Читать книгу Das wundersame Leben des Justin Hoppa - Clochard Raade - Страница 13
Justin vor dem Richter
ОглавлениеDas Vergehen war in der unmittelbaren Nachbarschaft eines sehr bekannten Polizeiamtes der Hauptstadt begangen. Die johlende Menge hatte daher nur das Vergnügen, Justin durch zwei oder drei Straßen zu begleiten. Angekommen, wurde Justin in eine furchtbar schmutzige Zelle gesperrt. Der alte Herr sah, als sich der Schlüssel in dem Schloss drehte, fast ebenso kläglich wie Justin aus. Mit einem tiefen Seufzer blickte er auf das Buch, das die unschuldige Ursache dieses aufregenden Auftritts gewesen war.
"Es ist etwas im Gesicht des Jungen", sagte der alte Herr gedankenvoll zu sich selbst, "ein Ausdruck ist darin, der mich rührt und mich für ihn einnimmt. Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, wie - ja wie -", hier hielt der alte Herr plötzlich inne; "Herr Gott im Himmel, wo habe ich ein ähnliches Gesicht früher schon mal gesehen?"
Der alte Herr sann einige Augenblicke nach und trat dann in ein Wartezimmer des Polizeiamtes. Hier zog er sich in einen Winkel zurück und ließ eine Reihe von Gesichtern an seinem geistigen Auge vorbeiziehen.
"Nein, es muss Einbildung sein", sagte der alte Herr, den Kopf schüttelnd. Er stieß einen Seufzer aus und vertiefte sich wieder in die alte Schwarte. Ein Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter und ersuchte ihn, ihm ins Amtszimmer zu folgen. Er schloss eilig das Buch und stand alsbald dem berühmten Herrn Fingerling gegenüber. Das Amtszimmer lag nach vorn hinaus und hatte getäfelte Winde. Herr Fingerling saß am oberen Ende hinter einer Schranke. Neben der Tür war ein hölzerner Verschlag in dem sich bereits der arme, am ganzen Körper zitternde Justin befand. Herr Fingerling war ein Mann von mittlerer Größe. Mager, glatzköpfig, hatte er ein finsteres, stark gerötetes Gesicht. Wenn er auch wirklich nicht mehr trank, mehr als ihm zuträglich war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Verleumdungsklage anstrengen können. Beträchtlicher Schadenersatz wäre ihm sicher gewesen. Der alte Herr verbeugte sich höflich, trat an das Pult und überreichte seine Karte. Zufälligerweise las Herr Fingerling gerade in der Zeitung einen Artikel, der eine seiner neuen Entscheidungen abfällig besprach. Er war daher höchst übel gelaunt und guckte ärgerlich auf.
"Wer sind Sie?" herrschte er den alten Herrn an.
Der alte Herr wies etwas überrascht auf seine Karte.
"Gerichtsdiener", sagte Herr Fingerling, indem er mit der Zeitung die Karte verächtlich vom Pult fegte, "wer ist dieser Mensch?"
„Mein Name“, sagte der alte Herr würdig, "mein Name, Herr, ist Braunau. Gestatten Sie mir nun auch, nach dem Namen des Richters zu fragen, der ohne irgendeinen Anlass einen anständigen Mann so beleidigend behandelt."
"Gerichtsdiener!" fuhr Herr Fingerling unbeirrt fort, "wessen ist dieser Bursche angeklagt?"
"Euer Gnaden, er ist kein Angeklagter, sondern tritt als Kläger gegen diesen jungen auf", erwiderte der Gerichtsdiener. Seine Gnaden wussten das sehr gut, konnten jedoch auf diese Weise ohne Gefahr unverschämt werden.
"Tritt als Kläger gegen den Jungen auf, - so, so!" sagte Herr Fingerling und maß Braunau mit einem verächtlichen Blick. - "Nehmen Sie ihm den Eid ab."
"Ehe man mich vereidigt, bitte ich ein paar Worte sagen zu dürfen", sprach Herr Braunau: "nämlich, dass ich nie geglaubt hätte, wäre es mir nicht selbst passiert -"
"Halten Sie den Mund, Herr!" rief Herr Fingerling im Befehlston.
"Nein, Herr", entgegnete der alte Herr.
"Wenn Sie nicht augenblicklich den Mund halten, lasse ich Sie hinaus führen" brüllte Herr Fingerling. "Sie sind ein ganz unverschämter Mensch. Wie können Sie es wagen, einen Richter anzuschnauzen?"
