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Kapitel 6

Stadt der Bewegung

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Auch Hitler muss in München die Ansprachen des Kaisers gehört haben. Seit 1913 befand sich der 25Jährige dort. Seine von ihm glorifizierte Wiener Zeit, die er als Lehr- und Leidensjahre bezeichnet hatte, waren zunächst nicht so von materieller Not geprägt worden, wie er es selbst und lange Zeit auch die Geschichtsschreibung dargestellt hatten. Er hatte von seiner Mutter geerbt und von seiner Tante, der „Hanni“–Tante, Johanna Pölzl, nicht unerhebliche Summen geliehen bekommen. Zudem erhielt er von der väterlichen Seite eine monatliche Waisenrente. Die ersten anderthalb Jahre lebte er davon recht auskömmlich.

Nach dem Tod seiner Mutter nach Wien zurückgekehrt, wollte er für seinen Traum „Baumeister zu werden“ in Zukunft hart und zielgerichtet arbeiten. Im Herbst 1908 stellte er sich der Aufnahmeprozedur an der Wiener Kunstakademie noch einmal. Es war nicht günstig für ihn, dass ihn die Professoren noch von der Prüfung im letzten Jahr kannten: Dieses Mal scheiterte er an der Klausur im Fach Komposition. Die Arbeiten, die er unter der Anleitung des in Wien lebenden Bildhauers Panholzer, der ihm Kunstunterricht gab, angefertigt hatte, durfte er gar nicht erst vorlegen. Ein Jahr später war auch noch sein Erbe aufgebraucht. Seine Unterkünfte wurden auf Grund seiner materiellen Lage immer kümmerlicher, bis er endlich in einem Obdachlosenasyl in Meidling, einem Bezirk an der südwestlichen Peripherie Wiens, landete. Er wechselte im Februar 1910 noch einmal das Männerwohnheim, in dem er in einem zellenartigen Zimmer untergebracht war. Allerdings gab es unter den Gemeinschaftsräumen auch einen Lesesaal, in dem sich Hitler mit seinen Mal- und Zeichensachen niederließ. Die Existenz des verkannten Künstlers war zu diesem Zeitpunkt das Klischee, das er für die Außenwelt bediente. Er traf in seinem letzten Wiener Domizil einen Mann namens Reinhold Hanisch und freundete sich mit ihm an. Dieser war eine etwas fragwürdige Existenz, die bereits im Gefängnis gesessen hatte und falsche Papiere benutzte. Die Arbeitsteilung zwischen den beiden funktionierte aber einwandfrei, wahrscheinlich weil sie so gegensätzlich waren. Neben dem schüchternen und linkischen Hitler, dem man die Herkunft aus der Provinz noch deutlich anmerkte, wirkte Hanisch wie mit allen Wassern gewaschen. Während Hitler von Ansichtskarten und alten Stichen ganz ansehnliche Kopien anfertigte, bot sich der Kumpan als Vertriebswerk an und verkaufte diese. Es waren vornehmlich jüdische Geschäftsleute, die Gefallen an den Bildchen fanden. Gefragt waren vor allem die Aquarelle von bekannten historischen Bauwerken.


Auersperg-Palais in Wien, Aquarell von Adolf Hitler, nach 1907.

Später ging Hitler dazu über, auch Werbeplakate, unter anderem für kosmetische Erzeugnisse und Damenwäsche zu entwerfen23. Ein Karrierebeginn, der schon fast stereotyp wirkt.

Wann wurde Adolf Hitler zu dem, der er später war? Zu einem radikalen Antisemiten? Zu einem fanatischen Eiferer auf der Suche nach dem Lebensraum im Osten für sein deutsches Volk? Ein Mensch und sein Werdegang sind nicht die Summe ihrer Teile. Man kann den Ursprung nicht vom Endpunkt her zurückberechnen. Genauso wenig kann man voraussehen, wie sich ein Individuum entwickelt und welchen Verlauf dessen Leben nimmt. Viele herausragende Persönlichkeiten im positiven und negativen Sinn waren in Kindheit und Jugend ganz unauffällig und trugen weder Stigmata des Auserwähltseins noch Zeichen des Bösen.

