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Schulzeit in der DDR, Zeulenroda/Thüringen, 1950

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Wie das bei ehrgeizigen Eltern so ist, sollte ich natürlich das Abitur machen, aber die Nachkriegsumstände standen getreu dem Motto „erstens kommt es, zweitens anders und drittens als man denkt“ dagegen. Die Amerikaner, die unseren Wohnort in Thüringen besetzt hatten, ließen sich in den wenigen Wochen, die sie blieben, Zeit mit der „reeducation“ oder Umerziehung. Und da wir nach dem Morgenthau-Plan eh ein Bauernvolk werden sollten, passte zu viel Bildung auch nicht ins Konzept. So wurden erst einmal alle Schulen geschlossen und die ideologisch belasteten Lehrer entlassen. Das wiederum hinderte meine Eltern nicht, uns umgehend bei ebendiesen geschassten Lehrern zum Privatunterricht anzumelden. Die Amerikaner blieben bis Anfang Juli, dann räumten sie Thüringen und überließen es gegen eine Präsenz in Berlin den Russen. Als wir dann ab Juli 1945 zur „SBZ“, der „Sowjetischen Besatzungszone“ gehörten, begann sofort der Schulbetrieb. Da es an ausgebildetem Lehrpersonal mangelte, traten nun in aller Eile ausgebildete „Neulehrer“ an ihre Stelle. Wie sich aber bald zeigte, waren diese jungen Lehrkräfte zu schnell auf neue Ideologien eingeschworen worden.


Ehemalige Villa der Familie Eckardt in Zeulenroda/Thüringen

Mit ihren 17 oder 18 Jahren mangelte es ihnen einfach an Erfahrung, um uns zu unterrichten oder gar umzuerziehen, waren wir doch noch wenige Wochen vorher nach rein nationalsozialistischem Gedankengut erzogen worden. „Die Partei hatte zwar immer recht“, wie es im neuen Sprachgebrauch hieß, aber wir waren damals noch „kritische Schüler“, die unsere Junglehrer einfach nicht ernst nahmen, wenn sie da in ihrer abgetakelten HJ-Uniform vor uns standen. Wenige Monate zuvor waren sie noch stramme HJ-Führer oder Volkssturmmänner, nun aber erklärte Antifaschisten, die das Chaos schon immer vorausgesehen hätten und natürlich passiv schon immer gegen das verflossene Regime gewesen waren.

Wir lebten damals in Zeulenroda in Thüringen im Elternhaus meiner Mutter, wohin uns das Schicksal nach der Flucht aus Westpreußen verschlagen hatte.

Die kleine Kreisstadt mit etwa 17.000 Einwohnern hatte eine bedeutende Industrie. Es gab allein 15 Möbelfabriken im Ort und dazu Werkzeugmaschinen-, metallverarbeitende Betriebe, Gummi- und Wirkwarenfabriken und viele mehr. Wir erlebten täglich, wie viele dieser Firmen demontiert wurden, waren sie doch alle in das Rüstungsprogramm des „Dritten Reiches“ eingebunden gewesen. Die Firmeninhaber „gingen in den Westen“, wenn sie es noch schafften, einige aber auch in Gefangenschaft in die Sowjetunion. Alle diese Umstände, natürlich auch die Verhaftungen innerhalb unserer weiteren Familie, erlebten wir hautnah mit. So erlaubten wir uns gegenüber unseren Lehrern manch kritische Bemerkung, worin denn nun die Freundschaft mit den Sowjetmenschen begründet sei. So etwas war 1945 tatsächlich noch ohne Folgen möglich.

