Читать книгу Neun Minuten Ewigkeit - Clemens Hagen - Страница 8
29. November, frühmorgens
Оглавление»Frau Hagen?« Ich bleibe im Gang stehen, drehe mich um. »Ich bin Dr. Wagner, es ist besser, wenn Sie sich setzen.« Oh, nein. Diesen Satz kenne ich aus jedem Krimi. Immer, wenn etwas Furchtbares passiert ist, sollen sich die Angehörigen setzen. Ich bleibe lieber stehen. Als könnte ich so das Schlimmste verhindern.
»Herr Hagen hat das Bewusstsein verloren. Wir mussten ihn wiederbeleben. Er hat zwei Drittel seines Blutes verloren. Sein Puls war am Schluss bei 26. Er war klinisch tot. Neun Minuten hat es gedauert, bis wir ihn wiederbeleben konnten. Sein Gehirn war über zwei Minuten ohne Sauerstoff. Es kann deshalb sein, dass er bleibende Schäden davonträgt. Er liegt jetzt im künstlichen Koma.«
Dr. Wagners Worte hallen in meinen Ohren nach. Tot? Neun Minuten? Künstliches Koma? Ich muss mich doch setzen.
Ich bin im Land, wo die Zitronen blühen, aber auch die Kakteen stehen. Ist das der Garten Eden? Lebe ich noch? Neben mir ein Apfelbaum. Mmh, ich liebe Äpfel. Die Früchte sehen reif aus, glänzen in der strahlenden Sonne. Sie sind so schön wie gemalt. Ich sehe nach oben. Keine einzige Wolke am tiefblauen Himmel. Vogelgezwitscher in meinen Ohren. Gerade möchte ich einen Apfel pflücken, da erscheint eine Gestalt. Sie ist dunkel und bedrohlich.
Erschreckt frage ich: »Sie sind der Herr Vorsitzende, nicht wahr? Vorsitzender Richter am Jüngsten Gericht? Sie sind der Tod?«
»Gewiss, Clemens, der bin ich. Wir müssen reden«, sagt die Gestalt.
»Ich weiß, es ist Zeit, nicht wahr?«
»Ja, Clemens, es ist Zeit. Mach es dir bequem. Es wird ein bisschen dauern.« Ich setze mich, der Herr Vorsitzende nimmt gegenüber Platz. »Clemens«, beginnt der Herr Vorsitzende seine Ansprache, »es geht um deine Zukunft. Du hast dich in den vergangenen fünfzig Jahren in meiner großen Firma recht wacker geschlagen. Guter Durchschnitt bist du gewesen, aber mehr auch nicht.« Ich schlucke. Der Herr Vorsitzende spricht weiter: »Nun geht es um deine Weiterbeschäftigung. Um es gleich vorwegzusagen: Deine Kündigung habe ich dabei, schon unterschrieben. Jetzt hängt alles von dir ab.«
»Was soll ich tun? Kann ich überhaupt noch etwas tun?«, frage ich besorgt.
Der Herr Vorsitzende erwidert: »Nein und ja. Nein, denn gelebt hast du schon. Deine Taten, die guten wie die bösen, kannst du nicht mehr rückgängig machen. Ja, denn mir geht es um die Frage, ob du verstehst.«
»Was verstehen?«, will ich wissen.
Der Herr Vorsitzende lehnt sich zurück und sagt: »Clemens, weißt du noch, was du dem Thomas angetan hast? Damals als Kind an diesem schönen Sommertag beim Fußballspielen im Garten deiner Eltern? Du weißt genau, welchen Tag ich meine.«
»Ich glaube schon. Ich habe einen Elfmeter geschossen, mit voller Kraft. Thomas stand im Tor. Der Ball ging an den Innenpfosten und von dort dem Thomas genau, na ja, zwischen die Beine. Ein Kunstschuss. Meine Freunde und ich, wir haben uns totgelacht«, berichte ich schmunzelnd.
