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29. November, spätnachmittags

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Wo bin ich? Etwa Hamburg? Ich kenne die Hansestadt gut. Hier habe ich mehr als zwölf Jahre meines Single-Lebens verbracht. Ich liebe die Elbe, die Alster, die Parks, die vielen schönen Patrizierhäuser, ja auch St. Pauli. Nur den Regen, den liebe ich nicht. Aber jetzt regnet es in Strömen und ich befinde mich in einer ärmlichen Wohngegend. Kopfsteinpflaster auf der Straße. Es riecht nach Wasser, nach Hafen, es muss einfach Hamburg sein. Wo genau, das weiß ich nicht. Ich betrete einen roten Klinkerbau, ein Abbruchhaus mit kaputten Fenstern. Der Wind pfeift durch die langen, kahlen Gänge. Eine flackernde Neonröhre ist die einzige Lichtquelle. Es ist Nacht und so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Keine Menschenseele ist hier. Außer mir natürlich.

Ich gehe weiter und betrete ganz vorsichtig einen primitiv zusammengezimmerten Anbau. Obwohl ich versuche, keinen Lärm zu machen, quietschen die Holzbohlen unter jedem meiner Schritte. Durch Astlöcher in der Wand fällt fahles Mondlicht. Als ich mich umsehe, entdecke ich einen einfachen, aber massiven Tisch und einen Stuhl, beide aus Holz. Sonst ist der Anbau, der nur aus diesem kleinen Raum besteht, komplett leer. Auf einmal zerreißen Schüsse die nächtliche Ruhe. Es sind Salven aus Maschinenpistolen, die aus der Hütte in Sekundenbruchteilen Kleinholz machen werden. Das ist mir sofort klar. Instinktiv werfe ich mich flach auf den Boden und robbe, so schnell es geht, zu dem Tisch. Ich reiße ihn um, suche Deckung dahinter. Mir fliegen Kugeln um die Ohren. Hoffentlich hält der Tisch den vielen Geschossen stand, denke ich. Ich fühle mich wie in einem Computerspiel. Zahlreiche Angreifer machen Jagd auf einen einzelnen Flüchtenden. Mich!

Ich sitze total verheult in einem bayerischen Wirtshaus, das tatsächlich »Zur guten Besserung« heißt. Es befindet sich schräg gegenüber der Gutsinger Klinik. Zwei Stunden muss ich überbrücken, dann darf ich noch mal zu Clemens. Das kleine Krankenhaus-­Café war völlig überfüllt, da gab es keinen Platz, weil durch das Schneechaos so viele Menschen ausgerutscht sind und nun mit Knochenbrüchen nach Gutsing mussten. Hier im urigen Lokal sind ausschließlich Russen und Araber. Sie trinken, je nach Religionszugehörigkeit, entweder Wodka zum Bier oder Tee ohne Bier. Ich entscheide mich für Pfefferminztee. Es dudeln Weihnachtslieder aus den Lautsprechern, die Russen grölen betrunken mit zu »Jingle Bells« und fangen schon an, mit den Gläsern zu schmeißen. Die kurvige Wirtshausangestellte Svetlana, natürlich im Dirndl, besänftigt sie charmant. Sie ist auch Russin, wie sie mir erzählt. Extra eingestellt, um die vielen solventen Landsleute, deren Familien­mitglieder sich in der gegenüberliegenden Klinik befinden, sprachlich kompetent zu betreuen.

»Gutsing hat einen sehr guten Ruf«, erklärt sie mir. »Auch im Ausland. Wer von dir ist dort?«

»Mein Verlobter«, sage ich.

»Was hat er?«, will sie wissen. Tja, wie soll ich das erklären?

»Er war tot. Fast neun Minuten. Aber die Ärzte haben ihn zurückgeholt«, bringe ich es gleich auf den Punkt. So direkt habe ich es bisher noch nicht formuliert. Ich erschrecke selbst dabei. Neun Minuten war er tot. Das ist schwer zu begreifen. Neun Minuten. So lange brauche ich morgens zu meiner Arbeit mit der Straßenbahn. Neun Minuten – im normalen Alltag eigentlich keine lange Zeit. Jetzt eine Ewigkeit. Svet­lanas Hand, die ein Tablett mit Wodka und Bier hält, beginnt zu zittern.

»Er war tot? Neun Minuten?«, wiederholt sie und kann es auch nicht glauben. Ich nicke. Meine Augen werden glasig. »Das ist doppelt so lange, wie meine Zigarettenpause dauert«, murmelt sie. »Aber jetzt ist er, äh, nicht mehr tot?«

»Er wurde reanimiert, war wieder kurz bei Bewusstsein und dann haben sie ihn ins künstliche Koma versetzt. Sein Körper muss sich von der inneren Blutung erholen.« Ich muss schlucken. Normalerweise redet man doch mit Wildfremden über das ­Wetter oder irgendwelche Belanglosigkeiten, ich jedoch spreche plötzlich über meinen schlimmsten Albtraum. Tränen laufen mir die Wangen hinunter.

»Du liebst ihn sehr, oder? Das spüre ich.«

»Und wie«, antworte ich.

»Glaubst du an Gott?«, frage ich zurück.

Svetlana nickt energisch: »Natürlich!«

»Bitte bete für Clemens! Er kann jeden guten Gedanken, jeden Schutzengel gebrauchen.«

Svetlana eilt davon und kommt mit einem bunten Heiligenbildchen wieder. Zwei Engel sind darauf zu sehen.