Als dann 1949 der „Erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ gegründet wurde, gab es nur noch die „achtklassige Einheitsschule der DDR“, die grundsätzlich alle Schüler zu durchlaufen hatten. Erst nach dem Absolvieren dieser Einrichtung und der Erfüllung zusätzlicher Auflagen konnte die weiterführende Schule besucht werden. Grundsätzlich war diese Schulform eine sehr moderne Einrichtung, die vom Konzept her mit Teilen der heutigen Gesamtschule zu vergleichen ist. Der Klassenverband blieb aber erhalten, und die Aufteilung in Leistungskurse war nicht vorgesehen. Jeder Schüler, gleich welcher Herkunft und egal ob nun Arbeiter-, Bauern- oder Intelligenzlerkind, und selbst die Nachkommen der verhassten Barone und Landjunker, hatte diese Schule zu durchlaufen, die nach der 8. Klasse mit einer mehrtägigen Abschlussprüfung endete. Die Benotung mit „gut“ oder besser war eine der Auflagen, die zu erfüllen waren für einen anschließenden vierjährigen Besuch der Oberschule bis zum Abitur. Eine Mittelschule gab es zumindest bis 1950 noch nicht, sie wurde aber mit vielen alternativen weiterführenden Schulzweigen später in der DDR eingeführt.

Konfirmation, 1950

Sicher sah es die Partei nicht gerne, aber die Konfirmation war damals noch ein symbolischer und wichtiger Übergang von der Schulzeit in das Berufsleben. Die Jugendweihe, wie sie später wieder in der DDR eingeführt wurde, war mit dem Ende des „Großdeutschen Reiches“ aus der Mode gekommen. So gingen wir dann regelmäßig zum Konfirmandenunterricht und lernten geschichtliche Hintergründe aus dem Neuen Testament. Der eingeübte Stoff wurde am Sonntag vor der Konfirmation in der Kirche öffentlich abgefragt, wobei niemand vergessen wurde, so dass man tunlichst die wichtigsten Antworten einübte. Heutzutage werden die Konfirmanden teilweise vor der Konfirmation noch schnell getauft. Wie sich die Zeiten doch ändern! Eigentlich vermisste ich meine Eltern bei der Konfirmation sehr, die mich doch innerlich bewegte, aber meine Mutter hatte sich aus irgendwelchen Beweggründen kurz vorher entschlossen, „schwarz“ über die Grenze zu gehen, um meinen Vater in Geesthacht zu besuchen.

Konfirmation, dass hieß, „der Junge braucht einen Anzug“. So bekam ich auf Bezugschein meinen ersten Anzug zugeteilt. Aber wie das in der Planwirtschaft so ist, wurde meine Größe in dem Quartal gerade nicht gefertigt. Da aber der Termin näher rückte, ging ich mit meiner Großmutter zum örtlichen Konfektionär, dem einst berühmten Haus KELLNER & TÜRK, und wir fanden einen braunrot gesprenkelten glencheckähnlichen Zellwollanzug, der mir aber viel zu groß war. Was nun? Der Anzug wurde genommen, und nach meinen Maßen abgeändert. Am nächsten Tag wurde er im letzten Moment bei uns angeliefert. Ich stellte fest, dass da wohl irgendjemand die Maße verwechselt haben musste, jedenfalls waren die Hosen so kurz abgeschnitten worden, dass sie mehr einer Knickerbockerhose ähnelten, die damals schon unmodern war. Es half nichts, auf Reservekleidung konnte ich nicht zurückgreifen. Also, im Geschwindschritt und im Glauben, noch rechtzeitig anzukommen, die Ernst-Thälmann-Allee hochgehechtet, die Schopperstraße herunter bis zum Markt und dann hoch zur evangelisch-lutherischen Dreieinigkeits-Kirche. Mein Vater hatte mir seine goldene Armbanduhr geschenkt, mir aber nicht gesagt, dass diese Uhr niemals genau gegangen war. Also erreichte ich die Kirche, als die Konfirmanden schon in einem langen Zug in Zweierreihen vom Pfarrhaus kommend über die Straße zur Kirche gingen und konnte mich gerade noch als Letzter einreihen. Meine beiden Großmütter waren bereits in der Kirche, so dass ich doch nicht so ganz alleine diesen wichtigen Schritt erleben musste. Zur Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag am 2. April 1950 bekam ich meinen Spruch mit auf den Lebensweg: „Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark“, wie es im 1. Brief an die Korinther, 16, 13, steht.