Der Herr Vorsitzende blickt mich ernst an und sagt: »Was du so sterbenskomisch fandst, fand Thomas nicht lustig. Ihr habt ihn den ganzen Nachmittag gehänselt. Es war auch nicht das erste Mal. Als er abends im Bett lag, dachte er an Selbstmord. Aus dem zweiten Stock wollte er springen, kopfüber in den gepflasterten Innenhof. Er stand schon am Fenster.«
»Aber, lieber Herr Vorsitzender, Kinder sind manchmal grausam. Daraus können Sie mir doch keinen Strick drehen. Der Thomas war ein ganz schrecklicher Torhüter und außerdem so ein ungeschicktes Riesenbaby. Er hat unseren Hohn und Spott irgendwie herausgefordert.«
Der Herr Vorsitzende: »Clemens, wenn du meinst.« Dann lehnt er sich wieder zurück und sagt: »Clemens, weißt du noch, was du der Bettina angetan hast? Damals als junger Mann an diesem grauen Novembertag in der Pizzeria am Bahnhofplatz? Du weißt genau, welchen Tag ich meine.«
»Ich glaube schon. Ich habe Schluss gemacht mit Bettina, einfach aus einer Laune heraus. Obwohl ich sie eigentlich noch mochte. Sie war einige Monate meine Freundin gewesen. Ich war, so sagte sie mir jedenfalls, ihr erster Mann. Rückblickend betrachtet war es sicher nicht mein größter Moment. Als Mensch, meine ich.«
Der Herr Vorsitzende blickt mich ernst an und sagt: »Nein, Clemens, das war er sicher nicht. Bettina war damals schwanger von dir, aber sie hat das Kind abtreiben lassen. Sie war ganz allein beim Arzt, weil sie Angst hatte, ihre Eltern einzuweihen. Sie hat sich danach sehr schlecht gefühlt, sehr schuldig. Sie tut es mitunter noch heute. Falls es dich interessieren sollte: Es wäre ein Junge geworden.«
»Aber, lieber Herr Vorsitzender, wie hätte ich das wissen sollen? Bettina hatte mir doch auch nichts gesagt. Wenn ich von der Abtreibung auch nur geahnt hätte, hätte ich ihr natürlich beigestanden in dieser schweren Zeit. Oder wir hätten eine andere Lösung gefunden.«
Der Herr Vorsitzende: »Clemens, wenn du meinst.« Dann lehnt er sich wieder zurück und sagt: »Clemens, weißt du noch, was du deinen Kollegen angetan hast? Damals als Chefredakteur dieser Internetfirma an diesem kühlen Herbsttag in deinem Büro? Du weißt genau, welchen Tag ich meine.«
»Ich glaube schon. Ich habe einem knappen Dutzend meiner Mitarbeiter die Kündigung ausgesprochen. Die wirtschaftliche Lage damals war schwierig. Es gab viele Pleiten im Land. Die Firma musste verschlankt werden. Es war grauenhaft. Die Leute taten mir wahnsinnig leid, wie sie, einer nach dem anderen, so sprachlos vor mir saßen, während der Schock langsam sackte.«
Der Herr Vorsitzende blickt mich ernst an und sagt: »Taten sie dir wirklich leid, Clemens? Nachdem du sie gefeuert hattest, fanden die meisten keinen neuen Job mehr in ihrer Branche. Darüber gingen mehrere Beziehungen in die Brüche. Betroffen war zum Beispiel ein Familienvater mit zwei kleinen Kindern.«
»Aber, lieber Herr Vorsitzender, was hätte ich denn tun sollen? Ich habe doch selbst nur die Anweisungen des unfähigen Geschäftsführers befolgt. Und der hat mich wenig später genauso über die Klinge springen lassen, also gefeuert. Ich hatte damals einfach keine andere Wahl.«
Der Herr Vorsitzende: »Clemens, wenn du meinst.«
Plötzlich fühle ich mich ganz schrecklich. Das waren drei Stiche mitten ins Herz. Aber bin ich ein schlechter Mensch? Ein so schlechter Mensch, wie es mich der Herr Vorsitzende glauben lässt? Das Leben besteht nicht nur aus Ruhmestaten. Leider. Kann ich vielleicht einfach auf Replay drücken, so wie bei einem CD-Spieler? Noch mal bei null anfangen?
