Читать книгу Der Biophilia-Effekt - Clemens G. Arvay - Страница 6
ОглавлениеDER BIOPHILIA-EFFEKT
»Wir haben Wurzeln und die sind definitiv nicht in Beton gewachsen«
»Ich nenne diesen Baum meinen ›Begabungsbaum‹«, sagte Michael Jackson. »Denn der Baum inspiriert mich«. Der King of Pop führte einen Reporter des britischen TV-Senders ITV2 durch sein Anwesen. Michael Jackson fuhr fort: »Ich liebe es generell, auf Bäume zu klettern, aber diesen Baum liebe ich besonders. Ich klettere hoch hinauf und schaue auf seine Äste herab, denn ich liebe diesen Anblick! Das schenkt mir so viele Ideen. Ich habe viele meiner Lieder in diesem Baum geschrieben. Heal the World ist in diesem Baum entstanden, Will You be there, Black or White, Childhood und viele andere.« Der King of Pop strahlte, als er das sagte.
Der Reporter blickte skeptisch den mächtigen, hohen Baum hinauf. Er fragte ungläubig: »Sagen Sie ernsthaft, dass Sie auf diesen Baum klettern?«
Michael Jackson deutete in die Baumkrone und sagte: »Die Äste haben verschiedene Funktionen. Dieser waagrechte, starke Ast dort ist wie eine Art Bett.« Dann lief Jackson los und kletterte lachend und leichtfüßig wie ein Kind auf den Baum. Ganz oben nahm er Platz, blickte über den grünen Park und auf die mächtigen Äste herab. Er wurde ganz nachdenklich1.
Dieser uralte Baum mit seiner rauen Borke war also die Inspiration für einige der bekanntesten musikalischen Evergreens unserer Zeit. Die Natur zog Michael Jackson in seinen Bann, beflügelte ihn, und etwas in ihm sehnte sich nach dem Kontakt zu Bäumen.
Andreas Danzer, Musiker, Journalist und Sohn des bekannten Austro-Rockers Georg Danzer, kennt die inspirierende Kraft der Natur ebenfalls aus eigener Erfahrung. Aus seiner Kindheit in Spanien ist ihm ein Ort an der Küste in Erinnerung, an dem er oft Zuflucht suchte. Von einem Felsen am Meer konnte er über das Wasser und bis an das marokkanische Festland sehen. »Ich setzte mich dort hin, wenn ich Beruhigung brauchte oder in die Krise geraten war. Die riesige Felswand ragte hinunter bis zum Meer.« Noch heute ruft Andreas den Ort aus seiner Kindheit in seiner Erinnerung wach, »so wie andere bei Stress einmal tief durchatmen oder bis zehn zählen«. Er kann sich an jedes Detail des Felsens erinnern. Es hilft jedes Mal.
Als Andreas Danzer 2011 krank wurde, kam er in den Genuss der heilenden Kräfte der Natur. Er lag wegen Lungentuberkulose ein halbes Jahr im Krankenhaus. Anfangs durfte er sein Krankenzimmer nicht verlassen und konnte das auch nicht, weil er körperlich zu schwach dazu war. Doch bald begann er, jeden Tag in ein nahegelegenes Naturgebiet zu gehen. Die Ärzte erlaubten es ihm. Er nahm jedes Mal auf dem selben alten Baumstumpf am Waldrand Platz. »Da war immer eine Hirschfamilie«, sagte er. »Sie blieben zuerst in sicherer Distanz zu mir, doch nach etwa ein oder zwei Wochen hatten sie meine Anwesenheit akzeptiert und kamen ganz nah. Ich saß mitten unter ihnen und fühlte mich wie Dian Fossey in Gorillas im Nebel‹.«
Andreas bemerkte, dass seine psychische Niedergeschlagenheit, die von der Krankheit kam, mit jedem Besuch im Wald und bei der Hirschfamilie abnahm. »Ich schöpfte wieder Hoffnung und meine Kräfte, um die Erkrankung zu überstehen, nahmen zu. Meine Faszination für die Tiere und den Wald lenkten mich von meinen körperlichen Symptomen ab. Die frische Luft tat meiner Lunge gut und die Bewegung half mir, nach der Zeit im Krankenbett wieder Muskeln aufzubauen. Durch das Schwitzen, wenn ich den Berg hinauf zu meinem Platz ging, schied ich die Giftstoffe der Medikamente aus und die Nebenwirkungen nahmen ab. Ich baute meine körperlichen und geistigen Kräfte auf und es entstand eine Beziehung zwischen mir und der Hirschfamilie.«
Andreas Danzer nahm sich als Teil der Natur und Teil des großen Kreislaufs des Lebens wahr. Er ist sich sicher: »Jeder Mensch verspürt tief im Inneren den Drang nach der Nähe zur Natur. Wir haben Wurzeln und die sind definitiv nicht in Beton gewachsen.«
Diese Sehnsucht des Menschen nach der Natur nannte Erich Fromm, der Psychotherapeut und Philosoph, der von 1900 bis 1980 lebte, »Biophilia«. Das ist die Liebe der Menschen zur Natur, zum Lebendigen. Der Begriff »Biophilia« stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt »Liebe zum Leben«.
Nach Erich Fromms Tod nahm der US-amerikanische Evolutionsbiologe Edward O. Wilson, ein Universitätsprofessor in Harvard, den Begriff auf und stellte die Biophilia-Hypothese auf. Wilson sprach von dem »menschlichen Bedürfnis, sich mit anderen Lebewesen zu verbinden«. Es geht also um unsere Verbindung mit der Natur. Sie ist das Resultat eines Jahrmillionen langen Evolutionsprozesses. Der Mensch kommt aus der Natur, entwickelte sich in ihr und im Wechselspiel mit ihr. Er ist daher als Teil der Natur zu betrachten, so wie alle anderen Lebensformen. Es wirkt dieselbe Lebenskraft in uns, die auch in Tieren und Pflanzen wirkt. Wir sind Teil des Netzes des Lebens, des »Web ob Life«, wie es Edward O. Wilson ausdrückte.
Der Biophilia-Effekt tritt ein, wenn wir uns mit unseren Wurzeln verbinden, und die sind nicht in Beton gewachsen, wie es Andreas Danzer so treffend auf den Punkt brachte. Der Biophilia- Effekt bedeutet Naturerfahrung und Wildnis, bedeutet natürliche Schönheit und Ästhetik, Entfesselung und Heilung. Darum geht es in diesem Buch.