Zuhause angekommen war dann alles sehr festlich angerichtet. Meine Großmutter mütterlicherseits bewohnte eine stattliche Villa, in der wir damals nach der Flucht aus Westpreußen untergekommen waren. Im Hause wohnte auch noch die Familie des Prokuristen, der in der Brauerei meines Großvaters, Paul Eckardt, der leider schon 1940 verstarb, arbeitete.


Das Familienunternehmen W. & P. Eckardt bestand als Treuhandbetrieb noch Anfang der 1970er Jahre, bis es dann 1972 endgültig erlosch.

Die Familie war alteingesessen, was für mich eine ungeahnte Flut von Geschenken bedeutete, ein „warmer Regen“, den ich gerne annahm, der aber auch seine Tücken hatte. Fein wurde da differenziert zwischen Glückwunschkarten, die ebenso mit Dankeskarten handschriftlich beantwortet wurden und Karten mit Geschenk-Gebinden, wo man die Absender persönlich aufsuchen und sich bedanken musste. Das waren eingefahrene Rituale und niemand in der Geschäftswelt wagte, daran zu rütteln.

Mein „Kleiderschrank“ sah damals erbärmlich aus und bekam durch die Konfirmationsgeschenke eine neue Ausstattung: Vorher trug ich die abgelegten getragenen Sachen meiner Vettern am Ort, die schon mit den abziehenden Amerikanern in den Westen gegangen waren. So sah meine Garderobe damals aus: Grauer, dünner Hemdenstoff wurde aus gummierten Gasplanen gewonnen, die im Wasser längere Zeit gekocht wurden, bis man dann die Gummierung vom Stoffträgermaterial abziehen konnte. Zu Ende des Krieges wurden diese Planen aber auch schon aus imprägniertem starken Packpapier gefertigt, das sich nur als Verpackungsmaterial eignete. Im Sommer trug ich eine selbst genähte Windjacke aus Tarnzeltplanenstoff, der ballenweise eine Zeit lang angeboten wurde. Die Knöpfe zur Jacke holte ich in einem kleinen Kurzwarengeschäft im vier Kilometer entfernten Triebes. Dort waren die braunen Bakelitknöpfe oder Blechknöpfe, wie sie einst für die Zeltbahnen gebraucht wurden, noch zu bekommen, wie es sich schnell herumsprach. Dann hatte ich noch eine abgelegte, speckige und im Bereich der unteren Hosenklappe recht morsche Lederhose, einen verblichenen maigrünen BLEYLE-Strickanzug mit kurzer Hose und etlichen geflickten Mottenlöchern, einen Regenmantel von der Gummiwarenfabrik KLEEBERG & MEYER am Ort, ein Luftwaffenkoppel, das ich mir in der Schule gegen ein Reklame-Taschenmesser aus dem Schreibtisch meines Großvaters eingetauscht hatte und als Unterwäsche luftige Netzunterhemden und ebensolche Hosen, die meine Mutter aus Spinnstoffresten, die sie erworben hatte, angefertigt hatte. Das Netzmaterial war dunkelgrün und ursprünglich für den Afrika-Einsatz des Militärs als Moskitonetz gedacht gewesen.

