Читать книгу Das wundersame Leben des Justin Hoppa - Clochard Raade - Страница 16

Eine Prophezeiung

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Justin erholte sich bald wieder von der Ohnmacht, in die er bei Herrn Braunaus plötzlichem Ausruf gefallen war. Der alte Herr und Frau Lessow vermieden es sorgfältig, im Gespräch wieder auf das Gemälde zurückzukommen. Der Junge war noch zu schwach, um zum Frühstück zu gehen. Als er am nächsten Tage in das Zimmer der Haushälterin hinuntergebracht wurde, suchten seine Blicke sofort das Bildnis der schönen Dame. Das Gemälde war aber entfernt worden.

"Ja", sagte Frau Lessow, "es ist fort, wie du siehst."

"Oh, warum hat man es weggenommen?" entgegnete Justin mit einem Seufzer.

"Weil Herr Braunau sagte, dass es dich zu beängstigen scheine und daher deiner Wiederherstellung hinderlich sein könnte", entgegnete die alte Dame.

"Ach nein, es beängstigte mich gar nicht", sprach Justin, "ich mochte es gern ansehen."

"Nun, nun, liebes Kind, mache nur, dass du bald wieder gesund wirst", sagte die gute Frau. "Man wird es dann wieder aufhängen, das verspreche ich dir. Doch jetzt wollen wir von etwas anderem sprechen."

Justin hörte aufmerksam zu, als ihm Frau Lessow von ihrem verstorbenen Mann und ihren wohlerzogenen Kindern erzählte. Sie plauderte munter drauflos, bis die Zeit zum Teetrinken herankam. Nachdem dieser eingenommen war, unterrichtete sie Justin im Kartenspielen, was er ebenso schnell auffasste, wie sie zu lehren imstande war. Dann vertieften sie sich angelegentlich in diese Beschäftigung, bis es für den Patienten Zeit war, ins Bett zu gehen. Die Tage der Genesung waren für Justin Tage des Glückes. Jedermann war so lieb und gütig zu ihm, dass er im Himmel zu sein glaubte. Er hatte kaum wieder soviel Kräfte erlangt, um sich ankleiden zu können, als ihm Braunau einen neuen Anzug anfertigen ließ. Da man Justin sagte, er könne mit den alten Kleidern anfangen, was er wolle, so schenkte er sie einem Dienstmädchen, die sehr gut zu ihm gewesen war. Er riet ihr, die Lumpen an einen Russen zu verkaufen und dadurch zu etwas Geld zu kommen. Eines Abends, als Justin plaudernd bei Frau Lessow saß, ließ Herr Braunau sagen, dass er Justin in seiner Bibliothek sprechen möchte. Frau Lessow putzte ihn schnell schön heraus und führte ihn bis an die Tür des Zimmers. Justin klopfte an, und als Herr Braunau "Herein" rief, trat er in ein kleines, ganz mit Büchern angefülltes Gemach, durch dessen Fenster man in einige schöne, kleine Gärten sah. Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem Herr Braunau lesend saß. Bei Justins Eintritt schob er das Buch von sich und hieß den Jungen, näherzukommen und sich zu setzen. Justin gehorchte, nicht wenig verwundert, wo all die Leute herkommen sollten; eine derartige Menge von Büchern zu lesen. Bücher, die geschrieben schienen, um die Welt weiser zu machen. Eine Verwunderung, die tagtäglich erfahrenere Leute mit unserm Helden teilen.

"Das ist ein ansehnlicher Haufen Bücher, nicht wahr, mein Junge?" fragte Herr Braunau, als er die Neugierde gewahrte, mit der Justin die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränke betrachtete.

"Ach ja, ich habe noch nie so viele gesehen!"

"Wenn du immer hübsch artig bleibst, so sollst du sie auch lesen. Das wird dir besser gefallen, als das bloße Anschauen des Einbandes - das heißt nicht immer. Es gibt nämlich auch Bücher, an denen die Außenseite das Beste ist."

"Das sind gewiss diese schweren da", erwiderte Justin, indem er auf einige dicke Wälzer mit reicher Vergoldung des Einbandes deutete.

"Nicht immer", sagte der alte Herr lächelnd.

"Möchtest du wohl gern ein Gelehrter werden und Bücher schreiben, wie?"

"Ich würde es vorziehen, sie lieber zu lesen."

"Wie? du willst kein Bücherschreiber werden?"

