber seine Stimme zitterte leicht und entlarvte, was er in seinem tiefsten Inneren fühlte. "Du steckst mitten drin. Paß auf dich auf. Von jetzt an bist du alleine. Vertraue niemandem, keinem anderen als Javer."
"Keinem anderen als Javer," flüsterte Balder.
Sie folgten ihm über den Hofplatz zum Tor. Der Schwarze Saron öffnete es und sah sich um. Ein Stück weg, den Weg hinunter, stand eine kleine Gruppe Männer aus dem Dorf mit Sensen und Messern und wartete.
"Die sind zu deinem Schutz da," sagte Saron. "Sie sind völlig entsetzt. Sie tun es nur, um für dich einen Augenblick Zeit zu gewinnen."
Dann beugte er sich hinunter, legte die Arme um Balder und drückte ihn hart an sich.
"Paß auf dich auf, mein Junge, bis wir uns wiedersehen."
Balder nickte gegen seine Schulter.
"Soll ich mit dir ziehen?" flüsterte Saronrogn.
"Du bleibst," sagte der Schwarze Saron.
"Zum Teufel!" flüsterte Saronrogn.
Balder setzte den Rucksack auf, zog die Riemen stramm und prüfte, ob die Stiefel zugeschnürt waren.
"Hier, das ist für dich," sagte der Schwarze Saron mit belegter Stimme. "Ich habe es selbst geschmiedet, wie ich einstmals das Schwert deines Vaters geschmiedet habe."
Balder hielt den Atem an und zog es aus der Scheide.
Es war ein großes, breitblättriges Jagdmesser. Der Schaft war aus Hirschhorn. Es war so groß, daß es für ihn fast wie ein Schwert war.
"Es ist hübsch," flüsterte Balder.
"Verdammt hüsch," murmelte Saronrogn mit großen Augen.
"Es hat eine Gabe," sagte Saron.
"Eine Gabe?"
"Wenn sein Besitzer in großer Gefahr ist, beginnt das Blatt zu glühen."
"Bin ich es, dem es jetzt gehört?" fragte Balder.
"Ja," antwortete Saron heiser. "Dir wird es immer gehören."
Balder machte das Messer an seinem Gürtel fest. Die Scheide war aus dickem, weichem Leder. Das Messer saß so, daß er es mit beiden Händen herausziehen konnte, so wie es ihm am besten Paßte. Er zog es, um es auszuprobieren.
Gerade als er es über das Licht der Feuerstelle hob, begann das Blatt zu brodeln. Es glimmte erst ganz schwach, dann etwas mehr. Ein glühendes, orangerotes Leuchten warf seinen Schein auf ihre Gesichter.
"Es brennt."
"Weg!" sagte der Schwarze Saron und knuffte ihm sanft in den Rücken. "Ganz egal, was geschieht, darfst du nicht hierher zurückkehren. Du mußt Javer finden. Das ist das einzige, was zählt. Vergiß das nicht!"
"Ich werde es versuchen," sagte Balder.
"Wir sehen uns wieder," sagte Saronrogn. "
"Wir sehen uns ganz sicher wieder, Rogn."
Dann steckte er das Messer in die Scheide und lief die Straße hinunter, über das offene Stück Land und verschwand zwischen den Bäumen.
Am Waldrand drehte er sich ein letztes Mal um. Sie standen immer noch da, eine kleine Gruppe Menschen zwischen den dunklen Häusern. Die Forken, Sensen und Messer schimmerten kalt im Mondlicht.
Balder hob eine Hand und winkte. Sie starrten ihm nach, ohne zu reagieren. Nur Saronrogn erwiderte seinen Gruß.
Weit weg zwischen den Bäumen konnte man nun das dumpfe Donnern von Pferden hören, die durch den Tunnel der Bäume auf dem Weg auf Dorntal zurasten.
"Lauf!" Der Schwarze Saron hob den Hammer über seinen Kopf.
Balder schlug einen Ast zur Seite und sprang durch das Farnkraut und das Gebüsch davon, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Er hatte Angst und war einsam. Hatte Angst, weil er nicht wußte, warum gerade er es war, den sie jagten.
Die Büsche waren triefend naß vom Regen, aber Signe hatte seine Stiefel und seine Jacke eingefettet, was die Feuchtigkeit abhielt.
Die Nachtwanderer Passierten ihn in der Dunkelheit, wirbelten vorbei ein Stück weiter zwischen den Bäumen, ohne ihn zu entdecken. Er hatte den Geruch von ihnen in der Nase und dachte an den Schwarzen Saron, Saronrogn und die anderen aus der kleinen Schar, die vor dem Dorf standen und warteten.
Er horchte, versicherte sich, daß sie alle weg waren, bevor er weiterlief. Dann rannte er fort zwischen den Bäumen, getrieben von seiner Furcht.