Im Sommer trugen wir „Klappern“, also Sandalen mit Gelenk und Holzsohlen und Halbschuhe aus „Igelit“. Das waren aus einem Stück gegossene Schuhe. Ohne Strümpfe hatte man in diesen Schuhen im Sommer immer nasse, übelriechende Füße... Im Herbst und im Winter trug ich eine verschossene, ererbte, pluderige Trainingshose, einen grauen Mantel aus einer billigen Militärwolldecke, vielfarbige Pullover mit Phantasiemustern, für die meine Mutter das Garn aus aufgerebbelten alten Wollsachen gewonnen hatte. Wenn es im Winter sehr kalt war, trug ich grüne „Schießhandschuhe“ mit Kaninchenfellfütterung, die gewöhnungsbedürftig waren, weil der Zeigefinger abgespreizt in einem „Fingerhandschuh“ steckte und die restlichen Finger nebst Daumen zu einem Fausthandschuh gehörten. Die Kopfbedeckung im Winter waren gestrickte graue Stirnbänder von der ehemaligen Wehrmacht, und wenn es sehr kalt wurde, auch kaninchenpelzgefütterte Pelzmützen des Militärs, die den russischen Kopfbedeckungen nachempfunden waren. Das Material außen war aber feldgrauer Uniformstoff. Unser Winterschuhwerk waren Stiefel mit Holzsohle und einem Obermaterial aus Leder. Bei Pappschnee bildeten sich leicht Eisklumpen unter den Schuhen, die dann festklebten und die Fortbewegung erschwerten. Wir nagelten uns die fünfeckigen „Soldatennägel“ darunter, um schneller voranzukommen. Unvorstellbar, wie bescheiden wir damals noch waren, aber den meisten anderen ging es ebenso, und so fielen wir gar nicht auf. Der Konfirmationsanzug war jedenfalls unsere erste, anständige Kleidung und wurde natürlich auch noch für die Prüfungen und die spätere Abschlussfeier der Schule gebraucht.

Schulabschlussprüfungen, 1950

Die Prüfung zum Ende der Einheitsschule wurde mit viel Aufwand organisiert, eine Übung, die im sozialistischen Vaterland zur damaligen Zeit im Jahre 1950 perfekt beherrscht wurde. Sie dauerte vom 29.6.1950 bis 14.7.1950 und erfasste alle Fächer. Zum Ritual gehörte als Mittelpunkt die allzeit präsente Prüfungskommission, zusammengesetzt aus einem Vertreter des Staates, einigen jüngeren Neulehrern und noch ein paar älteren Kollegen des Lehrkörpers oder soll ich sagen „Lehrkaders“? Alle Herren hatten sich der Würde des Tages entsprechend gekleidet und Orden und Ehrenzeichen angelegt. Einige „harte Marschierer“ hatten auch schon das Parteiabzeichen der SED am Revers. Die Herren hatten es sich am Kopfende des Klassenzimmers bequem gemacht und saßen mitten in einem Arrangement von transportablen Buchsbäumen und wirkungsvoll platzierten Fahnen der Stadt und der Republik. Natürlich wurde das Ereignis auch mit einem Beitrag der großen Sowjetunion gewürdigt: Das blutrote Transparent, das sonst das Portal unserer Schule schmückte, wurde in den Raumschmuck mit einbezogen und verkündete in großen, weißen Lettern: „LERNEN, LERNEN UND NOCHMALS LERNEN“, ein Ausspruch von Lenin, wie in kleiner Schrift darunter stand... Nun, denn!

Selbst unser Klassenlehrer hatte sich fein gemacht: Eigentlich kannten wir ihn jahraus, jahrein, nur in seiner taubenblaugrauen, entmilitarisierten Fliegeroffiziersuniform. Dazu gehörten die scharfen Breecheshosen und im Sommer Halbschuhe, im Herbst die Langschäfter aus feinem, weichen Leder und im Winter die, wie er uns erzählte, einst beheizbaren Fellstiefel. Das zackige Auftreten war geblieben, da hatte er in der Bewältigung der Vergangenheit wohl noch etwas Nachholbedarf. Zur Prüfung erschien er dann in ungewohnter ziviler Kleidung im damals hellgrauen Nadelstreifenanzug aus Zellwolle. Wer jemals diese Kreationen getragen hat, das einzige Tuch, das es damals auf Bezugschein gab, wird sich erinnern, dass das gute Stück nicht nass werden durfte. Dann geriet es völlig aus der Facon, und aus dem Sonntagsanzug wurde ein ausgebeulter Trainingsanzug. Nicht zu vergessen, zu dem Anzug gehörten auch Strümpfe aus Zellwolle, die mit Sockenhaltern getragen wurden... Das war auch nötig, denn diese Fußbekleidungen passten nur beim ersten Anziehen, dann wurden sie immer weiter und weiter, bis sie bei uns schließlich gerollt auf den Knöcheln lagen... Jedenfalls setzte sich unser Lehrer F. „in Szene“. Er stand der Kommission vor, hatte er doch einst gelernt, sich in solchen Situationen zu bewegen. Er genoss sichtlich die ihm zugeteilte Rolle.

