Читать книгу Sechs utopische Thriller - Conrad Shepherd - Страница 22
7. Kapitel
ОглавлениеPünktlich auf die Minute betrat Conroy die Halle des Hotels, begrüßte Nomi und fuhr mit ihr weg.
Ihr roter Hover bewegte sich mit mäßiger Geschwindigkeit im Strom des abendlichen Verkehrs, vorbei an malerischen Moscheen, an buddhistischen und hinduistischen Tempeln und Klöstern, die dann über weite Bereiche von modernen Hochbauten abgelöst wurden. Aus dem in der Mittelkonsole eingebauten TV drangen die Klänge einer Show aus dem Takarusapalast in Tokio. Der Bildträger war jedoch abgeschaltet.
»Ist es weit?«, erkundigte er sich und blickte die junge Frau von der Seite an.
»Nicht besonders«, erwiderte sie. »Wir müssen zu den Kais.«
Nach knapp zehn Minuten erreichten sie die Kaianlagen an den Ufern des hier weitverzweigten Flusses Dschilam. Nomis Hovercar rauschte leise über den gewaschenen Kies eines Zufahrtweges. Dann parkte sie ihr Fahrzeug zwischen einem zerbeulten Veega und einem Lieferwagen chinesischer Bauart, der auf seinen Flanken für Trekkingtouren in das Pandschab warb.
Vom Fluss her schlug ihnen der typische Geruch des Wassers entgegen. Weiter oben auf den Piers herrschte ein Tohuwabohu an Geschäftigkeit und Lärm.
Nomi ging zielstrebig auf den Eingang eines umzäunten Grundstückes zu, auf dem sich ein weißgestrichenes Holzhaus mit reichgeschnitzten Lauben und einer weitläufigen Terrasse vor einem aus vorfabrizierten Einzelteilen aufgebauten Hangar erhob. Der Hangar trug eine graugrüne Tarnbemalung.
Ray Haan erwartete sie auf der Terrasse.
»Hallo, Miss Nomi!«, empfing der derbknochige Mann im weißen Leinenanzug die Rimtec-Angestellte. In einer seltsamen Vertrautheit legte er dabei seinen Arm um das Mädchen und küsste es leicht auf die Stirn. Dann wandte er sich Conroy zu, der ihn um einen ganzen Kopf überragte und sagte: »Sie müssen Doktor Morton Conroy sein, der Mann mit dem vielen Geld! Ich erwartete Sie schon früher. Dachte bereits, Sie hätten es sich anders überlegt. Hatte Sie beinahe schon auf meiner Verlustliste.«
»Doktor Conroy hat erst eingecheckt«, erklärte Nomi und lächelte etwas gequält.
Haans Gesicht war von einer Hässlichkeit, die schon wieder anziehend wirkte. Das eisgraue Haar war straff zurückgekämmt und lag eng wie ein Helm am Kopf an. Wenn er lächelte, warf sein Gesicht unzählige kleine Falten.
Haan wandte sich wieder Conroy zu.
»Hoffentlich haben Sie keine Höhenangst, Kumpel! Die können Sie nicht brauchen, wenn wir in die Berge fliegen.«
Conroy sagte: »Devlin versicherte mir, dass ich mich bei Ihnen in den denkbar besten Händen befinde.«
»Da hat er nicht untertrieben«, erwiderte Haan selbstgefällig. »Allerdings bin ich dafür, dass Sie sich Ihr eigenes Urteil bilden. Warten Sie erstmal ab, man soll ja nicht vorschnell urteilen. – Setzen wir uns doch.«
Auf der Terrasse waren unter einem Baldachin mehrere Korbsessel um einen kleinen Tisch gruppiert.
Von der Terrasse aus erstreckte sich ein gepflegter Garten bis hinunter zum Fluss.
»Toller Ausblick«, sagte Conroy bewundernd.
»Am Abend ist's hier noch schöner«, nickte der Bergpilot, »wenn die Sonne hinter den Bergen untergeht. Aber entschuldigen Sie mich für einen Augenblick. Meine geliebte Lea ist für ein paar Wochen bei ihrem Stamm. Also muss ich mich eigenhändig um die Bewirtung meiner Gäste kümmern.«
Als Haan wieder auftauchte, trug er in der Hand ein Tablett mit Gläsern und unter dem anderen Arm eine zusammengerollte Karte. Er stellte das Tablett auf den Tisch und setzte sich.
Aus dem Haus drangen die Klänge einer Fanfare.
»Jean-Baptiste Lully: Fanfares pour le Carrouzel de Monseigneur«, beantwortete Haan Conroys ungestellte Frage.
»Eine einmalige Aufnahme des längst nicht mehr existenten Collegium Musicum de Paris«, bestätigte Nomi McIrnerny.
»Sie sind Liebhaber barocker Fanfarenklänge?«, wunderte sich Conroy.
»I wo«, versetzte der Pilot grinsend. »Pure Sentimentalität. Die Fanfare war das Angriffssignal unseres Staffelkommodores während unserer Einsätze. Ist meine einzige Erinnerung an den Schweinehund. Inzwischen habe ich mich an den Lärm gewöhnt...«
Conroy kämpfte gegen ein Lachen an. Es gelang ihm nur mit Mühe. »Ich bin tief beeindruckt von Ihrer Loyalität.«
Ray Haan schob sein Glas beiseite und entrollte die Karte.
