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Der Neubeginn in Westdeutschland, 1950-1953

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Irgendwann erkannten wohl auch meine Eltern, dass es für das Wohl der vier Kinder nicht förderlich war, nun schon mehr als vier Jahre getrennt zu leben und hatten sich entschlossen, die Familie wieder zusammenzuführen. Gewiss, mein Vater hatte es in den Nachkriegsjahren zu keinem Wohlstand gebracht, hatte aber sein Auskommen bei einem Institut in Cuxhaven gefunden. Er fristete sein Dasein als „Technischer Angestellter“, wobei er stets in neue Forschungsvorhaben der Langzeiterprobung von Nylon- und Perlongarnen eingebunden war. Wie das Leben so spielt, war mein Vater im Krieg u. a. Obermeister seines Fachs im damaligen Gau Danzig-Westpreußen, wohin man uns Reichs- und Baltendeutsche umgesiedelt hatte. Und nun war sein Institutsleiter der Mann, den er früher in seinem Betrieb ausgebildet hatte...

Kurzum, in monatelanger Arbeit verpackte meine Mutter unseren ganzen Hausrat in 20-kg-Pakete, die wir Tag für Tag zur Post schleppten: Die Nähmaschine, der Volksempfänger, Bettzeug, Kleidung, Geschirr und was noch alles dazugehörte, alles wurde in imprägnierte Gasplanen aus Ölpapier, die es damals noch aus Wehrmachts-Restbeständen gab, verpackt. Alles kam wie durch ein Wunder ohne Verlust in Cuxhaven an, wo es mein Vater in den Lagerräumen des Instituts stapelte.

Irgendwie fiel aber einem Funktionär bei unserem Postamt in Zeulenroda auf, dass da offenbar eine Familie „rübermachen“ wollte, wie es so schön in der Thüringer Mundart hieß. Das wurde uns zugetragen, und da galt es nun, keine Zeit mehr zu verlieren. Meine Mutter verkaufte damals für ganze 300 Westmark zwei ihrer ererbten Felder und machte damit sicher einen großen Fehler. Aber wer konnte damals schon wissen, dass es nochmals eine Wiedervereinigung geben könnte?

Bei Nacht und Nebel verließen wir mit dem Auto meines Onkels Zeulenroda und fuhren nach Berlin. Hier überschritten wir, nur mit dem Nötigsten ausgestattet und zusätzlich noch ein paar Blumentöpfen zur Tarnung in der Hand, unter den Augen der Volkspolizisten am Bahnhof Friedrichstraße die Grenze nach Westberlin. Wir quartierten uns bei einer windigen Wirtin in der Potsdamer Straße ein, die als erstes West-Bargeld sehen wollte. Jahre später erfuhr ich von Berliner Arbeitskollegen, dass es nicht die beste Gegend gewesen war, wo wir Logis genommen hatten. Nun begann für meine Mutter der Kampf um Flugkarten, um aus Berlin nach Westdeutschland zu gelangen. Dazu bedurfte es einiger Besuche bei der englischen Kommandantur. Schließlich schaffte sie es, uns im Rahmen der Familienzusammenführung mit der PANAM ausfliegen zu lassen. In Berlin am Tauentzien bekam ich damals übrigens meine ersten „Samba“-Schuhe mit dicker Kreppsohle, wie sie damals ultramodern waren.

In Cuxhaven angekommen, hatten wir es nicht weit zur Wohnung, die ein reiner Behelf war: Im unmittelbar am Bahnhof gelegenen „Haus Atlantik“, in dem unten das große Fahrrad- und Radiogeschäft Schult untergebracht war, hatte mein Vater unter der Adresse Lehmkuhle 2 drei Büroräume angemietet, die alle mit einer Zwischentür verbunden waren und sonst auf den umlaufenden Gang mündeten. Es war ein echter Behelf, denn unsere sechsköpfige Familie musste auf der geringen Fläche, essen, schlafen, Schularbeiten machen und leben. So bekam mein Vater auch bald einen Baukostenzuschuss bewilligt, und nach ein paar Monaten hatte dieses Provisorium ein Ende. Wir zogen dann in die Schillerstraße in eine größere, wenn auch primitive Wohnung.

Doch, wie sollte es nun weiter gehen? Ost und West hatten sich schon so weit entfernt, dass selbst die Schulsysteme unterschiedlich waren. In der Bundesrepublik galt noch das übernommene System: Der Wechsel zur Oberschule erfolgte nach der vierten Klasse in der Grundschule. Und weiter, die Schulen in der DDR endeten im Herbst und die in der BRD zu Ostern. Es wäre fast unmöglich gewesen, den gesamten Oberschul-Lehrstoff von vier Jahren in einem halben Jahr nachzuholen. Die Lehrstellen im Westen waren auch längst vergeben, so dass als einziger Ausweg blieb, den Anschluss an die Städtische Mittelschule zu finden. Aber Freunde, hätte ich damals gewusst, was da auf mich zukommt, ich wäre diesen dornenvollen Weg nicht gegangen. Da fällt gerade mein Blick auf einen Holzdruck, den ich mal auf einem Flohmarkt erstanden habe und der den alten Preußenkönig Friedrich den Großen zeigt, eingerahmt von dem Sinnspruch „Erst, wenn die Hoffnung zerrann, zeigt sich der Mann“. Die Zeichnung stammt übrigens aus der Feder von Hugo Feustel aus Greiz, nur achtzehn Kilometer von Zeulenroda entfernt und entstand in Jahre 1933. Nun, solche hehren Gedanken waren mir damals sicher fremd. Um nicht sitzen zu bleiben (Schande), kam ich zur Sicherheit nochmals in die achte Klasse und musste in einem halben (!) Jahr Deutsch, Englisch, Algebra, Mathematik, Geometrie, Geographie und Stenographie nachholen. Fast alles lernte ich im Alleingang mühsam nach, und einen wesentlichen Anteil des Erfolges verdanke ich meinem damaligen Schulfreund Hermann Walter B.