„Pisa“ hätte von uns damals noch lernen können: Wie es heute noch in Frankreich gang und gäbe ist, hatte man erkannt, dass „Gleiches nur mit Gleichem zu vergleichen war“. Es gab in der DDR keinen Föderalismus wie in Westdeutschland. Berlin war die Zentrale, und hier wurde für das Volk vorgedacht, entschieden, und delegiert!

Die Prüfungsaufgaben galten für alle Schulen der DDR und kamen in großen, versiegelten A-4-Kuverts. Vor unser aller Augen präsentierte F. die Kuverts und ließ sich die Unversehrtheit der Siegel vom staatlichen Beisitzer schriftlich bestätigen. Dann gab es eine kleine, der Würde des Moments nicht entsprechende Pause, denn weder eine Schere noch ein Taschenmesser hatte die Kommission zur Hand, um die Umschläge stilvoll zu öffnen. Ein Aufreißen wäre in diesem Moment unfein gewesen, das wurde schnell erkannt. Ein Schüler konnte aushelfen und stellte sein Taschenmesser unter dem Grinsen der Prüflinge für die Prozedur zur Verfügung. Vor unseren Augen und überwacht vom Kollegium wurden nun die Siegel erbrochen, das Kuvert geöffnet und die Prüfungsaufgaben an die Tafel geschrieben. Es standen mehrere Themen zur Auswahl, so dass das Pensum in der vorgegeben Zeit für alle Fächer zu schaffen war.

So nahm dann die Prüfung über mehrere Tage ihren Lauf. Glück hatte ich in Russisch, denn ich war ja von 1947 bis 1949 in einer westdeutschen Schule und hatte dort keinen Russischunterricht gehabt. Es hatte sich aber in der Zwischenzeit nichts Wesentliches getan, wie ich zu meiner Freude feststellen konnte. Wir waren nämlich trotz vieler Anläufe immer nur bis auf Seite 18 unseres Standardwerks „Mein russisches Lehrbuch“ gekommen. Wohl gemerkt, das war das Lehrbuch für das fünfte (!) Schuljahr, und wir waren doch die 8. Abschlussklasse! Der Grund war, dass die 1945 eilig ausgebildeten Neulehrer auch nur bis Seite 18 gekommen waren und nur über ein minimales Grundwissen im Russischen verfügten. Dann gingen sie, wie es die Planwirtschaft vorsah, zu weiterbildenden Kursen oder stellten fest, dass ihre Schwerpunkte wo anders lagen. Neue Junglehrer wurden ausgebildet, und die fingen dann auch wieder ganz von vorne an, bis auch sie bei Seite 18 ankamen. Planwirtschaft in Reinkultur! Schließlich lernten wir zur Abwechslung mal ein russisches Gedicht und natürlich den Text des Liedes „Kalinka“. Bei der Prüfung brauchte ich nur eine kurze Textstelle vorzulesen, ebendieses Gedicht aufzusagen und den Text von „Kalinka“ vorzutragen. Es reichte in der Benotung gerade noch für ein „ausreichend“. In anderen Schulen der DDR mag es anders gewesen sein. Schließlich erkannte man auch in Berlin, dass es im Russischen mancherorts noch Defizite gab und sich der Plan so nicht umsetzen ließ. Man kam dann auf den glorreichen Gedanken, die Baltendeutschen, die als Flüchtlinge auf dem Gebiet der DDR lebten, mit in das Bildungswesen einzubeziehen. Immerhin waren diese Menschen meistens noch im zaristischen Russland zweisprachig aufgewachsen. So kam meine Tante, Anni B., noch zu Ehren, als Russischlehrerin eingesetzt zu werden. Bei der gymnasialen Bildung an den ostdeutschen Schulen war Russisch die erste Fremdsprache, gefolgt von Französisch und Englisch. Latein gehörte auch noch dazu, ja, den Schülern wurde damals einiges mehr als heute abverlangt.