»Kommen wir zur Sache. Mister Devlin sagte, dass Sie schon mal in Tibet waren. Trifft das zu?«
»Stimmt. Aber nur im Nordosten.«
Conroy sah, wie sich eine kleine Falte über der Nasenwurzel des Piloten bildete. Sicher wusste er, wie heiß umkämpft die Region um die Uranfelder Rungmar Thoks gewesen war. Und dass sich vor allem westliche Elitetruppen dort im Einsatz gegen die Chikoms befunden hatten. Sicher überlegte er, was ein Ethnologe dort gesucht haben könnte. Doch dann entspannte sich seine Miene wieder.
Conroy atmete unmerklich auf.
Er hasste fadenscheinige Erklärungen über Sachverhalte, die eindeutig falsch waren.
Außerdem mochte er den Mann auf Anhieb gut leiden, der jetzt erklärte: »Der Westen ist ganz anders. Das gesamte Territorium liegt in über fünftausend Meter Höhe. Überwiegend handelt es sich um ein unwirtliches, zerklüftetes Land, so wie es auf dem Mars vorherrscht.«
»Sie sind sicher, dass Sie es schaffen, dort raufzukommen?«
Haan zuckte die Schultern.
»Warum auch nicht? Probieren geht über studieren, wie man bei uns zu Hause sagt. Sehen Sie her«, er deutete mit dem Finger auf die Karte. »Wir werden zunächst nach Thilen fliegen, einem Dorf in der Schlucht des oberen Indus. Liegt ungefähr dreitausend Meter hoch. Dort gibt es einen ehemaligen Notlandeplatz der Chikoms. Habe 'ne ziemlich höhentaugliche Maschine in dem alten Hangar stehen. Damit versuchen wir's. Von Thilen nach Lhakpa sind es dann nur noch zweihundert Kilometer.«
»Können wir dort überhaupt landen?«
»Ich denke doch.« Der Pilot nickte und grinste.
»Das klingt schon mal vielversprechend«, sagte Conroy und studierte vornübergebeugt die mit Gradeinteilungen versehene Karte. Eine Stelle war rot schraffiert. »Was bedeutet das?«, wollte er von Haan wissen.
»Eine Sperrzone«, erklärte der Pilot. »Und zwar militärisches Sperrgebiet. Dort halten die Einheiten der PPB ihre Manöver ab. Kann unter Umständen etwas ungemütlich werden. Wir müssen auf unserem Flug nach Lhakpa ziemlich nahe daran vorbei. Die übermütigen Piloten dort machen sich hin und wieder den Spaß und wildern ein bisschen außerhalb ihrer Zone. Aber ich denke, wir kommen ohne Ärger dran vorbei.«
Conroy rief sich die Koordinaten von Basis Alpha in Erinnerung – sie stimmten mit dem schraffierten Bereich überein. Das mit dem »ungemütlich werden« konnte zutreffen.
»Was für eine Maschine fliegen Sie denn, Ray?«
»Ein Hoverjet, eine Vertidyne. Dort oben im Gebirge hat man mit Flächenmaschinen wenig Chancen«, sagte Ray Haan. »Wir müssen durch den Phoksando-Pass nach Tibet hineinfliegen. Durch enge Schluchten mit tückischen Fallwinden von der Stärke ausgewachsener Stürme. Es gibt dort oben jede Menge Unwägbarkeiten. Plötzliche Eisstürze, die ganze Schluchten zuschütten. Schneelawinen von einer Größe, wie Sie sie noch nie gesehen haben. Der Pass ist nahezu fünftausend Meter hoch, kann gut sein, dass wir uns den Bauch aufreißen, wenn wir drüberfliegen. Ich sollte Sie fairerweise warnen, Doktor Conroy: Es wird mit Sicherheit keine Vergnügungsreise. Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen? Jetzt können Sie noch zurück.«
»Keine Chance«, wies Conroy Haans Ersuchen ab. »Ich bin einiges gewöhnt, was Höhe anbelangt. Wann starten wir?«
Ray Haan grinste.
»Sie sind nach meinem Geschmack, Mister. Fast wäre ich geneigt, Sie nur Ihrer blauen Augen wegen dort hinaufzubringen. Aber ich bin ein unverbesserlicher Materialist, weshalb natürlich mein gesunder Geschäftssinn die Oberhand gewinnt. Okay, wir fliegen morgen Nachmittag nach Thilen hinauf.«
»Und weshalb nicht gleich in der Frühe?«
»Kann ich nicht riskieren. Wir bekommen bald Regen, da hängt der Pass bis Mittag voller Wolken.«
»Regen?«, fragte Conroy verwundert und sah vielsagend in den klaren Abendhimmel; die ersten Sterne begannen über den Bergen zu funkeln. Es war kühler geworden.
»Wenn ich's sage.«
»Woran erkennen Sie das?«
»Meine Narben plagen mich dann immer so«, erwiderte Haan, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Im Ernst?« Nomi warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
Haan zeigte ihr lachend die Zähne.
