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29. November, morgens

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»Geht es Ihnen wieder gut?«, fragt mich der Taxifahrer.

»Wie bitte?«, frage ich zurück.

»Na, Sie wurden doch eben aus der Klinik entlassen«, fährt er fort. »Ist doch prima! Glückwunsch!«

Ich nenne ihm die Adresse meiner Eltern – eine knappe Stunde dauert die Fahrt zu ihnen nach München. Aber ich habe keine Lust auf Konversation. Ich habe mir Clemens’ Schal um den Hals gebunden. Wenn er schon nicht bei mir sein kann, so rieche ich ihn wenigstens. Es ist eine Mischung aus Cartier-­Parfum und meiner größten Liebe. Eine unfassbare Traurigkeit, Angst und auch Hilflosigkeit machen sich in mir breit. Immer wieder laufen mir Tränen über die Wangen. Ich kann die Flut einfach nicht stoppen. Höflich ignoriert der Taxifahrer meine Heulattacken.

»Können Sie das Radio bitte lauter machen?«, frage ich den Taxifahrer. Während die Musik aus den Boxen hämmert, falte ich die Hände und bete. Ich rede leise vor mich hin. In der ­Hoffnung, dass meine Sätze und Gedanken bei Clemens ankommen. Wir sind schnell zu einer einzigartigen Einheit geworden. Ich kann und möchte mir ein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen. Fünf Tage nach unserem Kennenlernen sind wir zusammengezogen. Überstürzt? Überhaupt nicht. Der Punk-Vermieter hatte ihn rausgeworfen, weil er es nach zwei Jahren Junggesellendasein gewagt hatte, Frauenbesuch, also mich, mitzubringen. Da entpuppte sich der Punk plötzlich als Spießer. Für uns war es das Beste, was passieren konnte. Mit Sack und Pack und erstaunlich vielen Schuhen für einen Mann zog Clemens bei mir ein.

Seitdem hatten wir uns immer, ja wirklich täglich, in jeder freien Minute gesehen. Wir schliefen jede Nacht zusammen ein und wachten aneinandergekuschelt wieder auf. Wenn einer von uns mal aufs Klo musste, vermisste der andere ihn. »Ihr seid wie diese Love Birds«, sagte Sascha mal, ein Freund von Clemens, der auch meiner wurde. »Die sitzen immer eng zusammen, sind unzertrennlich und tatsächlich dauerglücklich.« Und jetzt? Muss ich Clemens allein zurücklassen. Dabei hatten wir uns geschworen, immer für den anderen da zu sein. Ich musste fast 30 Jahre warten, bis ich den Mann meines Lebens traf. Wenn man wie ich dieses unglaubliche Glück hat, will man es festhalten und nie wieder loslassen. Und schon gar nicht in einer Klinik zurück­lassen müssen.

80 Euro und 33 Kilometer später klingele ich am Haus meiner Eltern und meiner Kindheit. Wie wunderbar unbeschwert war es hier immer. Ich fühlte mich stets beschützt, hatte vor nichts und niemandem Angst. Der Tod war zwischen Sandkasten und Schaukel so wahnsinnig weit weg. Anders als jetzt.

»Mein Mäuschen«, begrüßt mich meine Mutter und nimmt mich in den Arm. Auch mein Vater kommt im Bademantel an, kann es einfach nicht fassen. Minutenlang drücken wir uns, weinen, schweigen. Leo, der Golden Retriever, kommt angewedelt und sucht im Flur nach Clemens. Aber da ist kein Clemens. Instinktiv spürt Leo, dass etwas überhaupt nicht stimmt, und weicht mir nicht mehr von der Seite. Er schleckt meine Hand ab, bringt mir ständig sein Hundespielzeug und hüpft später neben mich auf die Couch, als wir im Wohnzimmer noch eine Tasse Tee trinken.