Nur, wenn es einmal gar nicht weiter ging, bekam ich von einem unserer Lehrer Nachhilfe. Der „Satz“ war damals zwei Mark pro Stunde. Das war für meine Eltern im Jahre 1950 viel Geld. Mein Vater brachte für die sechsköpfige Familie ganze 378 DM pro Monat nach Hause, und die Miete betrug auch schon 40 DM.

Es gab Zeiten, wo ich kurz vor dem Verzweifeln war: 23 Fehler in der Englischarbeit und 25 in der Berichtigung. Der Lehrerspott wegen meiner ungeschliffenen, thüringisch gefärbten Aussprache blieb nicht aus: „That´s no English, that´s Saxon English“ tönte meine Lehrerin, eine kleine, strenge, rothaarige Miss, mit der nicht zu spaßen war, übte sie doch gleichzeitig die Funktion der Konrektorin aus und war damit auch zuständig für Versetzungen in Grenzfällen... Hinzu kamen schlechte Noten in Deutsch: „Noch nicht ganz IV“, vermerkte da Lehrer M. trocken unter meinen Aufsätzen, und das war dann schon ein Fortschritt! Meist erntete ich nur „mangelhaft“ als Bewertung. Kompensieren konnte ich das nur mit immer wieder „guten“ Beurteilungen für das Vortragen von Gedichten. Gedichte und Zitate konnte ich, auch wenn sich nichts reimte, seitenweise auswendig lernen und ohne Pathos, aber lückenlos vortragen. Das visuelle Gedächtnis war mein Plus und brachte mir die Anerkennung, die ich brauchte, um das Martyrium durchzustehen. Aufsätze waren dagegen mein Grauen. Als technisch orientierter Mensch mit den Gaben nüchterner und abwägender Sachlichkeit ausgestattet, blieben mir manche Themen einfach verschlossen. Mit „Ein Tag beginnt“, „Eigene Gedanken zum Charakter des Weisslingen auf den Seiten 87 bis 102“ und der Interpretation des Gedichtes „Des Fischers Nachtgesang“ konnte ich nichts anfangen. Das Gedicht stand in unserem Lesebuch und bestand nur aus Morsezeichen ohne jeden Sinn. So musste die Interpretation für mich jedenfalls unausgesprochen bleiben. Unser Lehrer liebte schwülstige Schilderungen, möglichst im Stil der Jahrhundertwende oder der Theatersprache. Hieß es in meinem Sprachverständnis z.B. „Reiche mir bitte das Kind herüber“, so tönte es aus der klassischen Schiller-Literatur „Gib her das Wurm“. Welch eine Qual für einen angehenden Techniker, und welch ein Genuss für meinen Mitschüler Peter F., der grundsätzlich niemals Schularbeiten im Deutschen machte und als angehender begnadeter Schauspieler in der Lage war, ohne zu stocken, seitenweise druckreife Aufsatztexte aus seinem Heft vorzulesen, ohne dass er davon auch nur ein Wort zu Papier gebracht hatte. Der Lehrer hat es nicht gemerkt, und Peter F.´s Ansehen stieg bei uns ins Unermessliche.

Aber auch diese anstrengenden Jahre zischen 1950 und 1953 gingen vorüber. Eine gütige Vorsehung ließ mich 1953 die Prüfung zur Mittleren Reife bestehen. Meine Eltern hatten schulisch ihr Ziel bei mir nicht erreicht, und ich hatte das Beste aus der Situation gemacht. Damit waren zur damaligen Zeit die Weichen des Lebens aber schon fast endgültig gestellt. Es gab in der Provinz keine Aufbaulehrgänge an den Gymnasien, auch kein siebenstufiges Gymnasium, kein Wirtschaftsabitur, kein Abendgymnasium, keine Volkshochschule mit der Vorbereitung auf die Sonderreifeprüfung, kein Begabtenabitur für Externe, kein HANSA-Kolleg und was es heute sonst noch alles an Ersatzmaßnahmen gibt, um die Hochschulzulassungsberechtigung zu erreichen. Wer auf der Oberschule von Beginn an war und mithalten konnte, der gehörte zu dem elitären Kreis der damals 5 % der Schüler, die Abitur machten. Ein einziger „Externer“ aus der Mittelschule hatte es damals geschafft, in den Clan der Elite aufgenommen zu werden. Er war ohnehin ein Genie, und die werden bekanntlich nicht so oft geboren.


Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936

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