»Natürlich nicht! Ich habe mir die Vorhersage des meteorologischen Wettersatelliten eingeholt. – Wie steht's eigentlich mit Ihrer Ausrüstung, Doktor?«
»Rimtec liefert sie morgen früh an«, sagte Nomi.
»Gut. Gibt es sonst noch etwas, das mit muss?«
»Ach ja«, Conroy kritzelte etwas auf eine Serviette und reichte sie Haan, »können Sie das für mich arrangieren?«
Der Pilot runzelte überrascht die Stirn, als er las, was Conroy niedergeschrieben hatte. »Was wollen Sie denn mit dem Ding?«
Conroy grinste verlegen. »Es war schon immer mal mein Wunsch, von einem wirklich hohen Gipfel zu starten.«
»Haben Sie es denn schon mal probiert?«
»Ja. In den Anden.«
»Pah«, sagte Haan abfällig, »Hügel! Kein Vergleich mit den Bergen hier.«
»Eben drum«, erwiderte Conroy und hoffte, dass Haan ihm die Vorstellung als Drachenflug-Enthusiast abkaufte. »Nun, was ist? Können Sie?«
Der Pilot wiegte zunächst den Kopf, dann nickte er. »Denke schon. Habe 'nen alten Kumpel, Russe. Der hat bestimmt so'n Ding in seinem Ausrüstungsschuppen. Morgen wissen Sie's.«
»Fein«, freute sich Conroy und prostete ihm zu. »Wann starten wir?«
»Treffen wir uns um vierzehn Uhr hier«, schlug Haan vor. »Wir sind dann noch im Abendlicht in Thilen. Morgen Nacht haben wir Vollmond. Wenn der Himmel klar bleibt, können wir gleich weiterfliegen. Passt Ihnen das?«
»Nun, je eher wir losfliegen, um so früher bin ich im Kloster. Was ist mit dem tibetanischen Führer?«
»Wir übernehmen den Dolpo-Pa in Thilen. Er weiß Bescheid, dass wir kommen. Er wird sich rechtzeitig am Landeplatz einfinden.«
Sie erhoben sich.
Haan nahm sein Glas und sagte: »Möge uns ein guter Flug beschieden sein!«
Er trank aus, stellte sein Glas hin und grinste auf einmal wieder. »Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss mich aufs Ohr hauen. Morgen wird es ein anstrengender Tag. Ich beginne ihn gern ausgeruht. Das verhindert unnötige Komplikationen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Selbstverständlich!«, versicherte Conroy.
*
Auf der Rückfahrt steuerte Conroy den Hover. Er fuhr schnell und konzentriert und verhielt sich auffallend schweigsam. Seine Stirn war leicht gefurcht. Er war mit seinen Gedanken schon bei dem bevorstehenden Treffen mit diesem Skorrow.
»Stört Sie etwas?«, fragte Nomi mit einem raschen Seitenblick.
Conroy zuckte die Achseln und meinte ausweichend: »Vermutlich ist es nur Einbildung, aber ich hatte den Eindruck dass Ray Haan sich bei der ganzen Geschichte bei weitem nicht so zuversichtlich zu fühlen scheint, wie er uns weismachen wollte.«
»Da täuschen Sie sich sicher, Morton«, erwiderte Nomi.
»Na, wenn Sie es sagen.«
Conroy konzentrierte sich auf die Straße.
Nomi schien intuitiv zu wissen, dass er nicht gestört werden wollte. Sie schwieg, dirigierte ihn zuweilen mit leiser Stimme, wenn er an Verteilerkreisel und Ausfahrten kam. Nach zwei Dritteln des Weges begann es plötzlich zu blitzen. Regen fiel. Das Verdeck des offenen Hovers schloss sich automatisch nach den ersten Tropfen. Als sie vor dem Maniloa International angekommen waren, goss es bereits in Strömen. Conroy lenkte den Hover unter die freischwebende Konstruktion des Vordaches und trat auf die Bremse. Dann drehte er sich zu Nomi um.
»Danke für den Abend«, sagte er. »Sehen wir uns morgen noch, ehe ich abfliege?«
»Möglich.« Sie lächelte.
Eine Weile schauten sie sich schweigend an. Conroy war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, dass sie darauf wartete, geküsst zu werden.
Er ließ sie nicht länger warten, küsste sie und war überrascht von dem Eifer, mit dem sie seinen Kuss erwiderte.
Doch dann schob sie ihn von sich.
»Du hast ab morgen ein paar anstrengende Tage vor dir. Lassen wir's gut sein. Vielleicht haben wir später mal Gelegenheit, zusammen zu frühstücken.«
»Okay, Mädchen«, nickte er mit einem matten Grinsen. »Bis morgen.«
Er stieg aus und trat einen Schritt zurück. Das Aggregat summte auf. Nomi hob noch einmal die Hand, um zu winken. Dann brauste sie auf die Straße und in den Regen hinaus.
Conroy wartete noch eine Minute, tat, als würde er ihr nachschauen. Als sie nicht mehr zu sehen war, trat er ein paar Schritte vor. Eines der grell lackierten Citycabs scherte aus dem vorüberflutendem Verkehr, als er den Arm hob. Während sich Conroy in den Sitz fallen ließ, brachte der nepalesische Fahrer den Hover schon wieder auf Fahrt.