»Versuch, etwas zu schlafen«, sagt meine Mutter irgendwann. Völlig erschöpft, aber auch völlig überdreht lege ich mich ins Bett zwischen sie und meinen Vater. Genauso behütet wie früher in meiner Kindheit. Nur, dass ich mich jetzt nicht sicher fühle. Draußen ist es hell, es schneit zum ersten Mal in diesem Jahr richtig. Ich habe Angst, dass mein Handy klingelt. Ich denke an die Worte des Arztes: »Wenn sich sein Zustand verschlechtert, rufen wir Sie an.« Wenn sich sein eh schon schlechter Zustand noch mehr verschlechtern sollte, stirbt er. Und dann werde ich angerufen. So meinte es der Arzt. Das ist die Wahrheit. Nicht ausgesprochen, aber über allem schwebend. Ich falte meine Hände, drücke sie ganz fest aneinander, bete und schicke Clemens all meine Kraft. Diese Hilf­losigkeit ist wie Folter. Kurzzeitig muss ich doch eingenickt sein, weil mein klingelndes Handy mich aus seltsamen Träumen reißt. Bitte, lieber Gott, lass es nicht Gutsing sein! Dann die Entwarnung: Es ist nur der Wecker. Es ist bereits zehn Uhr morgens, genau die Zeit, zu der ich mich bei der Intensivstation melden soll. Ich starre ungläubig auf mein Handy. Ein kleines Wunder ist ­passiert: Niemand hat angerufen. Kein Anruf! Noch nie habe ich mich so sehr über ­keinen Anruf gefreut. Ich merke, wie sich nicht nur Clemens’, sondern auch mein Leben, mein Alltag – alles – schlagartig ­verändert hat. Nichts ist mehr wichtig. Nur eines zählt: dass ­Clemens überlebt.

Ich liege immer noch im Kühlfach. Eingezwängt in den Leichensack aus Plastik. Trotzdem versuche ich, mit meinen Füßen die Tür meines stählernen Sarges aufzustemmen. Meine Beine schmerzen von der Anstrengung. Aber nichts bewegt sich. Gar nichts. Ich frage mich, wie ich sterben werde. Ersticken? Verdursten? Verhungern? Oder bin ich etwa schon tot?

Die nächsten sechs Wochen habe ich frei, mein langersehnter Resturlaub, außerdem habe ich durch meine Sonntagsdienste noch jede Menge freie Tage angesammelt. Clemens und ich wollten so viel unternehmen. Nichts Spektakuläres, einfach zusammen sein. Fröhlich sein. Ausschlafen, endlich mal wieder Schlitten fahren, Squash spielen gehen oder Bowling, Freunde einladen, DVDs schauen, kochen. Sachen machen, die sonst oft zu kurz kommen. Ob wir jetzt überhaupt noch eine Zukunft haben? Jemals wieder miteinander reden können? Lachen? Was würde ich für eine Stunde mit ihm geben? Alles! Nur eine einzige Stunde, in der ich ihm in die Augen schauen könnte und ihm unentwegt sagen würde, was für ein großartiger Mann er ist. Wie glücklich er mich jeden Tag gemacht hat. Wie sehr ich ihn immer geliebt habe und lieben werde. Ich hätte es ihm noch viel öfter sagen müssen. Dabei habe ich es schon wirklich oft gesagt am Tag. Aber nie als ­Floskel, es war immer ernst gemeint. Ein tiefes Gefühl. Wenn er sterben würde … nein! Stopp! Daran kann und mag ich gar nicht denken. Sofort verwerfe ich die düsteren Gedanken. ­Clemens stirbt nicht. Niemals.

Mit dem Tod, der Vergänglichkeit, hatte ich bis jetzt in der Familie und im Freundeskreis zum Glück sehr wenig zu tun. Meine Großeltern starben, als ich ein Kind war. Das war schrecklich und traurig, vor allem, wenn man die eigenen Eltern weinen sieht und dabei so hilflos ist. Mit Clemens habe ich über den Tod kaum gesprochen. Nicht, weil der Tod ein Tabuthema ist, sondern weil er gar kein Thema war. Wer mitten im Leben ist, sollte es genießen und nicht ans Ende denken – das war immer meine Meinung. Ich finde den Tod schon befremdlich genug, habe ihn immer gern ausgeklammert. Und wenn ich doch mal dunkle Gedanken hatte, munterte mich Clemens stets auf.

»Ich bin immer bei dir«, hat er mir oft gesagt. »Immer und noch länger.« Ich denke an seine Worte. Er sagte auch gern: »Ich bin wie ein alter Kaugummi an deiner Schuhsohle, mich wirst du nie mehr los.«

»Ich will dich auch gar nicht loswerden. Außerdem bist du kein alter Kaugummi«, antwortete ich dann meist. Wir lachten und ich hatte keine Angst mehr, dass unser Glück zerstört werden könnte.

Mit zittrigen Fingern wähle ich nun die Nummer der Intensivstation der Gutsinger Klinik.

»Es geht ihm mäßig«, meint eine Ärztin.

»Das ist doch, ähm, gut, oder?«, frage ich vorsichtig. Mäßig ist schließlich besser als schlecht.