»Nein, Clemens, das kannst du natürlich nicht«, sagt er, als könne er meine Gedanken lesen. »Dann wäre das Leben ein Kinderspiel. Aber du, du wirst mit deinen Dämonen leben müssen. Oder sterben.« Es ist so wie damals in der Schule, als ich einmal vor einen Disziplinarausschuss musste. Wegen wiederholten Schwänzens. Ich bekam zwei Wochen Schulverbot. Eine Strafe? Ein Witz!
»Clemens, das hier ist kein Witz«, reißt mich der Herr Vorsitzende aus meinen Erinnerungen. »Du bist ein Hallodri, ein Bruder Leichtfuß.«
»Nein«, widerspreche ich, »diesen Gerichtstermin hier nehme ich ernst. Todernst, wenn Sie so wollen.« Der Herr Vorsitzende, erst jetzt fällt es mir auf, sieht aus wie mein alter Mathelehrer. Der, der damals dem Disziplinarausschuss vorsaß. Nur, dass er jetzt stark tätowiert ist und viele Piercings im Gesicht hat. Verrückt.
»Gefalle ich dir so besser?«, fragt der Herr Vorsitzende. Ich blicke einem Totenkopf in die leeren Augenhöhlen.
»Zu klischeehaft, lieber Herr Vorsitzender«, sage ich.
»Nun, Clemens, ich bin immer der für dich, den du in mir siehst.«
Dann hebt der Herr Vorsitzende seine Stimme an, so wie es die irdischen Richter tun, wenn es an die Urteilsverkündung geht: »Angeklagter Clemens, erhebe dich. An einige deiner schwärzesten Stunden habe ich dich im Laufe der Verhandlung erinnert. Ihr Menschen, seltsame Wesen, die ihr seid, verdrängt sie gern. Auf der anderen Seite warst du bis hierher aber auch kein schlechter Mensch. Oder böse, meinetwegen. Ich werde die Verhandlung vertagen, brauche Zeit, um in mich zu gehen. Du bist ein schwieriger Fall.«
»Bitte, lieber Herr Vorsitzender, lassen Sie doch Gnade walten!«, flehe ich. »Für die Todesstrafe bin ich noch zu jung, oder?«
Er runzelt die knochige Stirn, mustert mich von oben bis unten und antwortet: »Bedenke, Clemens, du bist schon fünfzig Jahre auf der Welt. Das ist 18.250 Mal länger als eine Eintagsfliege. Überlege von jetzt an jeden Tag ganz genau, was du tust und was du besser lässt. Deine Uhr läuft. Hörst du sie? Tick, tack, tick, tack …«
Ich höre sie tatsächlich. Das mechanische Geräusch in meinen Ohren wird immer lauter. Ich möchte etwas sagen, aber da ist die Gestalt bereits verschwunden. Als ich mich umdrehe, sehe ich meinen Vater, der unter dem Apfelbaum sitzt und ein Buch liest. Als er mich sieht, lächelt er gütig. So, wie er es getan hat, als er von dem Disziplinarausschuss und dem verschärften Verweis erfuhr, den ich damals in der Schule kassierte. Ich denke daran, dass er mir im Grunde genommen niemals richtig böse war. Völlig egal, was ich ausgefressen hatte. Er hat mich immer beschützt. Jetzt kann er es nicht mehr, das spüre ich.
»Es ist sehr, sehr kritisch«, sagt Dr. Wagner und sieht mich mit seinen dunklen Augen an. »Eine Ader in der Speiseröhre ist geplatzt. Sie muss vorher schon angerissen gewesen sein. Das Blut hat sich in seinem Magen, der Lunge und anderen inneren Organen verteilt. Dort ist es wie Gift. Wir konnten zum Glück die Blutung in der Speiseröhre stoppen. Das, nun ja, Gute ist, dass er auf der Intensivstation war, als er das Bewusstsein verloren hat. Ein besseres Timing gibt es nicht. Er hatte wirklich großes Glück. Zehn Minuten später und er wäre gestorben.«
Ich fühle mich, als hätte ich einen Schlag ins Gesicht bekommen. Komplett ausgeknockt.
»Das heißt, er überlebt das jetzt, oder?«, frage ich vorsichtig.
Dr. Wagner sieht betreten zu Boden. »Es kann sein, dass er in dieser Nacht stirbt.«
Kann sein? So wie: »Kann sein, dass es morgen regnet?« Ich will aber, dass die Sonne scheint.