Conroy gab die Adresse eines Tanzpalastes in der Innenstadt an; eine von den vielen, die ihm der Rezeptionschef genannt hatte. Er würde noch zweimal das Beförderungsmittel wechseln, um seine Spur zu Skorrow etwas zu verwischen. Irgendwo in seinem Hinterkopf spukte noch immer das Fahrzeug herum, das ihnen vom Hoverport gefolgt war.
Rund eine halbe Stunde später hielt das dritte Taxi.
»Die Mahin Road, Sahib.«
Conroy stieg aus und zahlte. Als er einen Blick in die Runde warf, ging ihm auf, weshalb die Stimme des Fahrers abfällig und auch ein Spur ängstlich geklungen hatte, als er sich weigerte, ihn weiter zu befördern: Vor ihm lag ein Getto-Bezirk!
Syndikatsgebiet!
Conroy blieb noch einen Moment stehen, nachdem sich das Citycab entfernt hatte, und betrachtete das Geschehen auf der Straße.
Der Regen hatte aufgehört.
Um diese Zeit herrschte in diesem Teil Schrinagars kaum nennenswerter Verkehr, und er sah auch keine gepanzerten Polizeihover. Das beruhigte ihn, denn er wollte sich keine Kontrolle seiner Person leisten. Er wusste um die Zustände in derartigen Bezirken; die überforderten Beamten der städtischen Miliz fackelten nicht lange. Und immer wieder kam es vor, dass sie jemanden in eine Zelle sperrten, um ihn dort für eine ganze Weile einfach zu vergessen.
Auch der ständige Krieg rivalisierender Syndikatsleute, die sich in sporadisch auflodernden Gewaltausbrüchen gegenseitig umbrachten, schien für den Augenblick eine Atempause zu machen.
Conroy holte die Nachtsichtbrille von Matrox aus der Brusttasche und setzte sie auf. Die winzigen Dioden im oberen Rand wechselten von Grün auf Rot. Die Gläser passten sich den herrschenden Lichtbedingungen an; die Weitwinkellinsen wirkten wie Spiegel und erfassten alles, was hinter und seitlich von ihm vorging. Dann setzte er sich in Bewegung.
Nicht zu langsam, als wäre er auf etwas ganz Bestimmtes aus. Aber auch nicht so eilig, um den Argwohn der Syndikatsleute zu erregen, welche die eigentlichen Herren der Stadt waren. Laute Musik kam aus den vielen Bars, an denen er vorüberkam. Zwischen Ladenpassagen und Apartmenthochhäusern duckten sich halbzerstörte Gebäude, wenn auch die Verwahrlosung weit weniger ausgeprägt war als in den Außenbezirken der Slums. Reklamelichter summten und blitzten, und vor den Geschäften und Apartmenthäusern standen unübersehbar schwerbewaffnete Syndikatsleute, die den Schutz dieser Einrichtungen übernommen hatten.
Die Matrox-Brille verschafften ihm einen Blick nach hinten.
Niemand hatte sich an seine Fersen geheftet.
Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen.
Die Straße führte immer tiefer in den Slumbezirk.
Die wenigen funktionierende Laternen trugen in der feuchten Nachtluft Lichthöfe, die ihren gespenstischen Schein über Gebäude und Straße warfen. Ein Fakir hockte mit seinem Kobrakorb in einem Torbogen und schlief mit auf die Brust gesunkenem Kopf und weit offenem Mund.
Die Gehwege waren von Unrat übersät. Conroy versuchte, nicht zu tief zu atmen, als er durch verfaulte und stinkende Abfälle aus den billigen Garküchen watete; flappende Ventilatoren husteten den Mief ins Freie. Verwahrloste Gestalten lagen zusammengerollt unter Plastikplanen an den Mauern und in Eingängen.
Irgendwo jaulte ein Hund.
An den Häusern waren nur selten Nummern angebracht, aber der Fahrer hatte ihm zumindest gesagt, wonach er Ausschau halten sollte.
Er kam dem Ufer des Dschilam näher; vom Strom verbreitete sich ein Geruchsgemisch von toten Fischleibern und süßlichem Jasmin.
Kaum entzifferbar las er an einem Haus die Nummer: 243.
Er sah eine Reihe kleinerer, halbzerfallener Häuser – ein Obdachlosenasyl, ganz so, wie ihm der Hoverfahrer den Weg beschrieben hatte. Ein bemaltes Hartplastikstück unter einer verrußten Öllaterne besagte, dass der Preis pro Lager und Nacht 50 Paise, eine halbe Rupie betrug.
Seinen Berechnungen nach musste er jetzt fast am Ziel sein.
Etwas raschelte neben ihm – und mit einer nur Bruchteile von Sekunden scheinenden Bewegung erschien die MDK in seiner Hand. Der Strahl des Laserzielgebers zuckte durch die Dunkelheit, fiel auf ein altes Gesicht mit dunklen Augen und grauem, schmierigem Haar, das ihn verständnislos entgegenstarrte; der Alte kauerte im Eingang eines baufälligen Hauses unter einer Strohmatte, als hätte die Zeit ihn weggeworfen. Der rote Laserpunkt saß genau zwischen den Augen des zerlumpten Greises.