Justin sann eine Weile nach, dann sagte er, es stände Ihn weit besser, Buchhändler zu sein. Der alte Herr lachte herzlich und bemerkte, er hätte etwas sehr Gescheites gesagt. Justin freute sich darüber, obgleich er nicht wusste, was das Gescheite war.

"Nun", sagte der alte Herr wieder ernst, "hab keine Angst. Wir wollen keinen Schriftsteller aus dir machen, solange es noch ein ehrliches Handwerk oder Gewerbe zu erlernen gibt."

"Ich danke Ihnen", entgegnete Justin, und der alte Herr lachte von neuem, und zwar über den Ernst, mit dem unser Held diese Antwort vorbrachte. Er ließ auch noch einige Worte von einem merkwürdigen Instinkt fallen, auf die aber Justin nicht besonders acht gab, da er sie nicht verstand.

"Nun, mein Sohn", fuhr Herr Braunau in einem ernsteren Tone fort, "du musst jetzt wohl auf das achten, was ich dir zu sagen habe. Ich will ohne Rückhalt mit dir reden, denn ich glaube, du wirst mich so gut verstehen können, wie manche ältere Person!"

"Ach, sagen Sie nur nicht, dass Sie mich fortschicken wollen. Weisen Sie mir nicht die Tür, dass ich wieder auf den Straßen herumwandern muss. lassen Sie mich hier bleiben und Ihnen dienen. Erbarmen Sie sich über einen armen Jungen, bitte!"

"Mein liebes Kind", sagte der alte Herr gerührt, "hab keine Furcht, ich werde dich nicht fortjagen, wenn du mir keinen Anlass dazu gibst."

"Nie werde ich das, niemals."

"Ich hoffe es nicht und glaube auch nicht, dass du es je tun wirst", entgegnete der alte Herr. "Ich habe mich zwar früher oft in denen getäuscht, welchen ich Wohltaten erweisen wollte. Dir will ich jedoch vertrauen, weil ich wärmeren Anteil an dir nehme, als ich mir selbst erklären kann. Diejenigen, welche ich am innigsten geliebt habe, schlummern längst in den Gräbern, aber obgleich das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben sind, habe ich doch mein Herz zu keinem Sarg gemacht und meine schönsten Gefühle drin verschlossen."

Der alte Herr sprach dies leise vor sich hin, mehr zu sich als zu Justin, der kaum zu atmen wagte. Nach einer kleinen Weile fuhr er in heiterem Tone fort:

"Genug, ich sage das nur, weil dein Herz jung ist und ich hoffe, dass du dich um so mehr vorsehen wirst mich zu betrüben, wenn du weißt, dass ich bereits großen Kummer und viele Leiden erduldet habe. Du sagst, du bist eine Waise und ohne Verwandte in der Welt. Erkundigungen, die ich angestellt habe, bestätigen deine Angaben. Erzähle mir jetzt deine Geschichte - woher du kommst wer dich erzogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich gefunden habe. Sprich aber die Wahrheit. Wenn ich sehe, dass du kein Verbrechen begangen hast, wirst du an mir zeitlebens einen Freund und Beschützer haben."

Justins Schluchzen erstickte eine Weile seine Worte. Als er gerade anfangen wollte zu erzählen, kündigte das Dienstmädchen den Besuch des Herrn Grimm an.

"Kommt er herauf?" fragte Herr Braunau das Mädchen.

"Ja", entgegnete das Mädchen. "Er fragte, ob es Keks im Hause gäbe, und als ich bejahte, sagte er, er wolle hier Tee trinken."

Herr Braunau lächelte und erklärte Justin, dass Grimm ein alter Freund von ihm wäre, ein ungeschliffener Diamant.

"Soll ich mich entfernen?" fragte Justin.

"Nein, du kannst hierbleiben."

In diesem Augenblick trat, auf einen starken Stock gestützt, ein starker, alter Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein etwas gelähmt und humpelte. Im ausgestreckten Arm hielt er seinem Freunde ein Stückchen Orangenschale entgegen und rief polternd:

"Da, sehen Sie das? Ist es nicht zum Wahnsinnig werden, dass ich in keines Menschen Hause vorsprechen kann, ohne so was auf der Treppe zu finden. Durch eine Orangenschale bin ich lahm geworden, und eine Orangenschale wird noch mal mein Tod sein. Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn mich nicht eine 0rangenschale noch unter die Erde bringt. - Hallo! was ist das?" fügte er mit einem Blick auf Justin hinzu und trat einige Schritte zurück.

