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30. November, nachmittags

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»Danke, mein Lebensretter«, begrüße ich Chucky und reiche ihm die Hand.

»Komm rein, Clemens«, antwortet mein schießwütiger Ex-­Kollege, ohne mir die Hand zu geben. Ich betrete sein Haus. Das Wohnzimmer: kaum Möbel, keine Fenster, schwarze Wände. Licht spendet nur eine nackte Glühbirne an der Decke.

»Setz dich«, befiehlt Chucky und weist auf einen riesigen, dunkelbraunen Holzstuhl, eine Art Thron mit rotem Samtpolster und üppigen Schnitzereien, die hässliche Fratzen darstellen. Als ich mich setze, klicken metallene Schellen um meine Handgelenke und ­Knöchel. Ich sitze fest. Wehrlos.

»Willst du was trinken, Clemens?«, will Chucky wissen. Eingeschüchtert nicke ich. Wortlos schiebt Chucky meine Hemdsärmel hoch und dicke Infusionsnadeln in meine Venen.

»Schmeckt’s?«, fragt er höhnisch lachend und lässt sich in eine abgewetzte Ledercouch plumpsen. Durch meine Infusionsschläuche fließen bunte Flüssigkeiten. Mir wird schwindelig.

Trotzdem bemühe ich mich, ein möglichst unverfängliches Gespräch zu beginnen: »Sag, Chucky, was hast du all die Jahre so getrieben?«

»Getrieben ist lustig«, sagt Chucky.

»Wie geht’s deiner lieben Frau Marianne?«, forsche ich weiter.

»Tot! Der Krebs. Vor acht Jahren. Danach ist mein Leben ein wenig aus den Fugen geraten.«

Ich: »Erzähl!«

»Ich bin mit meinem Sohn nach Amerika, Detroit. Wir haben da für die Mafia gearbeitet. Menschen erschossen. Für Geld, wenn du verstehst, was ich meine.« Ich verstehe. Der Colt, der in Chuckys Hosenbund steckt, lässt wenig Raum für Zweifel. Er berichtet weiter: »Irgendwann ging in Detroit was schief und wir mussten ganz schnell verschwinden. Wir sind dann nach Kalifornien ins San Fer­nando ­Valley bei L.A., wo die ganzen Pornos gedreht werden. Wir haben in vielen Pornos mitgespielt, Schwulen-Pornos. Ich habe mir mit Silikon meinen Penis auf über zwei Meter Länge aufspritzen ­lassen. Ich habe den längsten Schwanz der Welt. Die Amis stehen auf so was.«

Hoffentlich spürt Clemens das nicht. Mir tut er schon leid, wenn ich nur hinsehe. Fest drücke ich seine linke Hand. Er ist Linkshänder und ich hoffe, dass er mich mit der linken Hand vielleicht eher spüren kann. Pfleger Bruno, ein smarter etwa Vierzigjähriger, auf Anhieb sehr positiv wirkender Mensch, checkt gerade Clemens’ Katheter, zieht daran herum. Dann deckt er ihn wieder zu.

»Vielen Dank«, sage ich. »Auch in seinem Namen.«

Er lächelt. »Ihr Mann wird schon wieder. Er ist doch noch so jung.«

Die Worte gehen runter wie Öl. Endlich mal jemand, der mir Mut macht. Ich würde Bruno am liebsten um den Hals fallen. Stattdessen frage ich ihn: »Was träumen Menschen im künst­lichen Koma so? Haben Sie irgendeine Ahnung?«

»Meistens nur schlimme Sachen, die sich um den Tod drehen«, meint Bruno jetzt weniger Mut machend. »Ein Patient erzählte mir, dass er nur davon geträumt hat, dass er bei vollem Bewusstsein verbrannt wird. Als er aufwachte, hatte er Angst vor diesen Schubladen hier. Er glaubte, sie seien der Ofen, in den er immer wieder geschoben wurde. Es hat lange gedauert, ihm klarzu­machen, dass das nur Träume waren.«