Conroy steckte die Waffe zurück.
Von diesem menschlichen Wrack drohte ihm keine Gefahr.
Zehn Minuten später mündete die Mahin Road in das alte Hafengelände. Auf der einen Seite duckten sich in der Dunkelheit Reihen von halbzerfallenen Lagerhallen und ehemaligen Raffinerieanlagen; die Außenbezirke der bizarren Kaianlage wirkten wie die Kulisse zu Dantes Inferno. Jenseits der Kais erstreckte sich die dunkle Wasserfläche des Dschilam, in der sich der nun wieder sternenübersäte Himmel spiegelte.
Die angegebene Nummer entpuppte sich als ein altes Lagerhaus.
Skorrow hatte ihm am Telefon gesagt, er würde ihn eine Stunde vor Mitternacht erwarten.
Während Conroy vor dem Haus wartete, berührte er die MDK. Ein Kribbeln im Nacken warnte ihn, dass er die Waffe in dieser Nacht vielleicht doch noch brauchen würde.
Er schaute auf die Uhr; bereits fünf Minuten nach elf.
Von dem Netzdealer war weit und breit nichts zu sehen; nirgends brannte Licht.
Das allein genügte schon, um ihn misstrauisch zu machen, und er dachte bereits daran, den unheimlichen Ort zu verlassen, als er in der Dunkelheit ein Geräusch hörte.
Er fuhr herum und sah, dass sich in der Wand des Lagerhauses hinter ihm eine kleine Tür geöffnet hatte, aus der ein Mann heraustrat. Er war klein, ziemlich korpulent und trug einen weißen Tropenanzug, der sich über seinen Bauch spannte.
»Skorrow?«, fragte Conroy und sah auf den Mann.
Der sagte nichts, sondern forderte ihn mit einer Bewegung seiner Linken auf einzutreten; seine Rechte, bemerkte Morton, steckte in der Jackentasche.
Ein zweiter Mann trat heraus. Groß und schwer. In einem langen, schwarzen, eng taillierten Mantel, der offenstand. Darunter trug er eine ebenfalls schwarze Montur. Sein Schädel war kahlgeschoren.
»Mr. Conroy?«, sagte er. »Mister Morton Conroy?«
Als er den Kopf bewegte, sah Conroy, dass seine Kopfhaut eine Tätowierung trug.
Conroy hatte Skorrow gegenüber keinen Decknamen benutzt; es lag kein Grund dafür vor. »Der bin ich«, sagte er. »Wer von Ihnen beiden ist denn nun Skorrow?«
»Sie sind gekommen, um sich mit Skorrow zu treffen.«
Der im Tropenanzug fragte nicht, er stellte fest.
Conroy nahm die Matrox-Brille ab und verstaute sie in der Brusttasche der Jacke.
Der Kahlgeschorene verfolgte jede seiner Bewegungen mit Argusaugen.
»Das stimmt«, sagte Conroy, den Dicken mit der Hand in der Tasche scharf beobachtend. »Wo ist er?« Er war sich nun sicher, dass keiner der beiden Skorrow war.
Der dicke Mann lächelte.
»Er ist hier, Mr. Conroy. Sie werden ihn sehen. Inzwischen wollen wir uns vorstellen, wie es unter zivilisierten Leuten üblich ist. Ich bin Jupiter Sorich.« Er sah Conroy scharf an, offensichtlich eine Reaktion erwartend. »Und dies ist mein Leibwächter Riha.«
»Wenn Skorrow hier ist«, sagte Conroy, die Vorstellung ignorierend, »wo steckt er?«
Sorich seinerseits ignorierte Conroys Frage. »Sie sind einer von Skorrows Helfershelfern, nicht wahr, Mr. Conroy? Sie wollen Barbo Skorrow helfen, das Syndikat zu betrügen, wollen ihm helfen, Schrinagar zu verlassen, ohne seine Verbindlichkeiten zu begleichen. Ist es nicht so?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erwiderte Conroy scharf. »Aber ich möchte Skorrow sehen, jetzt sofort.«
Sorichs Lächeln verschwand. »Gut, Mr. Conroy, sagte er grimmig. »Sie sollen ihn sehen.«
Er schnippte mit den Fingern, und zwei weitere Kahlgeschorene erschienen in der Türöffnung, die sich hell gegen die Dunkelheit abzeichnete. Es waren große, kräftige Burschen in den gleichen engtaillierten schwarzen Mänteln. Sie schleppten etwas zwischen sich. Den schlaffen Körper eines Mannes. Sie trugen ihn bis auf wenige Schritte heran und ließen ihn dann einfach fallen.
»Barbo Skorrow«, sagte Sorich, Genugtuung in der glatten Stimme.
Conroy verzog keine Miene, als er auf die Leiche zu seinen Füßen blickte. Er hatte schon zu viele Tote gesehen in seinem Leben, um noch bestürzt über den Anblick von Leichen zu sein.