Alles hat einmal ein Ende, auch die Prüfungen. Im größten Ballsaal der Stadt, „Pohland´s Lokal“, aus dem später das Kulturhaus der Stadt wurde, wurde die Zeugnisübergabe nochmals zum gesellschaftlichen Ereignis, zu dem auch die Familie eingeladen wurde. Mein Vater war nicht dabei, hatte er sich als Reichsdeutscher aus dem Baltikum doch schon 1946 nach Westdeutschland abgesetzt, was nicht ohne Konsequenzen für meinen späteren Lebensweg bleiben sollte... Mein Name wirkte damals auf manche Lehrer wie ein rotes Tuch, zumal ein kleines Prädikat vor dem Namen mich schon einer Kaste zuwies, unter der die Arbeiter und Bauern Jahrtausende gelitten hatten. In der Schule hieß ich dann folgerichtig bei den Mitschülern auch immer nur „Der Oodl“. So schrieb dann auch mein Lehrer noch den kleinen Nachsatz in mein Zeugnis vom 22. Juli 1950: „Conrad gibt sich Mühe, er könnte jedoch mehr leisten.“

Die nächste Entscheidung stand schon an: Oberschule oder Beruf? Arbeit gab es damals in der DDR genug. Und so kamen die Genossen der Berufsberatung schon zu Beginn der Abschlussklasse in die Schule, um die Berufswünsche der 13- oder 14-jährigen Schüler zu notieren und zu registrieren, um sie dann umgehend in das System der Sozialistischen Planwirtschaft integrieren zu können. Ich meldete die Absicht, später einmal zur Oberschule gehen zu wollen. Selbst als Angehöriger einer ehemals privilegierten Schicht hätte ich da unter Umständen noch eine Chance gehabt. Aber auch im Land der Arbeiter und Bauern ging nichts ohne Gegenleistung. Der alte lateinische Spruch oder besser die deutsche Übersetzung „Ich gebe, damit Du gibst“, war auch bei den Funktionären bekannt. Die wussten natürlich, dass mein Vater einst Inhaber einer Mechanischen Seilerei und Netzfabrik und von Beruf Textilingenieur war. Auch sein Fachwissen auf dem Gebiet der Monofile oder Kunstfasern schien in der DDR bekannt zu sein. Genau solche Leute wurden damals im „Zellwollwerk Schwarza“ benötigt. „Ja, käme Dein Vater in die DDR zurück, könntest Du zur Oberschule gehen“, sagte man mir. Mein Vater tat mir den Gefallen aber nicht, waren seine Brüder doch gerade erst aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Es gab eben zu viele Beispiele, wo Angehörige auch unserer Familie in die Sowjetunion verschleppt worden waren und niemals oder erst nach 1950 wieder zurückkamen.

Da ich von 1947 bis 1949 bei meinem Vater in Geesthacht lebte und direkt an der Elbe aufwuchs, interessierte ich mich sehr für den Schiffbau. Vielleicht spielten da auch die Gene mit, denn meine Vorfahren im Baltikum waren erfolgreiche Großkaufleute und Reeder gewesen. Also notierten die allwissenden Berufsfindungsfunktionäre: Conrad H. von S., Schiffbauer, Warnowwerft Warnemünde, Lehrlingsheim mit Internat. Alles war damals in der DDR bis ins Detail geregelt. Selbst eine Kontrollkarte wurde gleich angelegt, so dass nach der Schule kaum Zeit verging, um in den Arbeitsprozess und in die Reihen der Werktätigen aufgenommen zu werden.




Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936

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