"Der junge Justin Hoppa, von dem wir bereits gesprochen haben", entgegnete Herr Braunau.

Justin verbeugte sich.

"Das ist also der Junge", begann Herr Grimm.

"Ja, das ist der Junge",. entgegnete Herr Braunau und nickte Justin dabei zu.

"Nun, wie geht es dir?" fragte Herr Grimm.

"Ich danke, viel besser", antwortete Justin.

Herr Braunau schien zu befürchten, dass sein absonderlicher Freund irgend etwas Unangenehmes auf der Zunge hätte. Er trug daher Justin auf, Frau Lessow zu bestellen, dass sie den Tee bereithalten solle. Nachdem

Justin gegangen, fragte Herr Braunau:

"Ist es nicht ein hübscher Junge?"

"Weiß nicht", erwiderte Grimm mürrisch.

"Wie, Sie wissen es nicht?"

"Nein, ich weiß es nicht. Kann nie einen Unterschied an Jungen entdecken. Kenne nur zwei Arten von Jungen, nämlich Mehlsuppen-Gesichter und Beefsteak-Gesichter."

"Und zu welchen gehört Justin?"

"Zu den Mehlsuppengesichtern. Ein Bekannter, von mir hat einen Jungen, dessen Gesicht so recht die Mästung mit Fleisch ausdrückt. Sie nennen ihn einen schönen Jungen, weil er einen so runden Kopf, rote Backen und glänzende Augen hat. Mir ist der Bursche etwas Schreckliches - ein Körper und Gliedmaßen, die die Nähte seines blauen Anzuges auseinanderzusprengen drohen. Dazu kommt noch die Stimme eines Fuhrknechts und der Hunger eines Wolfes. Ich kenne den Schlingel."

"Nun, derartige Eigenschaften besitzt Justin nicht und verdient deshalb nicht Ihren Zorn."

"Wenn nicht derartige, so hat er vielleicht noch schlimmere", entgegnete Herr Grimm.

Herr Braunau hustete nervös, was Herrn Grimm mächtig zu ergötzen schien.

"Ja, er hat vielleicht noch schlimmere, sage ich", wiederholte Herr Grimm. "Woher kommt er? Was ist er?

Er hat Fieber gehabt - warum? Fieber ist bei ordentlichen Leuten nicht gewöhnlich. Schlechtes Volk hat bisweilen Fieber. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn umgebracht hatte. Er hatte sechsmal das Fieber und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen."

Im Innern seines Herzens musste Herr Grimm aber zugeben, dass Justin etwas Gewinnendes an sich hatte. Sein starker Hang zum Widersprechen und sein Grundsatz, sich nie von einem andern ein Urteil über das Aussehen eines Jungen vorschreiben zu lassen, hatte ihn bewogen, seinem Freunde Opposition zu machen.

Als daher Herr Braunau zugestand, dass er sich noch nicht eingehend über Justin erkundigt hätte, kicherte Herr Grimm boshaft und fragte mit höhnischem Lächeln, ob die Haushälterin auch Abends immer das Silbergeschirr nachzähle, denn er würde sich nicht wundern, wenn einen schönen Tages mal ein paar Löffel fehlten - - usw.

Herr Braunau, der selbst etwas temperamentvoll war, nahm jedoch all dies gemütlich hin, da er die Eigentümlichkeiten seines Freundes kannte. Als dieser die Keks und den Tee lobte, wurde die Unterhaltung wieder angenehmer, so dass selbst Justin, der inzwischen zurückgekommen war, freier zu atmen begann.

"Und wann gedenken Sie sich den ausführlichen und wahrhaften Bericht von Justin Hoppas Leben und Taten erstatten zu lassen?" fragte Grimm, nachdem der Tee getrunken war. Er streifte dabei Justin mit einem Blick.

"Morgen früh", entgegnete Herr Braunau. "Ich möchte dann allein mit ihm sein. Komm morgen um zehn Uhr zu mir herauf, mein Kind!"

"Ja, Herr Braunau", sagte Justin mit einigem Zögern. Er war etwas verwirrt, da ihn Grimm scharf ansah.

"Ich will Ihnen etwas sagen", flüsterte Herr Grimm Braunau zu, "er wird morgen früh nicht zu Ihnen heraufkommen. Haben Sie nicht bemerkt wie er zögerte? Er betrügt Sie, lieber Freund!"