»Sein Zustand ist nach wie vor sehr kritisch«, antwortet sie. Das schmerzt. Ständig versuche ich, optimistisch zu bleiben. Stark, kämpferisch, dem Schicksal gegenüber fast trotzig. Sofort werde ich gebremst und kapiere: Diplomatie werde ich hier von niemandem erwarten können. Das Klinikleben ist knallhart. Es geht um Leben und Tod. Da ist kein Platz für nette Worte und Schönfärberei.

Auf der einstündigen Fahrt nach Gutsing schaue ich an der Ampel in den Autospiegel. Meine Augen sind rot geheult. Ich sehe entsetzlich aus, aber das ist egal. Meine Eitelkeit hat sich komplett verabschiedet. Wozu soll ich mich schminken, wenn ich die Schminke eh gleich wieder wegweine? Hauptsache, ich bin pünktlich. Um vierzehn Uhr beginnt die Besuchszeit auf der Intensivstation. Keine Minute früher. Dort, wo jeden Moment alles ­passieren kann, gelten strenge Regeln. Zwei Stunden darf ich zu Clemens. Dann noch mal eine Stunde von achtzehn bis neunzehn Uhr. Drei Stunden insgesamt, mehr sind im Überlebensalltag nicht drin. Im Auto spreche ich laut mit Clemens, versuche so eine Art Telepathie, sage ihm, dass ich gleich da bin, dass es zum ersten Mal geschneit hat und alles so schön ausschaut. Die unberührte Natur da draußen, eine richtig heile Welt. Wie gern würde ich jetzt eine Schneeballschlacht mit ihm machen. Irgendwas tun, was man halt macht, wenn man keine Sorgen hat.

Ich stehe, die Beine bleischwer, im selben Gang wie gestern Nacht. Dort, wo ich stundenlang gebangt, gehofft und gezittert habe. Die alten Bäume hängen immer noch an den Wänden, allerdings ist hier jetzt mehr los. Lauter traurige Gestalten, alle sehr viel älter als ich, warten auf Einlass. Jeder Besucher muss einzeln klingeln, via Sprechanlage sagen, zu wem er will und wer er überhaupt ist.

»Grüß Gott«, begrüße ich die Wartenden. Als Antwort erhalte ich nur ein kollektives Gemurmel. Klar, jeder hat Wichtigeres im Kopf als Small Talk. Ich drücke einen Knopf an der Sprechanlage, stelle mich vor, die Kameras surren und die Tür öffnet sich. Ich muss meine Hände desinfizieren und gehe zu Zimmer 13 auf der Intensivstation. Vorbei an vielen Zimmern mit noch mehr Schicksalen. Vorbei an piepsenden Geräten, die bedrohlich klingen. Ein paar Schwestern ­grüßen mich aufmunternd.

Dass die 13 für viele eine Unglückszahl ist, verdränge ich. Clemens würde darüber nur lachen. Er glaubt auch nicht an Horoskope. Auf Zehenspitzen betrete ich sein Zimmer. So leise, als würde ich ihn erschrecken können. Im karierten Krankenhemd liegt er im Bett. Er sieht ganz anders aus als noch vor ein paar Stunden. So friedlich und entspannt. Seine Gesichtsfarbe ist überhaupt nicht mehr gelb, sie sieht richtig gesund aus. Nirgendwo ist mehr Blut. Wenn ich mir all die Schläuche und Kanülen wegdenken könnte, ja, dann könnte er auch zu Hause in unserem Bett liegen.

Er sieht tatsächlich viel zu gut aus, um sich im Koma befinden zu können. Scheiße. Es ist schwer zu begreifen.

Ich sage extra laut: »Clemens, du Tollster! Guten Morgen, ich bin bei dir! Wie fühlst du dich?« Keine Antwort. Keine Bewegung. Nicht mal ein Zucken. Nichts. Was hatte ich auch erwartet? Dass er jubelnd aus dem Bett springt? Ich küsse seine Stirn, streichele seine Hand. Sie ist warm, nicht mehr so schrecklich schweißnasskalt wie gestern. Ich hatte mir vorgenommen, stark zu sein, nicht zu weinen. Aber ich kann das nicht steuern. Er liegt einfach da und ich muss einfach ­weinen.

Ich trage Clemens’ Lieblingsparfum. Wenn er mich schon nicht sehen kann, riecht er mich vielleicht.

Eine hübsche Schwester kommt ins Zimmer, ich stelle mich vor und sie sagt: »Ich bin Schwester Vivi. Er hat wirklich großes Glück gehabt.« Sie erklärt mir, dass er künstlich beatmet wird, weil er nicht selbstständig atmen kann. Dass er Stresshormone – Adrenalin – für den Blutdruck kriegt, Kreislauftabletten und immer noch viel neues Blut, weil er so viel verloren hat. Dass er sehr viel Sauerstoff benötigt und Fieber hat. Was die ganzen verwirrenden Anzeigen auf den kleinen Bildschirmen neben ­seinem Bett bedeuten.