»Das darf bitte nicht passieren, Dr. Wagner«, sage ich mit Nachdruck.
Er schluckt. »Fahren Sie besser heim, hier können Sie nichts tun. Wenn sich sein Zustand verschlechtert, rufen wir Sie an.«
Nachdem ich ihm meine Handynummer gegeben habe, frage ich, ob ich zu Clemens darf.
»Okay, Sie können sich von ihm verabschieden.«
»Für heute verabschieden«, verbessere ich ihn. »Nicht für immer.«
Er drückt meine Hand, führt mich zu Clemens. Als ich ihn in Zimmer 13 auf der Intensivstation sehe, stürme ich zu ihm. Zwei Ärzte stehen um ihn herum, er ist an zig Maschinen angeschlossen. Überall Blut. Piepende Geräusche. Mir wird übel. Am liebsten würde ich ihn fest an mich drücken. Mich zu ihm legen. Nie wieder weggehen.
»Darf ich seine Hand streicheln?«, frage ich den blonden Arzt.
»Aber sehr vorsichtig.«
Ich streichle Clemens’ Hand, die so irre kalt, aber zum Glück nicht mehr so unheimlich gelb ist.
»Er hat viel neues Blut bekommen«, erklärt mir der Doktor. »Ganz schön knappe Geschichte. So etwas habe ich noch nie erlebt, dass jemand ausgerechnet auf der Intensivstation bewusstlos wird.«
»Er ist so ein großartiger Mann, glauben Sie mir. Es lohnt sich, ihn zu retten. Hat er jetzt Schmerzen?«
»Sie wollen doch nur eins wissen: Packt er’s oder packt er’s nicht?«
»Genau«, antworte ich.
Der Arzt sagt: »Das ist exakt das Problem. Wir können es Ihnen nicht sagen. Sorry, aber Sie müssen jetzt bitte gehen.«
»Du packst das!«, flüstere ich Clemens ins Ohr. »Ich bin immer bei dir. Hab keine Angst. Bleib stark. Ich liebe dich so sehr.« Ich küsse seine blutverschmierte Stirn.
Kimberly und ich fahren in einem Cabrio eine einsame Landstraße entlang. Sie sitzt am Steuer, ich bin ihr Beifahrer. Die Sonne scheint am tiefblauen Himmel und die sattgrünen Weiden mit den gefleckten Kühen machen das oberbayerische Postkartenidyll perfekt. Abgesehen vom Säuseln des Motors ist es still, beinahe lautlos um uns herum. Während wir so dahingleiten, werden die hügeligen Weiden von flachen Feldern abgelöst. Das Korn steht hoch und wiegt sich sanft im Wind.
Die Szenerie ist völlig friedlich. Ich bin glücklich. Aber was kommt da? Ein feuerroter Traktor rumpelt ganz langsam einen Feldweg entlang. Es ist ein sehr alter Trecker, ein Oldtimer. Vielleicht ein Hanomag oder ein Hentzschel, denke ich, während ich mich an die Spielzeugtrecker erinnere, mit denen ich als Kind Bauer spielte. Aber dieser Trecker ist echt. An seinen Hebearmen ist eine Mistgabel befestigt, eine sehr große Mistgabel. Sie wirkt bedrohlich. Der Trecker kommt direkt auf uns zu.
Der Unfall mit dem Trecker ist unausweichlich. Ich weiß es. Trotzdem versuche ich, Kimberly zu warnen. Ich schreie panisch: »Stopp! Brems! Brems doch! Um Himmels willen!« Aber Kimberly hört mich nicht. Sie fährt einfach weiter. Es kracht! Dünnes Auto-blech, das kreischend laut von den stählernen Zacken der Mistgabel zerrissen wird. In meinem Kopf sehe ich den Unfall in Zeitlupe immer und immer wieder. Dann herrscht für einige Sekunden gespenstische Ruhe. Ich spüre Schmerzen. Sie sind überwältigend stark. Stärker, als es Schmerzen in meinem Leben jemals waren. Drei Zacken der Mistgabel haben sich in meinen Körper gebohrt, eine in die Schulter, eine in den Bauch, eine in die Hüfte. Ich spüre, wie warmes Blut aus den Wunden die Brust hinab in meinen Schoß fließt. Der Bauer auf dem Trecker grinst mich höhnisch an. Wie er das macht, weiß ich nicht, denn der Bauer hat eigentlich gar kein Gesicht. Es ist, als würde er eine Latexmaske tragen, die ihm jegliche Mimik nimmt.