"Was sagen Sie da?" rief der alte Herr puterrot.
"Vereidigen Sie den Menschen!" sagte Fingerling zu einem Schreiber. "Ich will nichts mehr hören. Vereidigen Sie ihn."
Herrn Braunaus Entrüstung war aufs höchste gestiegen, und er wollte seinen Gefühlen auch Luft machen. Da er aber befürchtete, damit Justin zu schaden, so unterdrückte er sie und ließ sich vereidigen.
"Nun", beginn Herr Fingerling, "wessen wird der Junge beschuldigt. Was haben Sie vorzubringen, Herr?"
"Ich stand an einer Bücherbude -"
„Schweigen Sie, Herr!" unterbrach ihn der Richter
„Wo ist der Polizist?“ rief Fingerling
„Hier“
„Vereidigen Sie den Polizisten“
„Nun, was wissen Sie von der Sache?"
Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, was ihm von der Anklage bekannt geworden war. Er habe auch Justin untersucht und nichts bei ihm gefunden. Weiter könne er nichts angeben.
"Sind Zeugen da?" fragte Herr Fingerling.
"Nein, Euer Gnaden", erwiderte der Polizist.
Herr Fingerling saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sprach mit immer
zunehmender Heftigkeit:
"Wollen Sie nun endlich sagen, wessen Sie diesen Knaben beschuldigen? Sie haben geschworen. Wenn Sie Ihr Zeugnis verweigern, so werde ich Sie wegen Nichtachtung des Gerichts in Strafe nehmen. Ja, das will ich - bei"
Bei wem oder bei was ließ sich nicht vernehmen, denn der Schreiber und der Gefängniswärter brachen in diesem Augenblick in ein lautes Husten aus. Ersterer ließ auch noch ein schweres Buch auf die Erde fallen, zufällig natürlich, so dass man das Wort nicht verstehen konnte.
Unter mancherlei Unterbrechungen und wiederholten Beleidigungen gelang es endlich Herrn Braunau, den Tatbestand auseinanderzusetzen. Er drückte dabei den Wunsch aus, dass das Gericht so nachsichtig, als es das Gesetz erlaube, mit dem Jungen verfahren möchte.
"Er ist bereits verletzt", schloss der alte Herr seine
Ausführungen, "und ich fürchte, er fühlt sich gar nicht wohl."
"Ich glaube es auch", sagte Herr Fingerling höhnisch lächelnd.
"Höre mal, du kleiner Landstreicher, mach hier kein Theater, damit kommst du bei mir nicht durch. Wie heißt du?"
Justin wollte antworten, konnte aber keinen Ton herausbringen. Er wurde leichenblass, und alles schien sich um ihn zu drehen.
"Wie heißt du, verstockter Lümmel?", schrie ihn Herr Fingerling wiederholt an. "Gerichtsdiener, wie heißt er?"
Dieser, ein alter Mann, beugte sich über Justin und wiederholte die Frage. Als er fand, dass der Junge tatsächlich außerstande war zu antworten, nannte er, um den Richter nicht noch wütender zu machen, aufs Geratewohl einen Namen.
"Er sagt, er heiße Tim Waste, Euer Gnaden!"
"Wo wohnt er?" fuhr Herr Fingerling fort.
"Wo er kann, Euer Gnaden", antwortete der Gerichtsdiener, indem er sich so anstellte, als spräche er Justin nach.
"Hat er Eltern?" fragte Herr Fingerling.
"Er sagt, sie seien in seiner frühesten Jugend gestorben, Euer' Gnaden", entgegnete der Gerichtsdiener, indem er auf gut Glück die in solchen Fällen übliche Antwort gab.
Justin hob jetzt den Kopf hoch, sah mit flehenden Blicken um sich, und bat leise um einen Schluck Wasser.
"Quatsch!" sagte Herr Fingerling. "Willst mich wohl zum Narren halten?"
"Ich glaube, ihm ist wirklich schlecht, Euer Gnaden", wandte der Gerichtsdiener ein.
"Ich weiß das besser", brüllte Herr Fingerling.
"Halten Sie ihn, Gerichtsdiener", rief der alte Herr, unwillkürlich die Hände ausstreckend, "er fällt gleich."
"Nichts da, Gerichtsdiener", schrie Herr Fingerling,
"lassen Sie ihn fallen, wenn er Lust hat."
Justin machte von dieser gütigen Erlaubnis Gebrauch und fiel ohnmächtig zu Boden.