»Für dich«, sagt sie. »Ich werde später eine Kerze für deinen Clemens anzünden. Hör nicht auf, zu lieben und zu ­glauben.«

Spontan nehme ich Svetlana in den Arm.

»Und was ist mit dir? Hast du einen Freund oder einen Mann?«

Svetlana schüttelt den Kopf, ihre dunklen Haare fliegen wild umher.

»Lange her. Ich war jung und naiv, er hat mich mit meiner Nachbarin betrogen. Wenig später ist er gestorben. Autounfall. Das ist Gerechtigkeit. Geliebt habe ich ihn keine Sekunde. Zum Glück.« Sie drückt mir ein Glas Wodka in die Hand: »Das ist unsere Medizin. Nastrovje!«

Plötzlich fliegt die Tür auf. Eine dunkle, massige Gestalt betritt den Raum. Sie trägt einen Ledermantel und eine abgesägte Schrotflinte. Ihr Gesicht wird vom Mondlicht beschienen. Es ist das Gesicht eines Mannes, breit, faltig und von Narben übersät. Im Mund hat er einen Zigarrenstumpen. Er wirft mir einen kurzen Blick zu, dann eröffnet er, ohne zu zögern, das Feuer auf die Angreifer. Der Schusswechsel ist kurz, aber heftig. Der Mann holt blitzschnell immer wieder neue Patronen aus seiner Manteltasche, lädt sein zweiläufiges Gewehr nach. Ich kauere hinter meinem Tisch und beobachte, wie er einen Angreifer nach dem anderen mit ­kleinen Bleikugeln durchsiebt. Er schießt wie der Teufel, denke ich. Als das Feuer verstummt, wage ich mich aus meinem Versteck hervor. Mein Retter grinst und winkt mich zu sich. Gemeinsam besehen wir die toten Schützen. Sie sind allesamt schwarz gekleidet und – gesichtslos.

Ich bekomme einen Schreck. Warum quälen mich diese Figuren ohne Augen, Nasen, Ohren und Münder? Sie lassen mich nach einem Unfall einfach verbluten, anstatt mich zu retten. Oder sie versuchen gleich, mich zu erschießen. Und wer ist mein furcht­loser Retter mit der Schrotflinte? Ich finde keine Antworten. Alles macht keinen Sinn. Mein Gehirn ist überfordert. Das macht mich hilflos, verzweifelt.

Da stellt sich der Mann im Ledermantel vor: »Hey, ­Clemens, du kennst mich doch noch? Ich bin’s, Chucky!«

Ich bin verwirrt. ­Chucky, natürlich, da fällt es mir ein. Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre kannte ich mal einen Grafiker, einen Zeitungslayouter, der so hieß. Er arbeitete im ­selben Verlagshaus, in dem ich als Reporter angestellt war. Wir lernten uns, wenn ich mich recht erinnere, bei einem miserablen Bohneneintopf mittags in der Kantine kennen. Er war mir auf Anhieb sym­pathisch.

Früher war Chucky ein fröhlicher älterer Kollege, mit dem ich nach getaner Arbeit ab und zu ein Feierabendbier trank. Er hatte einen lustigen Zwirbelbart im Gesicht und sah gut gelaunt seiner Rente entgegen. Er hatte so gar nichts von dem Chucky, dem nach Alkohol und Tabak stinkenden Revolverhelden mit dem kehligen Lachen, der mir gerade das Leben gerettet hatte. Warum ihn alle schon damals Chucky nannten, also wie »Chucky, die Mörderpuppe« aus dem gleichnamigen Horrorfilm, ist mir ein Rätsel. Den letzten Kontakt mit ihm hatte ich ungefähr Mitte der Neunzigerjahre. Wir verloren uns damals einfach aus den Augen, so wie es im Berufsleben jedem Angestellten wahrscheinlich einige Dutzend Mal passiert. Es gab keinen Grund, kein böses Blut, kein gar nichts. Jetzt ist Chucky zurück. Auch wenn er mein Leben gerade gerettet hat: Ich habe Angst vor ihm. Höllische Angst.

Was Clemens wohl gerade denkt? Ob er Schmerzen hat? Ich lasse seine Hand keinen Moment los, erzähle ihm von meiner Begegnung mit der netten Russin Svetlana.

»Ach, diese Russen«, sagt Schwester Vivi beim Betreten. »Die sind ja wirklich überall. Wollen immer mit der ganzen Groß­familie anrücken. Aber wir sind hier ein Krankenhaus, nicht ­Disneyland.«

»Glauben Sie, dass Clemens mitbekommt, dass ich hier bin?«

Vivi prüft seine Infusionen und sagt: »Da gehen die Mei­nungen und auch Forschungsergebnisse sehr weit auseinan­der. Wenn Sie das mal googlen, bekommen Sie eine Milliarde ­Treffer.«

»Tut mir leid, dass ich so blöd fragen muss. Aber ich war noch nie in so einer Situation. Ich war davor noch nicht mal auf einer Intensivstation. Ich mag auch diese ganzen Arzt-­Sendungen nicht.«

»Die schau ich mir auch nie an«, meint Vivi und lacht kurz. »Was sich wirklich im Krankenhaus abspielt, wird da doch nie gezeigt. Das Publikum will alles mit Happy End. Hier gibt es aber nicht immer ein Happy End.«

Neun Minuten Ewigkeit

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