Читать книгу Das wundersame Leben des Justin Hoppa - Clochard Raade - Страница 3
Justin Hoppa wird geboren
ОглавлениеIn einer Stadt, die so unbedeutend war, dass selbst der Himmel sie auf lange Sicht aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte, befand sich neben einer Gemeindeverwaltung, einer Schule und einer Kirche, auch ein ein Armenhaus. In diesem wurde an einem recht kühlem Tag, es war der letzte Tag des Monats Januar, ein Wesen geboren, dessen Namen in der folgenden Geschichte recht häufig genannt werden wird. Lange noch, nachdem er bereits durch den Armenarzt in dieses irdische Jammertal eingeführt war, blieb es höchst zweifelhaft, ob das Kind lange genug leben würde, um überhaupt eines Namens zu bedürfen. Zuerst einmal war das Kind offensichtlich viel zu früh dran. Es hätte sicherlich noch einige Wochen an dem Ort verbringen müssen, der ihm bis dahin Wärme, Schutz und Nahrung gewährt hatte. Daher fiel es den Beteiligten zunächst ungemein schwer, Justin zu bewegen, die Mühe des Atmens auf sich zu nehmen. Sicherlich ist das Atmen kurz nach der Geburt eine schwere Arbeit. Jedoch ist die Gewohnheit des Atmens zu unserm Wohlbefinden von Natur aus notwendig. So lag er, eine geraume Zeit nach Luft ringend, in einer kleinen Schachtel, wobei sich die Waagschale seines Lebens entschieden einer besseren Welt zuneigte. Wäre Justin damals in die Obhut der modernen Medizin hinein geboren worden, so wäre er unzweifelhaft dem Tode anheim gefallen. So aber war niemand bei ihm als eine arme alte Frau, die infolge ungewohnten Alkoholgenusses ziemlich benebelt war, und ein Armenarzt, der vertragsgemäß bei Geburten Hilfe leisten musste. Justin hatte deshalb die Sache mit der Natur allein auszufechten. Das Ergebnis war, dass Justin nach einigen Anstrengungen atmete, laut nieste und endlich in der Lage war, den Bewohnern des Armenhauses die Ankunft einer neuen Bürde der Gemeinde durch so lautes Schreien anzukündigen, als sich füglich von einem Jungen erwarten ließ, der die ungemein nützliche Beigabe einer Stimme erst seit drei und einer viertel Minute besaß. Auf das Geschrei des Kindes hin, erhob sich das bleiche Gesicht einer jungen Frau mit Mühe von den Kissen und eine schwache Stimme flüsterte kaum vernehmbar: "lassen Sie mich das Kind sehen, dann will ich gern sterben."
Der Arzt saß vor dem Kamin und war bemüht, seine Hände bald durch Reiben, bald durch Ausstrecken über die Kohlen warm zu halten; als aber die junge Frau sprach, stand er auf, trat an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit, als man ihm zugetraut hätte: "Oh! Sie müssen nicht vom Sterben sprechen!"
Die junge Frau streckte ihre zitternde Hand nach ihrem Kind aus, und der Arzt legte es ihr in die Arme. Sie küsste es leidenschaftlich auf die Stirn, dann fuhr sie mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild um sich, schauderte, sank zurück - und starb.
"Sie hat es ausgestanden", sagte der Arzt nach einer kurzen Untersuchung zu der alten Frau. "Ihr braucht nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreit, wahrscheinlich wird es etwas unruhig sein." Er zog bedächtig seine Handschuhe an.
"Ihr könnt ihm dann ein wenig Milchschleim geben."
Er setzte den Hut auf und trat, bevor er das Zimmer verließ, noch einmal ans Bett und sagte:
"Es war ein hübsches Mädchen; woher kam sie?"
"Sie wurde gestern Abend auf Anordnung des Armenvorstehers hier eingeliefert", antwortete die alte Frau.
"Man fand sie auf der Straße ohnmächtig; sie muss weit gelaufen sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen, jedoch, woher sie kam oder wohin sie wollte, weiß niemand."
Der Arzt beugte sich über die Verblichene und hob ihre linke Hand hoch.
"Ich sehe schon, es ist die alte Geschichte", sagte er kopfschüttelnd, "kein Trauring. Na! Gute Nacht!"
Er ging zu seinem Abendessen, und die alte Frau setzte sich auf einen Schemel in der Nähe des Kamins und begann das Kind zu kleiden. In der Decke, die Justin bisher umhüllt hatte, konnte man ihn ebenso für das Kind eines Edelmannes als für das eines Bettlers halten. Aber jetzt in dem alten verwaschenen Kinderzeug, das durch wohlwollende Spenden in den Besitz des Armenhauses gelangt war, trug er die Zeichen seiner Stellung, nämlich die eines Gemeindekindes, einer Waise des Armenhauses, einer Kostenstelle der Gemeinde, einer zum Hungern bestimmten Last, die von allen verachtet und von niemand bemitleidet und erst recht nicht geliebt wurde. Justin schrie laut und kräftig; hätte er gewusst, dass er eine Waise, und somit der lieblosen Fürsorge von Armen- und Gemeindevorstehern ausgeliefert war, so hätte er sicherlich noch lauter geschrien.