Ich schaue nach links. Dort sitzt Kimberly. Sie ist völlig unverletzt, aber die Zacken der Mistgabel halten sie gefangen. Sie redet auf mich ein. Ihre Worte verstehe ich nicht. Der Schmerz betäubt mich. Irgendwann, eine gefühlte Ewigkeit später, kommt die Feuerwehr. Die Feuerwehrmänner sind ebenfalls allesamt gesichtslos. Mit einem Stahlschneider befreien sie zuerst Kimberly. Funken fliegen, als das Gerät unter lautem Kreischen eine Zacke nach der anderen durchtrennt. Dann wollen die Feuerwehrmänner mich aus meinem stählernen Gefängnis holen. Ich brülle vor Schmerz, als ein Retter versucht, eine der Zacken aus meinem Fleisch zu ziehen. Der Mann blickt mir aus leeren Augenhöhlen ins Gesicht. Er schüttelt den Kopf. Wortlos packen er und seine Kollegen ihre Rettungsutensilien zusammen und gehen. Kimberly, in eine Rettungsdecke gehüllt, folgt ihnen stumm. Ich friere. Ich bin allein. Das Letzte, was ich sehe, ist einer der Feuerwehrmänner, der sich noch einmal umdreht und mit den Achseln zuckt. Dann verliere ich die Besinnung.
Irgendwann, ich weiß nicht, wie lange ich in dem Autowrack ohnmächtig war, komme ich wieder zu mir. Es schüttet wie aus Eimern. Die Regentropfen laufen an mir herunter, vermischen sich mit meinem Blut. Die Schmerzen sind immer noch da, genauso stark wie vorher. Aber ich will nicht sterben, nicht hier, nicht jetzt. Mit aller Kraft reiße ich mir einen Zacken nach dem anderen aus dem Körper. Ich schreie jedes Mal laut auf. Die Wunden bluten wie wild, aber ich bin frei. Frei, endlich frei! Ich klettere aus dem Wrack und mache mich auf den Weg ins nächste Dorf. Ich brauche dringend Hilfe. Jeder Schritt auf dem nassen Asphalt ist eine Qual für mich. Ich wanke, stürze, stehe auf. Immer wieder. Dann führt mich die Straße zu einem einzeln stehenden Bauernhof. Ich betrete das Wohnhaus, schleppe mich bis zur Küche. Dort sitzt, ich kann es kaum glauben, der gesichtslose Bauer mit seiner gesichtslosen Familie. Sie essen. Ich denke, dass die beiden kleinen Töchter bei meinem Anblick doch eigentlich schreien müssten, aber die eine fragt nur: »Tut’s weh?« Alle lachen.
Dann führt mich der Bauer wortlos über eine endlos lange Holzstiege hinab in den Keller. Dort sieht es aus wie im Kühlraum eines Krankenhauses. Die Wand mit den Fächern für die »Abgänge«, wie es im Klinikdeutsch heißt, ist sehr hoch und sehr lang. Ich schlucke. Der Bauer öffnet scheinbar wahllos ein halbes Dutzend Fächer und zieht die Schubladen mit den Leichen heraus. Die Körper sind alle in durchsichtige Plastiksäcke gehüllt. An den großen Zehen baumeln fein säuberlich beschriftete Kärtchen mit den Namen der Toten und dem Datum ihres Ablebens. Ich sehe sie mir an und bekomme einen Schock. Auf allen steht »28. November«, die Jahreszahl fehlt. Ich überlege. War denn nicht gerade noch Sommer? Der Bauer lächelt. Dann zieht er eine leere Kühlschublade aus der riesigen Wand und sagt: »Mach’s mir einfach. Zieh dich bitte selbst aus und leg dich rein.« Ich gehorche. Der Bauer befestigt mir noch meinen Zettel am Zeh und zieht dann den Reißverschluss des Plastiksacks zu. Dann schiebt er mich in das Kühlfach hinein und schließt die Tür.