Читать книгу Das wundersame Leben des Justin Hoppa - Clochard Raade - Страница 11
Der alte Russe und seine Schüler
ОглавлениеJustin erwachte am nächsten Morgen erst spät aus einem langen und festen Schlafe. Es befand sich nur noch der alte Russe im Zimmer, der sich zum Frühstück Kaffee kochte und leise vor sich hin pfiff. Justin schlief zwar nicht mehr, er war aber auch noch nicht hellwach. Er sah mit halb geschlossenen Augen den Russen und hörte sein leises Pfeifen. Als der Kaffee fertig war, setzte der Alte die Pfanne auf den Kaminrost und stand einige Minuten unschlüssig da, als ob er nicht wisse, was er nun machen solle. Er drehte sich nach Justin um und rief ihn an. Dieser antwortete jedoch nicht, sondern schien zu schlafen. Der Russe beruhigte sich hierbei und verriegelte leise die Tür. Dann hob er eine Diele hoch und brachte ein Kästchen zum Vorschein, das er behutsam auf den Tisch stellte. Seine Augen funkelten, als er es öffnete und hineinsah. Er zog einen alten Stuhl an den Tisch, setzte sich und nahm eine herrliche, mit Brillanten besetzte, goldene Uhr heraus.
"Aha", sagte der Russe, indem sich sein Gesicht zu einem scheußlichen Grinsen verzog, "verflucht schlaue Hunde! - Dicht gehalten bis zuletzt! Dem alten Pfaffen nicht das Versteck verpfiffen! Den alten Morgan nicht reingelegt. Nu, was hätte es auch genützt? Wären dem Strick doch nicht entgangen. Nein, nein, nein! brave Jungens!"
Unter diesen und ähnlichen halblaut gesprochenen Betrachtungen legte der Russe die Uhr wieder behutsam an ihre Stelle zurück und holte dann wenigstens ein halbes Dutzend andere aus dem Kästchen, die er alle mit dem gleichen Vergnügen betrachtete. Dann kam die Reihe an Ringe, Broschen, Armbänder und solche Kostbarkeiten, die Justin nicht einmal mit Namen kannte. Zuletzt nahm der Alte ein ganz kleines Geschmeide heraus. Es schien sich eine schwer zu lesende Inschrift darauf zu befinden, denn :der Russe legte es auf den Tisch, beschattete es mit der Hand und brütete lange darüber. An dem Gelingen seines Versuches verzweifelnd, lehnte er sich schließlich in seinen Stuhl zurück und murmelte vor sich hin:
"Es ist doch was Schönes ums Hängen! Tote bereuen nicht und machen keine Dummheiten. Plaudern auch nichts aus. Das ist gut fürs Geschäft. Fünf aufgehängt der Reihe nach, und keiner übriggeblieben, mich zu verpfeifen."
Plötzlich fielen des Alten Augen auf Justin, dessen Blicke in stummer Neugier auf ihn gerichtet waren. Er warf den Deckel des Kästchens hastig zu und ergriff das auf dem Tische liegende Brotmesser, dabei zitterte er am ganzen Körper.
"Was ist das?" schrie Morgan. "Warum beobachtest du mich? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Rede, Junge, schnell, wenn dir dein Leben lieb ist."
"Ich konnte nicht länger schlafen, Herr", erwiderte Justin demütig, es tut mir sehr leid, wenn ich Sie gestört habe."
"Bist du nicht schon seit einer Stunde wach?" fragte der Russe mit finsterem Blick.
"Nein, Herr, bestimmt nicht", antwortete Justin.
"Ist es auch wahr?" entgegnete der Russe, und er nahm eine noch drohende Haltung ein.
"Auf mein Wort, es ist wahr, ich bin wirklich nicht wach gewesen", entgegnete Justin ernst.
"Schon gut, schon gut, mein Lieber!" sagte der Russe, indem er sein früheres Wesen wieder annahm. Er spielte noch ein wenig mit dem Messer, ehe er es weglegte, um Justin glauben zu machen, er hätte es nur aus Zerstreuung in die Hand genommen.
"Ich wusste das schon vorher und wollte dir nur einen kleinen Schreck einjagen. Du bist ein braver Junge. Ha! ha! du bist ein braver Junge, Justin."
Er rieb sich kichernd die Hände, guckte aber unruhig nach dem Kästchen hin.
