Читать книгу Neun Minuten Ewigkeit - Clemens Hagen - Страница 7
28. November, nachts
ОглавлениеEine Krankenschwester drückt mir hektisch Clemens’ Uhr, seine Jeans und den Gürtel in die Hand.
»Das braucht er jetzt erst mal nicht«, sagt sie. Und: »Wir mussten ihn auf die Intensivstation bringen.« Intensivstation? Ich bekomme Gänsehaut.
»Warum? Was ist mit ihm?«, möchte ich wissen.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Warten Sie auf der Ebene B1 einfach auf einen Arzt. Tut mir leid, aber heute Nacht ist hier echt der Teufel los.« Eilig läuft sie weg. Ich folge den B1-Pfeilen Richtung Intensivstation. Vorbei an Betten mit Menschen, die auf Hilfe warten. Eine ältere Patientin mit blutender Wunde im Gesicht schreit vor Schmerz und will nach meiner Hand fassen. Ich lächle sie an, drücke ihre Hand und sage, dass sich gleich jemand um sie kümmern wird.
Dann stehe ich vor zwei gelben Türen, die nichts Gutes verheißen: »Intensivstation – Zutritt verboten!« Davor sind ein paar Holzstühle. Ich stelle meine Tasche ab. Die Koffer sind noch am Flughafen, aber das ist jetzt egal. In einer Plastiktüte habe ich drei Paar High Heels eingepackt, damit sie im Koffer nicht zerdrückt werden. Wie bescheuert. Ich stehe allein in diesem totenstillen Gang mit einem Berg von Stöckelschuhen. Nur wenige Meter entfernt muss Clemens liegen und ich kann nichts für ihn tun. Verzweifelt haue ich gegen die helle Wand. Das darf doch alles nicht wahr sein! Zwei Kameras an der Decke drehen sich surrend zu mir. Tränen laufen mir die Wangen hinunter. Nervös laufe ich den Gang auf und ab. Vorbei an Schwarz-Weiß-Fotografien, die alte Bäume zeigen. In einem kleinen Glaskasten an der Wand liegen Broschüren mit den Überschriften »Seelsorge« und »Hilfe für Hinterbliebene«.
Die Kameras verfolgen jeden meiner Schritte. Mein Herz schlägt immer schneller. Ich bin kurz vorm Durchdrehen. Ich mache mein Handy an, der Akku ist fast leer. Es ist halb drei. Es piept einmal. Ich habe eine SMS bekommen. Von meiner Mutter. »Seid ihr gut gelandet? Macht euch noch einen schönen Abend.« Ich schreie kurz auf. Zittere. Wähle ihre Nummer. Zum Glück geht sie ran.
»Mami«, sage ich und weine los. Ihre Stimme klingt schlagartig hellwach. »Wir sind in der Klinik, draußen in Gutsing. Clemens geht es nicht gut. Er ist auf der …«, meine Stimme stockt.
»… Intensivstation.«
Sie fragt, ob sie zu mir kommen soll.
»Danke, nein. Ich warte erst mal auf den Arzt. Wahrscheinlich pumpen sie ihm den Magen aus. Er wird wohl eine Lebensmittelvergiftung haben. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.«
Sie sagt, dass ich später mit dem Taxi zu ihr fahren soll. Dass ich mir keine Sorgen machen soll. Dass Intensivstation nicht automatisch das Schlimmste bedeutet.
»Sie kümmern sich dort intensiv um ihn – und das ist doch gut.«
Ich nicke und lege keineswegs beruhigt auf. Im Gegenteil: Ich fühle mich wie in einem Horrorfilm. Der Gang ist gespenstisch leer und still. Ich gehe weiter auf und ab, falte dabei meine Hände und bete laut vor mich hin. Die Kameras surren. Irgendwann, es ist schon nach vier, öffnet sich eine Tür. Eine Ärztin, kaum älter als ich, kommt auf mich zu.
»Frau Hagen?« Ich bejahe, schließlich habe ich jetzt keine Energie für »Ich bin eigentlich die Verlobte«-Richtigstellungen. »Der Zustand Ihres Mannes ist sehr kritisch. Er befindet sich in akuter Lebensgefahr. Mehr kann ich derzeit leider nicht sagen. Wir tun unser Bestes.« Sie dreht sich um und will gehen.
»Warten Sie«, sage ich. »Sie müssen ihn retten. Bitte. Bitte! Retten Sie ihn!«
Sie sieht in meine verweinten Augen. »Wir tun wirklich alles für ihn.«
»Bitte tun Sie noch mehr.«
Ich rase durchs Weltall. Das Tempo ist so aberwitzig hoch, als würde das Raumschiff Enterprise auf Warp-Geschwindigkeit beschleunigen. Helle Lichtpunkte fliegen an mir vorbei. Ansonsten ist es tiefschwarz und totenstill. Was ist los? Wo bin ich? Plötzlich tauchen Bilder vor mir auf. Zu sehen nur für einen Sekundenbruchteil, kurz wie der Blitz aus einem Fotoapparat. Die Szenen bilden einen Strudel, geformt wie die Doppelhelix der DNA, in den ich immer weiter hineingesogen werde. Bilder meiner Kindheit in endloser Folge. Meine Mutter spaziert mit mir durch den winterlichen Wald. Links und rechts des Weges wirft sie Schokoladenostereier in den Schnee, die ich glucksend vor Freude einsammele. Im Hintergrund funkelt ein Weihnachtsbaum, Silvesterraketen erhellen den Himmel. Mein Vater liest mir Geschichten aus »Dr. Doolittle und seine Tiere« vor. Ich liege im Bett, warm und wohlig eingepackt, und lausche. Auf leisen Pfoten schleicht ein Tiger durch mein Kinderzimmer, ein schlecht gelaunter Papagei schreit: »Polly will Keks!« Oh, welch glückliche, unschuldige Zeit.