Skorrow war mit einem Messer getötet worden.
Oder einem anderen scharfen Instrument.
Und es war langsam geschehen.
Der Körper war übel zugerichtet und verstümmelt.
Skorrow war gefoltert worden.
Jetzt sagte Sorich: »Barbo hat erlebt, was jenen geschieht, die Jupiter Sorich betrügen wollen. – Und jetzt, Mr. Conroy, werden Sie es auch erleben.« Er gab den beiden großen Kerlen, die Skorrow Conroy vor die Füße geworfen hatten, ein Zeichen.
Sie hatten plötzlich Messer in den Händen. Lange, geschweifte Klingen. Katars, wie sie die Sikhs trugen.
Conroys Wangenmuskeln spannten sich.
Sein Magen hob sich vor Erregung.
Ein wildes Licht glomm in seinen Augen.
Er stand reglos mit verschränkten Armen da, während sich die beiden auf ihn zubewegten. Einer von ihnen war etwas größer und massiger als der andere, aber auch langsamer. Trotzdem griff er zuerst an. Conroy ahnte, dass sie ihn nicht gleich töten wollten. Langsam wollten sie ihn sterben lassen – so wie Barbo Skorrow.
Der erste stürzte vor, sein Mantel umflatterte ihn wie die Schwingen einer Fledermaus, und er schwang seinen Katar gegen Conroys Bauch. Gedankenschnell glitt Morton einen Schritt zurück. Die Klinge fuhr ins Leere. Er hätte nach der Ooni greifen können, unterließ es jedoch. Bis jetzt war es nur ein Geplänkel, das er jederzeit beenden konnte. Seine Gegner wussten nicht, mit wem sie sich anlegten. Der große Kerl stach schon wieder nach ihm, sein ganzes Gewicht in den Stoß legend.
Conroy war versucht, zu lachen, so durchsichtig war der Angriff. Er trat zur Seite und versetzte ihm einen kurzen harten Handkantenschlag ins Genick, als er an ihm vorbeischoss.
Der Kerl knurrte, wirbelte herum und stürzte sich von neuem mit wütendem Keuchen auf Conroy. Der zweite Angreifer hatte bis jetzt nur wenige Schritte entfernt gelauert. Nun sprang er Conroy plötzlich von rechts an; die Dolchspitze zielte von unten gegen dessen Rippen. Morton wandte sich ihm zu, packte das Handgelenk mit dem Dolch, ließ sich auf ein Knie fallen und zog den Arm nach unten und hinten. Der Schwung, der den Angreifer vorwärts trug, wurde dadurch abwärts gelenkt. Er landete, hart auf dem Boden aufschlagend, dicht vor seinem Kollegen.
Der duckte sich und stürmte, den Dolch vor sich haltend, gegen Conroy an. Er hörte Sorich rufen: »Mach ihn fertig!«, und dann war die Klinge auch schon vor seinem Bauch. Mit einem peitschenden Handkantenschlag traf er den ausgestreckten Messerarm, drehte gleichzeitig ab und hörte Knochen krachen. Der Kerl schrie auf, der Dolch schlitterte über das Pflaster, und als er, von seinem eigenen Schwung getragen, an Morton vorbei stolperte, schlug ihm dieser mit aller Kraft in das muskulöse Genick und spürte, wie die Wirbelsäule unter seiner Handkante nachgab. Der Kopf des Mannes kippte nach hinten und dann nach vorn. Schließlich fiel er aufs Gesicht und blieb bewegungslos liegen.
»Bring den Kerl um, Riha! Töte ihn sofort!«, schrie Jupiter Sorich jetzt.
Und Conroy starrte geradewegs in den Lauf einer abgesägten Schrotflinte, die Riha unter seinem Mantel hergeholt und auf ihn gerichtet hatte. Eine antiquierte Waffe, aber von verheerender Wirkung, wenn man damit getroffen wurde. Sie riss faustgroße Löcher in einen Körper.
Der Schuss löste sich mit einer unterarmlangen Mündungsflamme. Nur traf er nicht Conroy, der sich gedankenschnell zur Seite warf, sondern fast den ersten Messerhelden, der sich gerade wieder aufgerappelt hatte und Conroy angriff. Morton packte ihn beim Arm, riss ihn herum, und sie gingen beide zu Boden. Sie fielen dicht neben der Leiche Skorrows auf das Pflaster, rollten, sich umklammernd, über die Leiche und rollten weiter, während Riha um sie herumtanzte in dem Bemühen, einen Schuss anzubringen, besorgt, er könne erneut den falschen Mann treffen.
»Schieß doch endlich!«, schrie Sorich ihn an.
Conroy musste schnell handeln. Sein Gegner war jetzt über ihm. Er zog ein Knie an, rammte es ihm in die Lenden. Der Mann schrie auf, fiel zur Seite, und Conroy schmetterte ihm noch die Faust gegen die Kinnlade, während er fiel. Riha hatte aufgehört zu tanzen und zielte auf seinen Kopf.