"Hast du etwas von den hübschen Sachen gesehen, mein Lieber?" sagte der Russe nach einer kurzen Pause und legte die Hand auf das Kästchen.
"Ja, Herr", erwiderte Justin.
"Ach!" rief erblassend der Russe. "Sie sind - ja sie sind mein Eigentum, Justin, mein winziges Eigentum, mein alles für meine alten Tage. Die Leute nennen mich einen Geizhals. Ja, das tun sie."
Justin dachte, der alte Herr müsste tatsächlich ein rechter Geizhals sein, sonst würde er nicht so elend wohnen. Dann fiel ihm aber ein, dass die Fürsorge für den Ludok und die übrigen Jungen ihm ein schönes Geld einbringen würden. Justin fragte nun bescheiden, ob er aufstehen dürfe.
"Gewiss, mein Lieber", antwortete der Russe. "Dort in der Ecke steht ein Krug Wasser, hole ihn, ich werde dir eine Waschschüssel geben."
Justin tat, wie ihm geheißen, und als er sich umdrehte, war das Kästchen verschwunden. Nachdem er sich gerade gewaschen hatte, trat der Ludok mit einem jungen Kameraden ins Zimmer. Dieser wurde Justin als Gunter Bund förmlich vorgestellt, er war einer von den rauchenden Jungen des gestrigen Abends. Sie setzten sich zum Frühstück nieder, und der Russe fragte mit einem bedeutungsvollen Blick auf Justin den Ludok:
"Liebe Kinder, hoffentlich habt ihr heute morgen schon fleißig gearbeitet?`
"Aber mächtig", entgegnete Hopkins.
"Wie 'n Pferd", fügte Gunter hinzu.
"Ihr seid brave Jungen! Was hast du erwischt, Ludok?"
"Ein paar Brieftaschen."
"Gespickte?" fragte der Russe aufgeregt.
"So ziemlich", sagte Hopkins und holte eine rote und eine grüne Brieftasche aus seiner Jacke. Der Alte durchsuchte sie sorgfältig und meinte dann:
"Nicht so schwer, als sie hätten sein können, aber schöne Stücke, gediegene Arbeit. Nicht wahr, Justin?"
"Ja, allerdings, Herr", erwiderter Justin. Bei dieser Antwort brach Gunter Bund in ein lautes Gelächter aus, zur großen Verwunderung Justins, der absolut keinen Grund dazu sah.
"Und was hast du mitgebracht?" fragte Morgan den Gunter Bund.
"Rotzlappen", entgegnete der junge Herr; dabei zog er vier Schnupftücher aus der Tasche.
Der Russe besichtigte sie genau und sagte dann: "Sie sind gut, sehr sogar. Aber du hast sie nicht richtig gezeichnet, wir müssen die Buchstaben mit der Nadel wieder auftrennen. Das kann Justin machen.
„Willst du? Ha! ha! Ha!" fragte der Russe
„Gern", sagte Justin
"Möchtest du nicht auch so leicht wie Gunter Bund Taschentücher besorgen, hättest du Lust, Justin?" fragte der Russe.
"Große Lust, wenn Sie es mich lehren wollten, Herr."