»Er wird doch wieder?«, frage ich. Der Arzt würde später zu mir kommen, sagt sie daraufhin nur.

Autsch! Als ob ich nicht schon genug Schmerzen am ganzen Körper hätte, brennt jetzt auch noch mein Gesicht. Es fühlt sich an, als würde plötzlich eine heiße, scharfe Klinge von Geisterhand über meine Backen gezogen werden. Ich höre dieses eklige Knirschen, das beim Entfernen von Barthaaren entsteht. Wer ist gekommen, um mich zu rasieren? Ist es der Mann mit der Sense? Der Tod höchstpersönlich? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur eines: In meinem Kühlfach herrschen plötzlich wieder Dunkelheit und Stille. Der unheimliche Barbier ist weg.

»Kann ich einfach bei ihm sein?«

Diesmal beantwortet Schwester Vivi meine Frage konkreter: »Natürlich, sehr gern. Sie können ihm beim nächsten Besuch auch ein Buch mitbringen und ihm daraus seine Lieblingsstelle vorlesen. Das machen viele, die nicht wissen, was sie sagen sollen.«

»Ich würde mich gern so mit ihm, nun ja, unterhalten. Gibt ja viel zu bereden. Sie müssen wissen, dass er sonst sehr viel gesprächiger ist. Vor allem für einen Mann.« Schwester Vivi, etwa in meinem Alter, lächelt kurz.

Zum Abschied sagt sie noch: »Wir mussten ihn übrigens ­rasieren. Wegen der ganzen Schläuche und so.«

Jetzt lächle ich und antworte: »Wäre er nicht im Koma, hätte er das niemals zugelassen. Er hasst es, sich zu rasieren.«

Mein Mund ist ganz nah an Clemens’ linkem Ohr. »Hab keine Angst«, sage ich. Immer wieder und wieder. »Hab keine Angst. Alles wird gut. Du wirst wieder gut. Schlaf dich einfach gesund. Ich bin bei dir. Jede Sekunde. Immer bei dir. Weißt du noch, als wir uns kennengelernt haben? Damals auf der Wiesn – ich habe mich sofort in dich verliebt. Als wir nach fünf Tagen zusammengezogen sind, haben mich meine Freun­dinnen für verrückt erklärt. Weißt du noch, als du in meinen Kühlschrank geschaut hast und da nur fast fettfreier Käse war? Du warst völlig geschockt, meintest, Käse mit einem Fettanteil unter fünfzig Prozent würdest du nicht mal anfassen. Clemens, du bist mein Größtglück. Hörst du? Du kannst jetzt nicht einfach so die Kurve kratzen!« Ich küsse Clemens’ Ohr, schaue, ob sein Gesicht mir eine Antwort gibt, eine Regung zeigt.

Da kommt Dr. Wagner ins Zimmer. Er lächelt nicht, als er mich begrüßt. Er schaut ernst. Viel zu ernst. Letzte Nacht habe ich ihn gar nicht richtig wahrgenommen. Jetzt bemerke ich seinen gütigen Blick, seine unaufgeregte Stimme.

»Herr Hagen ist stabil, aber …«

Ich unterbreche ihn höflich, will nicht, dass Clemens davon doch irgendwas mitkriegt und dann Panik bekommt. Also gehen wir nach hinten ans Fenster.

»Sein Zustand ist nach wie vor sehr kritisch. Er wäre innerlich fast verblutet. Neunzig Prozent der Menschen, denen das passiert, sterben in sehr kurzer Zeit. Er hatte unfassbar großes Glück. Aber das Blut, das in die Lunge und in den Magen geflossen ist, ist wie Gift. Das ist alles lebensgefährlich. Diese drei ­Baustellen – Speiseröhre, Lunge, Magen – haben für uns jetzt Priorität. Die Blutung konnten wir stoppen, nun müssen wir sehen, ob sich sein Körper davon erholen kann. Das wird einige Zeit dauern.«

»Was glauben Sie, wie lange etwa?«, frage ich. Er wirft mir einen prüfenden Blick zu. Es muss die falsche Frage gewesen sein. Wahrscheinlich, weil jede Frage die falsche Frage ist.

»Frau Hagen«, sagt er, »wir sind auf der Intensivstation. Ich wäre froh, wenn ich wüsste, was hier in den nächsten zehn Minuten passiert.«

Neun Minuten Ewigkeit

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