Plötzlich spürte Morton das Messer des Mannes, den er als ersten getötet hatte, unter seinen Fingern; er schloss sie um den Griff. Der zweite Angreifer hatte sich wieder aufgerappelt und stürzte sich erneut auf ihn. Conroy schleuderte ihm die Waffe entgegen. Die Klinge drehte sich einmal um sich selbst und grub sich in die Kehle des Angreifers. Als die Klinge seine Hand verließ, rollte sich Morton rasch zur Seite. Der Kugelschauer aus der Schrotflinte schlug funkensprühend an der Stelle ein, wo sein Kopf sich Sekundenbruchteile vorher noch befunden hatte.
Conroy rollte ein zweites Mal weg, als Riha erneut schoss. Dann schnellte er auf die Beine, griff nach der MDK im Gürtel. Der erste Schuss traf Riha in die Brust, schleuderte ihn gegen die Mauer der Lagerhalle hinter ihm. Seine Flinte flog in weitem Bogen in die Dunkelheit.
Conroy fuhr herum und sah, dass Sorich sich entschlossen hatte, Fersengeld zu geben. Keuchend und überraschend beweglich für einen so fetten Mann rannte er in Richtung Fluss.
Conroy wollte ihn nicht erschießen; er wollte herauskriegen, was er über Barbo Skorrow wusste. Und so schoss er ihm ins linke Bein. Dummerweise war der Dicke in seinem nun gar nicht mehr so weißen Tropenanzug schon zu nahe an den Rand der Kaimauer geraten. Obwohl er sofort schreiend einknickte, trug ihn der Schwung über den Mauerrand hinaus und hinunter ins Wasser des Dschilam-Flusses. Conroy hörte ihn klatschend aufschlagen – und konnte nur noch tatenlos zusehen, was sich vor seinen Augen abspielte.
Die Strömung packte Sorich, drückte ihn unter die Oberfläche. Er kam prustend und japsend hoch. Seine Arme schlugen wild um sich. Es war eindeutig: Der Dicke konnte nicht schwimmen. Sein Kopf geriet noch ein paar Mal unter Wasser. Dann versank er, ohne wieder aufzutauchen.
Conroy stieß pfeifend den Atem aus, wartete ein paar Sekunden. Dann ging er zum Lagerhaus zurück. Die beiden Messerschwinger waren tot, unwiderruflich. Riha jedoch nicht. Er hörte ihn stöhnen. Mit der gebotenen Vorsicht, die MDK in der Hand, näherte er sich Sorichs Leibwächter, der halb an die Mauer gelehnt lag. Als er sah, in welcher Verfassung der Mann war, steckte er die Waffe zurück in das Holster und hockte sich neben ihm nieder. Der Killer starrte ihn mit glasigen Augen an; ein dünner Blutfaden lief ihm übers Kinn.
»Okay. Ganz ruhig. Du weißt hoffentlich, das hättest du einfacher haben können. – In welchem Verhältnis stand Skorrow zu dir, zu Sorich, zum Syndikat?«, fragte Conroy scharf; es war kein Mitleid in seiner Stimme. »Wenn du nicht willst, dass ich dich hier verrecken lasse, Mann, dann rede.«
Riha war bereits tot, er wusste es nur noch nicht. Er stöhnte. Rollte vor Schmerz den Kopf von einer Seite zur anderen. »Skorrow«, flüsterte er stockend und von Pausen unterbrochen, »hat sich in das Syndikatsnetz eingehackt und... und ist mit den... den Informationen hausieren gegangen. Er hat... hat ein paar Konten geplündert und... und wollte sich absetzen. Jemand sollte ihn... nach Managua bringen... in einem Privathover. Sorich glaubte, Sie seien... dieser Mann.« Er hustete. Blut stürzte aus seinem Mund, es schien zu Ende zu gehen. Conroy stützte seinen Kopf mit der Hand. »Und was ist mit den Informationen, die Skorrow für die Regierung der FSA hatte?«, fragte er. »Hat Sorich auch damit zu tun?«
Rihas brechender Blick suchte den seinen. »FSA-Regierung?«
Conroy sah keinen Grund, länger vorsichtig zu sein. »Ja. Die Informationen über Basis Alpha? «
»Welche Basis? Ich... ich weiß nichts... nichts davon«, murmelte Riha unter großen Anstrengungen. »Auch Sorich nicht.«
Plötzlich bäumte er sich kurz auf und sank zusammen. Er war tot.
Conroy ließ seinen Kopf sinken und blieb einen Moment lang neben ihm auf den Knien, ehe er sich erhob. Er konnte es nicht so recht glauben. Durch Zufall war er in eines von Skorrows dunklen Geschäften verwickelt worden, wäre dabei beinahe draufgegangen – und wusste noch immer nicht, was der Netzdealer ihm beziehungsweise der FSA eigentlich hatte verkaufen wollen. Es konnte natürlich möglich sein, dass Sorich etwas gewusst und seinen Leuten nichts davon gesagt hatte. Aber das war jetzt gleichgültig; Skorrow und Sorich waren stumm für immer. Er konnte sie nicht mehr fragen.
Conroy sah auf seine Uhr. Der Kampf hatte nicht mehr als fünf Minuten gedauert.