Gunter Bund fand in dieser Antwort etwas so unwiderstehlich Komisches, dass er abermals in ein schallendes Gelächter ausbrach. Er wäre dabei fast erstickt, da er gerade den ganzen Mund voll Kaffee hatte. "Er ist doch gar zu naiv!" sagte Gunter gleichsam als Entschuldigung für sein unhöfliches Benehmen. Der Ludok strich Justin über das Haar und sagte, er würde es schon noch lernen. Als der Russe sah, dass Justin rot wurde, brachte er das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Er fragte, ob bei der heutigen Hinrichtung viele Leute da waren. Aus den Antworten der beiden Jungen ging hervor, dass sie auch zugeguckt hatten. Justin wunderte sich deshalb nicht wenig, wie sie trotzdem noch soviel hatten arbeiten können. Als sie fertig mit Frühstücken waren, spielte der lustige alte Herr mit den beiden Jungen ein gar seltsames Spiel. Der Alte steckte nämlich eine Tabakdose in die eine und eine Brieftasche in die andere Hosentasche. Eine Uhr, die an einer um den Hals geschlungenen Kette hing, brachte er in seiner Westentasche unter. An sein Hemd befestigte er eine unechte Brillantnadel. Dann knöpfte er den Rock fest zu, verstaute sein Brillenfutteral und das Schnupftuch in den Rocktaschen. Mit einem Stock in der Hand, ging er im Zimmer auf und ab, ganz so wie man alte Herren in den Straßen der Stadt umher schlendern sieht. Er blieb hin und wieder bei dem Kamin oder bei der Tür stehen und tat so, als ob er aufmerksam ein Schaufenster anschaute. Dabei guckte er sich aber immer um, als wenn er sich vor Dieben fürchtete. Von Zeit zu Zeit klopfte er auf die Taschen, um sich zu überzeugen, dass er nichts verloren habe. Er meinte die Sache so natürlich, dass Justin lachen musste, und zwar lachte er derart, dass ihm die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über waren die beiden Jungen dem alten Herrn gefolgt. Sobald er sich jedoch umdrehte, zogen sie sich mit unnachahmlicher Geschwindigkeit zurück. Schließlich trat ihm der Ludok auf die Zehen, oder strauchelte wie zufällig über seinen Stiefel, während Gunter Bund ihn von hinten anrempelte. In diesem Augenblick entwendeten sie ihm mit außerordentlicher Geschicklichkeit die Tabaksdose, Brieftasche, Brosche, Uhr, Taschentuch und sogar das Brillenfutteral. Fühlte der alte Herr eine Hand in einer seiner Taschen, so kündigte er das durch einen Schrei an, und das Spiel begann von neuem. Das wäre so eine ganze Weile weitergegangen, wenn nicht ein paar Damen erschienen, die die jungen Herren besuchen wollten. Eine hieß Betty, die andere Lancy. Sie hatten üppiges Haar, waren aber nicht ordentlich frisiert. Ihre Schuhe und Strümpfe waren im schlechten Zustande. Hübsch konnte man die Mädchen eigentlich nicht nennen, aber sie hatten ein frisches Aussehen und sympathische Gesichtszüge. Auch benahmen sie sich so gefällig und ungezwungen, dass sie Justin für recht artige Mädchen hielt, was sie ohne Zweifel auch waren. Die Besucherinnen blieben ziemlich lange. Man trank Schnaps und die Unterhaltung wurde bald sehr heiter und lebhaft. Schließlich meinte Gunter, es wäre Zeit sich auf die Socken zu machen, was nach Justins Vermutung ein Ausdruck für Ausgehen sein musste, denn unmittelbar danach brachen alle vier auf, nachdem der freundliche alte Russe ihnen noch vorher reichlich Geld gegeben hatte. Als sie fort waren, sagte Morgan:
"Nicht wahr, das ist ein lustiges Leben?"
"Haben sie denn ihre Arbeit schon getan?"
„Ja“ erwiderte der Russe, "das heißt, wenn sie nicht zufällig unterwegs neue bekommen. Die nehmen sie natürlich mit, darauf kannst du dich verlassen. An denen kannst du dir ein Beispiel nehmen, besonders an dem Ludok. Der wird noch mal werden ein großer Mann und auch dich zu einem machen, wenn du ihm zum Vorbild nimmst - Hängt mir übrigens das Schnupftuch aus der Tasche?"
"Jawohl."
"Versuch doch mal es herauszuziehen, ohne dass ich es merke. Du hast ja heute Mittag gesehen, wie man es machen muss."'
Justin machte es so, wie er es beim Ludok gesehen hatte.
"Hast du es?" fragte der Russe.
"Hier ist es, Herr."
"Du bist ein gewandter Bursche", sagte der alte Herr und fuhr mit der Hand über Justins Haar. "Ich habe niemals einen gelehrigeren Jungen gesehen. Hier hast du einen Schilling. Mach nur weiter so , dann wirst noch der größte Mann deiner Zeit werden. Und nun werde ich dir zeigen, wie man die Namen aus den Schnupftüchern macht."
Justin konnte nicht recht begreifen, wie er dadurch, dass er dem alten Herrn im Scherze das Schnupftuch aus der Tasche gezogen hatte, ein großer Mann werden könne. Er dachte aber, der Russe müsse das besser wissen, war dieser doch um soviel älter als er. Er machte sich also unbekümmert daran, die Buchstaben aus den Taschentüchern zu entfernen.