Was Hitler schließlich dazu bewog, Wien zu verlassen, die Stadt, mit der ihn nicht viel mehr verband als ein paar Bekanntschaften aus dem Männerwohnheim, war die Angst vor den Militärbehörden. Er hatte sich nämlich nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist zur Erfüllung seiner Wehrpflicht gemeldet. Und daraufhin war erst einmal drei Jahre lang nichts geschehen. Allein er traute diesem Frieden nicht und setzte sich im Frühjahr 1913 ins benachbarte Bayern nach München ab und damit seinen Fuß in das Land, von dem er immer behaupten sollte, dass es seines war: Deutschland. Bei seinem künftigen Vermieter, dem Schneidermeister Joseph Popp, gab er hochstaplerisch den Beruf des akademischen Architekturmalers an. Er behielt in München zunächst die Lebensweise bei, die er auch schon in Wien gepflegt hatte: Malte in seinem Zimmer Aquarelle und Ölgemälde und benutzte dabei Ansichtskarten als Vorlage. Nie malte er nach dem Original. Seine Arbeiten konnte er nun über eine Kunsthandlung verkaufen, das bedeutete einen gewissen gesellschaftlichen Aufstieg. Sein ereignisloses Einsiedlerdasein wurde allerdings durch eine Vorladung der Münchner Kriminalpolizei jäh unterbrochen. Den österreichischen Behörden war es gelungen, Hitlers Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Daraufhin baten sie die bayrischen Kollegen um Amtshilfe. Es war der schauspielerischen Glanzleistung des auf diesem Gebiet unstreitig Begabten zu verdanken, dass es ihm glaubhaft gelang, den Polizeibeamten den kranken und armen Schlucker vorzuspielen. Bei der anschließenden Musterung am 5. Februar 1914 in Salzburg wurde diese Vorstellung durch das Ergebnis bestätigt: wegen schwacher körperlicher Konstitution vom Wehrdienst zurückgestellt.

Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers, befand sich Hitler am 2. August 1914 in der wartenden Menge auf dem Münchner Odeonsplatz und vernahm die Kaiserproklamation. Der junge Maler, der nicht für den habsburgischen Staat fechten wollte, war nun bereit für das Deutsche Reich zu sterben: „Mir kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor. Ich schäme mich nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt vor stürmischer Begeisterung in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.“24 Diesen pathetischen Überschwang hatte er übrigens mit vielen gemein, allen voran Schriftstellern und Künstlern: Thomas Mann, Ludwig Thoma, Franz Marc, Gerhard Hauptmann und viele mehr.


Hitler (Kreis und Ausschnitt) in der kriegsbegeisterten Menge vor der Feldherrnhalle in München. Foto vom 2. August 1914.

Adolf Hitler meldete sich als Freiwilliger. Dass er eigentlich Österreicher war, übersahen die Bayern im allgemeinen Trubel. Nach seiner soldatischen Grundausbildung wurde er am 1. September 191425 in das Königlich Bayrische 16. Reserve–Infanterieregiment eingesetzt. Sein Kommandeur Oberst Julius von List fiel bereits im Oktober 1914 in der Ersten Flandernschlacht, weshalb das Regiment hinfort ehrenhalber den Namen „List“ trug.

Über sein erstes Fronterlebnis, der Einnahme des Dorfes Gheluvelt Ende Oktober in Flandern, schreibt der Frischling Hitler in seinem Bekenntnisbuch „Mein Kampf“, dass sein Regiment mit dem Lied „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“ vorangestürmt sei. Er führte über diesen Einsatz, den er als seine „Feuertaufe“ bezeichnete, weiter aus: „Nach vier Tagen kehrten wir zurück. (...) Die Freiwilligen des Regiments List hatten vielleicht nicht kämpfen gelernt, allein zu sterben wussten sie wie alte Soldaten.“26 Der Autor dieser Zeilen treibt die Selbstglorifizierung und Mystifizierung seiner Person rücksichtslos an der Wahrheit vorbei, wenn er schreibt: „Von meinem ganzen Haufen bleibt nur mehr als einer übrig außer mir, endlich fällt auch der.“27 Tatsächlich waren etwa 10 Prozent - 13 Mann von etwa 140 bis 160 Mann - aus der 1. Kompanie gefallen, zu der Hitlers Zug gehörte. Jedoch beleuchtet diese Passage Hitlers Vorstellung eines Sozialdarwinismus, nachdem nur der Starke überleben könne und er als der Stärkste von allen. Das Kriegserlebnis prägte sein Denken in dieser Hinsicht. Insgesamt war ihm allerdings dieses einschneidende Erlebnis in seinem Opus „Mein Kampf“ gerade einmal 25 Zeilen wert. Er resümiert: „Das war der Beginn. So ging es nun weiter Jahr für Jahr; an die Stelle der Schlachtenromantik aber war das Grauen getreten.“ 28 Bei einem anderen Autor dieses Satzes würde man eine gewisse Erkenntnis vermuten. Ein Begreifen der Sinnlosigkeit, die sich Tag für Tag um die Kämpfenden herum abspielte, das Leiden und Sterben, die Vernichtung und die Auslöschung.


Stellungskrieg in Ville-sur-Tourbe (Dép. Marne): “Avant l’assaut”- Französische Infanterie wartet im Schützengraben auf den Befehl zum Angriff.

Adolf Hitler mit Hörbuch

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