Sein Blick fiel auf die Tür in der Wand, die halb offenstand. Licht fiel heraus. Er stieß die Tür mit dem Fuß weiter auf und trat hindurch. Es war ein kleiner Raum, schwach erhellt von einer nackten Leuchtstoffröhre, die schief von der Decke herabhing. Ein Büro, das auch schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Der Geruch nach Knoblauch und Zwiebeln schwängerte die Luft. Überall lag Staub. Auf den Möbeln, den Büromaschinen. Ein paar Drucker standen auf einem Bord, auf einem Arbeitstisch die cremefarbenen Rundungen eines erstaunlich teuren Computers. Daneben vier Terminals. Dazwischen ringelten sich Lichtleitfasern, die, zu einem dicken Aderngeflecht zusammengefasst, aus einer Dose in der Wand kamen. Ein Haufen leerer Essensbehälter aus einer japanischen Garküche war einfach auf den Boden geworfen worden. Skorrow schien nicht viel von Sauberkeit gehalten zu haben. Aber genauso konnte das dazu gedient haben, seine Tarnung aufrechtzuerhalten.
Auf einer lackierten Kunststoffplatte, die auf zwei Metallböcken lag, sah Conroy neben dem Bildtelefon den grau lackierten Kasten eines elektronischen Gesprächsaufzeichners. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.
Er berührte die Sensortaste. In einem Displayfeld erschien die Schrift AUFNAHMEBEREIT. Die falsche Taste! Gleich darauf hatte er die Aufzeichnung auf den Anfang gesetzt – und er hörte seine eigene Stimme. Er löschte die Aufzeichnung. Um jeden Hinweis darauf zu vertuschen, zerschoss er das Gerät. Einfach nur Löschen brachte nichts; jeder einigermaßen versierte Teenager konnte heutzutage gelöschte Daten wiederherstellen.
Ein letzter Blick, dann verschwand er nach draußen.
Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber ein Gefühl riet ihm, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.
Ob die Schüsse aus der Schrotflinte in dieser verlassenen Hafengegend Aufmerksamkeit erregt hatten, konnte er nicht abschätzen. War gut möglich, dass die Polizei schon im Anmarsch war. Sie würde sehr unangenehme Fragen an ihn richten, falls sie ihn dann noch vorfand.
Wie sollte er die vier Toten erklären?
Es schien höchste Zeit für seinen Abgang zu sein.
Er verschwand keinen Augenblick zu früh.
Conroy grinste etwas mühsam.
Jemand schien es sehr eilig gehabt zu haben, die örtlichen Behörden zu alarmieren, denn kaum war er in der Dunkelheit zwischen den zerfallenden Lagerhallen verschwunden, fegten auch schon schwere Polizeihover mit gellenden Sirenen und pulsierender Warnbeleuchtung heran. Die Lichtbahnen ihrer Suchscheinwerfer warfen große Kreise auf den Boden und rissen das Hafenviertel mit frostigem Xenonglanz aus seiner Anonymität. Aus dem nächtlichen Himmel über dem grellen Licht senkten sich die käferartigen Hover der Metropolizei herab.
Eine Szene wie aus einem zweitklassigen Actionfilm.
Der Beobachter, der zweihundert Schritte entfernt in einer Toreinfahrt seit einer halben Stunde die Geschehnisse verfolgt hatte, wartete noch ein paar Sekunden. Dann entfernte er sich unentdeckt mit schnellen, gleitenden Schritten in entgegengesetzter Richtung.
Mittlerweile war die erste Stunde des neuen Tages angebrochen.
Morton Conroy ließ sich, am Ende der Mahin Road angekommen, mit einem Citycab durch Schrinagar kutschieren. In der Innenstadt stieg er aus, zahlte und verschwand in der quirlenden Menge. In den Waschräumen säuberte er seine Kleidung von den Kampfspuren und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Am Tresen eines Expressdienstes ließ er sich eine Bantobox geben. Er verstaute die Ooni MDK darin und gab das handliche Päckchen am durchgehend geöffneten Nachtschalter des Schrinagar Royal Postal Office auf, adressiert an Rimtec. Er verfolgte einen ganz bestimmten Plan. Dazu musste er jedoch Nomi McIrnerny mit einbeziehen, sollte er gelingen; er konnte nur hoffen, dass sie mitspielen würde bei dem, was er vorhatte.
Er verließ das Postgebäude.
Als er eine der transparenten Säulen der öffentlichen Telefonvermittlung sah, ging er hinein. Er kramte in seinen Taschen, bis er die durchsichtige Rimtec-Visitenkarte mit Nomis Telefonanschluss fand. Überlegend drehte er sie zwischen den Fingern, dann schob er sie in den Schlitz unter dem Bildschirm.
Er wartete geduldig, bis Nomis Gesicht erschien. Sie blinzelte und blickte verschlafen, aber sie brachte ein Lächeln zustande, als sie sah, wer sie aus dem Schlaf gerissen hatte.
»Ja? Ach, Morton. Hallo.«
»Ich brauche Deine Hilfe.«
»Du? Ich begreife nicht...?«
»Wir würden Zeit sparen, Nomi, wenn du mich einfach reden ließest.«
Sie wurde sehr schnell wach, stellte er fest.
Sie sagte: »Worauf wartest du? Rede schon!«