"Ich wusste, dass es Verstellung war", sagte Herr Fingerling. "lasst ihn liegen, er wird bald wieder werden!"
"Wie gedenken Sie in diesem Falle zu verfahren, Herr?" fragte leise der Gerichtsschreiber.
"Summarisch", antwortete Herr Fingerling. Er wird drei Monate eingesperrt -, natürlich mit harter Arbeit. Schafft ihn fort!"
Einige Beamte schickten sich gerade an, den bewusstlosen Justin in seine Zelle zu tragen, als ein älterer Mann von anständigem, aber erbärmlichem Äußern atemlos ins Zimmer stürzte und vor den Richter trat:
"Halt, halt! Tragt ihn noch nicht fort. Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!"
"Was ist los? Wer sind Sie? Hinaus mit dem Menschen. Räumt den Gerichtssaal!" schrie Herr Fingerling.
"Ich will aussagen", rief der. Mann ."Ich lasse mich nicht hinauswerfen. Ich sah alles mit an. Ich bin der Besitzer der Bücherbude. Ich verlange vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abweisen. Sie müssen mich anhören, Herr Fingerling. Sie dürfen mein Zeugnis nicht ablehnen!"
Der Mann kannte seine Rechte und trat bestimmt auf. Man konnte nicht darüber hinweggehen.
"Lassen Sie den Menschen schwören", knurrte Herr Fingerling mürrisch.
"Nun, was haben Sie zu bekunden?"
"Folgendes. Ich sah drei Jungen - diesen hier und zwei andere - auf der anderen Seite der Straße dahinschlendern, als dieser Herr vor meiner Bude stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Jungen begangen. Ich habe es genau gesehen und auch bemerkt, dass dieser Junge hier darüber ganz erstaunt und wie vor den Kopf geschlagen war!"
"Warum kamen Sie nicht schon früher?" fragte Fang nach einer Pause.
"Ich bin allein in meiner Bude und hatte keine Vertretung. Erst vor fünf Minuten konnte ich jemand auftreiben und bin dann Hals über Kopf hierher geeilt."
"Also der Ankläger las, nicht wahr?", fragte Fang nach einer weiteren Pause.
"Ja", erwiderte der Mann, "im selben Buche, das er jetzt noch in der Hand hat!"
"So - in diesem Buch? Ist es denn bezahlt?"erkundigte sich Herr Fingerling.
"Nein, noch nicht", erwiderte der Buchhändler mit einem kleinen Lächeln.
"Himmel, das habe ich über der Geschichte hier ganz vergessen", sagte der zerstreute alte Herr ganz unbefangen.
"Ein feiner Mann, aber eine Klage gegen einen armen Jungen vorbringen", sagte Herr Fingerling und bemühte sich krampfhaft, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen.
"Nach meiner Ansicht haben Sie sich unter sehr verdächtigen Umständen in den Besitz dieses Buches gesetzt und dürfen sich beglückwünschen, wenn der Eigentümer keine Anklage gegen Sie erhebt. lassen Sie sich das zur Warnung dienen, sonst möchte das Gesetz einmal gegen Sie in Anwendung kommen. Der Junge ist freizulassen. Räumen Sie den Saal."
"Donnerwetter", schrie der alte Herr. Der so lange aufgespeicherte Zorn kam nunmehr zum Ausbruch.
"Donnerwetter, ich will -"
"Gerichtsdiener! Räumen Sie den Saal! Hören Sie?" brüllte der Richter. Man führte den entrüsteten alten Herrn, der ein Bild der Wut und der Entrüstung darbot, schnell auf den Hof heraus. Dort fand er den kleinen Justin auf dem Steinpflaster liegend, sein Gesicht war leichenblass, und ein krampfartiges Zittern ging durch seinen Körper.
"Armes Kind!" sagte Herr Braunau, als er sich über ihn
beugte. "Will niemand so gut sein und mir einen Wagen holen?" Man holte einen und bettete Justin auf einen Sitz, während Herr Braunau auf dem anderen Platz nahm.
"Darf ich Sie begleiten?" fragte der Buchhändler.
"Himmel, ich hatte Sie ganz vergessen. Steigen Sie ein, lieber Freund. Und das unglückliche Buch habe ich auch noch. Der arme Junge! Geschwind, es ist keine Zeit zu verlieren."
Nachdem der Buchhändler in den Wagen geklettert war, zogen die Pferde an.