»Puh, das klingt heftig. Gibt es keine Tabletten für schönere Träume?«

Bruno setzt sich zu mir auf einen Hocker. »Schauen Sie mal, was Herr Hagen da alles bekommt.« Er zeigt auf die vielen Infusionsnadeln in seinen Armen, Beinen und in seinem Bauch. »Härter als alle Drogen dieser Welt zusammen. Dazu verab­reichen wir ihm Stresshormone, Adrenalin und so, damit sein Kreislauf stabil bleibt. Er kriegt aber auch Sachen gegen schlimme Albträume und gegen das Erinnern. Künst­liches Koma ist eine harte Geschichte für Körper und Geist.«

»Du hast dich ganz schön verändert, Chucky«, sage ich. Etwas Schlaueres fällt meinem von den Infusionen benebelten Hirn gerade nicht ein.

Chucky legt seine Stirn in Falten und meint: »Tja, das liegt sicher an den Drogen. Mein Sohn und ich, wir nehmen viele Drogen, vor allem Koks, aber auch Heroin, LSD, Ecstasy, Crystal Meth. Was gerade zu haben ist.«

»Bunte Mischung«, sage ich beeindruckt.

»Genug geschwätzt!«, antwortet Chucky zornig. »Ich zeig dir jetzt meinen Hobbykeller.« Er zieht die Infusions­nadeln aus meinen Armen, öffnet die Stuhlfesseln und legt mir Handschellen an. Dann gehen wir die Treppe hinab in den Raum, den Chucky »Hobbykeller« nennt. In der Ecke liegt eine nackte junge Frau. Sie bewegt sich nicht, ihre Haut ist wachsartig hell.

»Ist mir beim Foltern mit Elektroschocks abgekratzt«, doziert Chucky im Tonfall eines Arztes, dem eine Operation misslungen ist. Mir dreht sich der Magen um.

»Warum tust du so was?«, will ich wissen.

»Weil ich’s kann. Und weil’s mir Spaß macht, du Penner. So, und jetzt wollen wir mal sehen, wie viel Strom du verträgst.«

Bruno muss weiter, im Zimmer nebenan geht ein Alarm los. Ich schrecke hoch.

»Nichts Schlimmes«, beruhigt er mich. »Das Geräusch kündigt nur das Ende einer Infusion an. Bis die Tage, Kimberly, und schön tapfer bleiben!«

Kaum ist er weg, erscheint eine Ärztin Anfang fünfzig. Brille, streng zusammengebundener Pferdeschwanz. »Frau Dr. Maier-­Blechschmid« steht auf ihrem Kittel.

»Und Sie sind?«

»Kimberly Hoppe, seine Verlobte.«

»Sie wissen schon, dass eine Verlobte nichts zählt.«

»Na ja …«

»… ich sage nur, wie es ist. Rechtlich gesehen hat dieser Status keinen Wert.«

»Verzeihung, aber ist das nicht etwas altmodisch und spießig?«, erwidere ich.

Dr. Maier-Blechschmid meint: »In der ­Klinikwelt hat sich die moderne Beziehung noch nicht durchgesetzt. Wir sind hier noch im Mittelalter. Wie ist denn Ihre Beziehung zu Herrn Hagen? Erzählen Sie mal ein bisschen, damit ich mir ein Bild machen kann.«

Ich erzähle und erzähle. Euphorisch, fröhlich. So als würde Clemens nicht einen Meter von mir entfernt im Koma liegen, sondern neben mir sitzen. In einer netten Bar, in der man Freunden seine amüsantesten Kennenlern-Anekdoten bei einem Glas Wein erzählt. Ich berichte Frau Doktor von der ersten Begegnung auf der Wiesn. Liebe auf den ersten Blick. Dem schnellen Zusammenziehen. Seelenverwandtschaft. Ich muss aufpassen, dass es nicht zu kitschig wird. Ich glaube, Dr. Maier-Blechschmid kann mit Seelenverwandtschaft nichts anfangen. Zu viel Esoterik für eine Medizinerin. Also versuche ich es anders: »Clemens ist die Liebe meines Lebens … Können Sie das nachvollziehen? Ich will um alles in der Welt, dass er wieder gesund wird. Ich will nicht ohne ihn sein. Das soll nicht egoistisch klingen, aber ich brauche ihn. Er will bestimmt auch leben. Er liebt das Leben und jeder liebt ihn. Könnte er jetzt reden, würden Sie ihn bestimmt auch sofort in Ihr Herz ­schließen.«

Dr. Maier-Blechschmid, gerade noch ziemlich unterkühlt, lächelt jetzt. Zumindest ganz kurz.