"Ich möchte drauf schwören, dass dies nicht der Fall ist, erwiderte Herr Braunau mit Wärme.

„Wenn es nicht so ist, wie ich sagte, so will ich meinen Kopf - -", damit stieß Grimm seinen Stock heftig auf die Erde.

"Ich setze mein Leben auf die Wahrhaftigkeit des Jungen", sagte Herr Braunau und schlug mit. der Hand auf den Tisch.

"Und ich meinen Kopf auf seine Tücke", schrie Herr Grimm.

"Nun, wir werden ja sehen", sagte Herr Braunau, seinen Unmut bezwingend.

"Allerdings, wir werden es sehen", sagte Herr Grimm mit einem herausforderndem Lächeln. Das Schicksal wollte es, dass in diesem Augenblick Frau Lessow mit einigen Büchern hereintrat, die Braunau am Vormittag bei demselben Buchhändler gekauft hatte, der schon einmal in unserer Geschichte eine Rolle spielte. Sie legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen, als Braunau sagte:

"Lassen Sie den Boten einen Augenblick warten, er muss noch etwas mitnehmen."

"Er ist bereits fort", entgegnete Frau Lessow.

"Rufen Sie ihm nach, die Sache ist wichtig. Die Bücher sind noch nicht bezahlt, und der Mann braucht sein Geld. Auch will ich ihm einige mir zur Ansicht gesandten Bücher zurückgeben."

Man lief dem Boten nach, dieser war aber nirgends mehr zu sehen.

"Schicken Sie doch Justin damit hin", sagte Grimm mit ironischem Lächeln. "Sie wissen, er wird sie sicher abliefern."

"Ja, lassen Sie sie mich hintragen", sagte Justin. "Ich renne schnell hin."

Der alte Herr wollte gerade erklären, dass Justin auf keinen Fall gehen sollte, als ein boshaftes Husten Grimms ihn bestimmte, den Jungen doch zu schicken. Sein Freund sollte die Ungerechtigkeit seines Argwohns einsehen lernen.

"Du kannst gehen, Justin. Die Bücher liegen auf dem Stuhle neben meinem Tische. Bringe sie her!"

Justin war froh, sich nützlich machen zu können. Die Bücher unterm Arm und die Mütze in der Hand, erwartete er den Auftrag.

"Sage also dem Buchhändler", sprach Braunau und sah dabei Grimm scharf an, "du brächtest die Bücher wieder zurück und wolltest die vier Pfund und zehn Schillinge, die ich ihm schuldig bin, bezahlen. - - Hier ist eine Fünf Pfund Note; er wird dir zehn Schillinge herausgeben."

"In zehn Minuten bin ich wieder zurück", sagte Justin lebhaft, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Frau Lessow folgte ihm zur Haustür und bezeichnete ihm den Weg zum Buchhändler.

"Gott sei mit dir", murmelte sie, als sie ihm nachblickte. Es tut mir leid, dass ich ihn aus den Augen lassen soll."

In diesem Augenblick sah sich Justin um und winkte ihr zu, ehe er um die Ecke bog. Frau Lessow erwiderte seinen Gruß und ging dann nach ihrem Zimmer zurück.

"Nun wollen wir sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er wieder zurück sein", sagte Herr Braunau und zog seine Uhr aus der Tasche, die er auf den.Tisch legte.

"Inzwischen wird es dunkel geworden sein."

"Sie glauben also wirklich, dass er wiederkommt?" fragte Grimm ironisch.

"Sie nicht?" fragte Braunau lächelnd zurück.

"Nein", sagte er, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. "Der Junge hat einen neuen Anzug auf dem

Leibe, einen Packen wertvoller Bücher unter dem Arme und eine Fünf Pfund Note in der Tasche. Er wird wieder zu seinen alten Freunden, den Langfingern, gehen und Sie auslachen. Wenn der Junge je wieder hierher zurückkehrt, will ich meinen Kopf aufessen."

Mit diesen Worten rückte er seinen Stuhl näher an den Tisch und so saßen die beiden Freunde, die Uhr vor sich, in schweigender Erwartung da. Es wurde so dunkel, dass man die Zahlen der Uhr nicht mehr erkennen konnte, aber die beiden alten Herren saßen immer noch schweigend da - und warteten.

Das wundersame Leben des Justin Hoppa

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