Dann wird die Reise durch mein Leben immer rasender. Ich sehe die Zeit, Uhren, die zerschmelzen, wie auf Bildern des großen Salvador Dalí. Es kommen Schule, Pubertät, erster Kuss und erster Kummer, später Arbeit, Heirat, Scheidung, neue Liebe, Tod der Eltern. Jetzt, das weiß ich, werde ich sie gleich wiedertreffen. Nicht hier, an einem anderen Ort. Den sehe ich nicht, den fühle ich nur. Ich werde sie in den Arm nehmen, sie werden mir über den Kopf streichen und mich ganz fest drücken. So wie sie es damals taten, um mir ihre Liebe zu zeigen. Immer und immer wieder. Wir werden Zeit haben füreinander, viel Zeit. Wir werden uns Geschichten erzählen, wir werden lachen und weinen. Dann, so plötzlich wie die Bilderreise begann, endet sie wieder. Ich spüre Schmerz, stechenden Schmerz in der Brust. Warum? Ich bin doch noch gar nicht am Ziel. Wieder dieser Schmerz. Meine Eltern, wo sind sie? Werden sie mir etwa schon wieder genommen, ein weiteres Mal? Große Traurigkeit steigt in mir empor. Da! Wieder sticht es in der Brust.
Die Bilder sind zurück. Aber es sind nicht die Bilder meiner Eltern. Sie sind weg, unwiederbringlich womöglich, wie ich fürchte. Nicht einmal Lebewohl haben wir uns gesagt. Stattdessen tauchen andere Bilder vor mir auf. Situationen voller Selbstzweifel, Kümmernisse, von enttäuschten Lieben und Freundschaften, von schlaflosen Nächten voller Furcht. Die Summe aller Ängste eines menschlichen Lebens, meines Lebens. Ich habe keine Fernbedienung, ich kann das Programm nicht wechseln. Plötzlich ist mir sehr kalt. Und ich frage mich, ob es Trost gibt. So etwas wie das Jüngste Gericht? Habe ich in den fünfzig Jahren auf diesem Planeten mehr richtig gemacht oder mehr falsch? Wohin wird die Waagschale sich neigen? Wer wird darüber befinden? Was geschieht nun mit mir? Gibt es Himmel? Gibt es Hölle? Gibt es Strafe? Gibt es Vergebung? Gibt es Gott? Und wieder sticht es in der Brust. Noch stärker als bei den vorigen Malen.
Ich fliege. Von oben sehe ich den Friedhof, auf dem meine Eltern liegen. Es ist ein schöner Friedhof mitten in der Lüneburger Heide, umschlossen von saftig grünen Wiesen, auf denen schwarz und weiß gescheckte Kühe weiden. Es ist der friedlichste Ort auf der ganzen Welt. Von dort geht es weiter zu der nahen Windmühle, in der meine Eltern und ich, so oft es ging, die Ferien verbrachten. Ich umrunde die Mühle ein paar Mal und danach auch gleich den schiefen Turm von Pisa. Ich fühle mich wie Astrid Lindgrens »Karlsson vom Dach«, der Held meiner Kindheit. Dann fliege ich weiter nach Hamburg, wo ich lange lebte. In der Ferne sehe ich erst Sylt, dann Korfu und die Roseninsel im Starnberger See. Inseln meines Lebens. Von da geht es über Berlin nach München, die Stadt meiner Geburt. Lange kreise ich über dem Haus meiner Eltern, dem Garten, in dem mein Sandkasten stand, die Schaukel und das Fußballtor, das eigentlich ein kleines Handballtor war. Wie gern würde ich hier noch ein letztes Match mit meinen Freunden spielen. Zu spät. Ich trudele, ich stürze ab. Ich greife mir an die Brust. Diese verfluchten Schmerzen.
Ich schwimme. Ich schwimme in warmem, glasklarem, türkisfarbenem Wasser. Ein Meer von sagenhafter Schönheit. Zerklüftete Felsen, bunte Fische, Korallen, sphärische Musik klingt mir im Ohr. Der wundervollste Platz auf dieser Erde. Ich weiß nicht, wo ich bin, aber ich möchte nie wieder weg. Ich bewege mich schwerelos. Immer weiter tauche ich, ganz dicht unter der Oberfläche. Ich spüre die wärmende Sonne auf dem Rücken und kann mich nicht sattsehen an den immer neuen bezaubernden Unterwasserwelten. Das Paradies? Liegt es unter Wasser, gar nicht darüber? Aber was ist das? Plötzlich zieht mich eine Kraft hinab in die Tiefe. Das Wasser wird kälter, um mich herum wird es dunkler. Hier schwimmen keine Fische mehr. Immer schneller, immer tiefer tauche ich hinein ins Schwarze. Der Druck auf meiner Brust wird unerträglich. Ich bin wieder so schnell wie am Anfang meiner Reise durchs All. Die Lichtpunkte bilden erneut einen Tunnel, durch den ich rase. Dann sind auch die Punkte weg. Es ist Nacht.