»Ich wollte das nur alles wissen, weil wir ja unsere Patienten hier nicht selbst fragen können. Nicht selten ist der Partner der größte Feind, der den Patienten am liebsten, nun, sterben sehen möchte. Aus finanziellen Gründen zum Beispiel.«

Ich protestiere: »Nein! Nein! Bloß nicht! Ich will kein Geld, kein Erbe, nichts. Ich will nur, dass er gesund wird.«

»Gut«, antwortet sie knapp. »Dann haben wir dasselbe Ziel. Sind Sie morgen wieder da?«

»Natürlich.«

»Hoffen wir, dass sein Zustand stabil bleibt. Und dass keine schlimme Lungenentzündung ausbricht. Er hatte ja Blut in der Lunge, das wir entfernen konnten. Aber nur ein win­ziger Tropfen ist dort ein Fremdkörper und kann eine ­Entzündung auslösen. Wir spritzen ihm dagegen gezielt Antibiotika.«

»Wie schlimm wäre eine Lungenentzündung für ihn?« Verflixt, solche Fragen muss ich mir abgewöhnen. Antworten bekomme ich ja doch nie.

Genau das höre ich auch: »Eine Lungenentzündung ist nie schön. Schon gar nicht, wenn der Körper eh so geschwächt ist.«

Chucky schubst mich auf einen Stuhl, reißt mir das Hemd auf und holt eine alte Autobatterie aus der Ecke. Dann hält er die Enden des angeschlossenen Starthilfekabels aneinander. Funken sprühen.

»Muss das jetzt sein?«, frage ich.

»Es muss!«, antwortet Chucky kurz. Der folgende Schmerz überwältigt mich. Ich habe das Gefühl, als würden Blitze meinen Körper durchzucken. Immer wieder, bis ich die Besinnung verliere. Aber Chucky kennt kein Erbarmen. Er schüttet mir aus einem Eimer so lange Wasser ins Gesicht, bis ich wieder zu mir komme.

»Warum tust du das?«, presse ich hervor. Wortlos foltert mich Chucky weiter.

Kurz bevor ich erneut ohnmächtig werde, sagt er: »Du hast Glück, dass ich dir vorher Schmerzmittel gegeben habe.« Wie pervers, denke ich. Chucky gibt mir Medikamente, damit er mich länger misshandeln kann. »Du bist jetzt mein neues Spielzeug«, sagt Chucky und zeigt auf das tote Mädchen in der Ecke. »Ich will’s nicht gleich wieder kaputt machen.« Dann öffnet er meine Handschellen und verlässt laut lachend seinen Folterkeller. Natürlich schließt er die Tür hinter sich ab.

Als ich wieder einigermaßen bei Kräften bin, inspiziere ich mein Verlies. Ein vergitterter Lichtschacht ist der einzige Weg in die Freiheit. Ich muss raus hier, raus aus den Fängen dieses Sadisten. Ich muss Chucky stoppen. Ich muss die Polizei holen. Wenn ich’s nicht tue, wer dann? Die Gitterstäbe vor dem Lichtschacht sind nicht ­einbetoniert, sondern nur in der Erde verankert. Ich grabe mir die Finger blutig. Und tatsächlich: Ein Stab nach dem anderen löst sich. Ich komm raus! Ich schaff’s! Ein Klimmzug noch, dann stehe ich im Freien. Chuckys Haus steht mitten im Wald. Deshalb hatte er auch keine Angst, dass ich schreien könnte. Ich laufe los, dann knallt ein Schuss. Die Kugel trifft mich ins Bein. Chuckys Sohn steht vor mir und lacht. Dieselbe Lache wie der Vater, denke ich. Bevor ich etwas sagen kann, zieht mir Chuckys Sohn den Knauf seiner Pistole über den Schädel. Als ich wieder klar bin, liege ich im Folterkeller. Gefesselt an Armen und Beinen.

Neun Minuten Ewigkeit

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