Читать книгу Sechs utopische Thriller - Conrad Shepherd - Страница 30
11. Kapitel
ОглавлениеZögernd tastete sich sein Bewusstsein aus dem schmerzerfüllten Dunkel herauf ans Licht. Mühsam schlug er die Augen auf.
Er fror erbärmlich, obgleich ein dickes Schaffell über ihn ausgebreitet lag. Sein Kopf platzte fast. Ihm war speiübel. Seine Zähne klapperten. Sein Gesicht war schweißnass. Undeutlich registrierte er, dass jemand mit einem Becher neben ihm kniete. Er spürte, wie ihm die Tasse an die Lippen gesetzt wurde; gierig trank er das schrecklich schmeckende Gebräu, das ihm der Unbekannte einflößte.
Er wollte sich aufsetzen, doch eine dunkle Hand drückte ihn nieder. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte eine Stimme auf Englisch, die ihn entfernt an jemanden erinnerte, den er kennen sollte. »Es ist nur die Bergkrankheit, die Sie erwischt hat, mehr nicht. Schlucken Sie diese Pille, sie wird Ihnen helfen...«
Eine Hand steckte ihm die Pille in den Mund und ließ ihn noch einmal trinken, um sie hinunterzuspülen.
»W-Was ist mir?«, murmelte er mit geschlossenen Augen. Was immer die Pille enthalten mochte, das Zeug half jedenfalls Die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen, und eine wohlige Wärme breitete sich in seinem Körper aus.
»... es ist nur die Höhenkrankheit. Versuchen Sie zu schlafen. Morgen früh geht es Ihnen schon wieder viel besser...«
Die letzten Worte bekam Conroy schon gar nicht mehr mit; er war eingeschlafen.
Als er das nächste Mal erwachte, lag er auf einem Bett in der Ecke eines fensterlosen Raumes. Von der Mitte der niedrigen Decke hing eine Butterlampe. In ihrem flackernden, unsteten Lichtschein starrten ihn Götter- und Dämonenfratzen von den Wänden herab an. Entsetzt schloss die Augen. Erst jetzt hörte er die leise, monotone Stimme. Er öffnete die Augen wieder und sah einen Mönch in einem gelben Seidengewand und mit tibetanischer Spitzmütze in der Ecke sitzen. Die Kugeln des Gebetskranzes glitten ihm durch die knotigen Finger. Die Fratzen der Dämonen und Götter, die Conroy so erschreckt hatten, blickten ihn von einer uralten Seidentapete herab an.
Jetzt unterbrach der Mönch sein Gebet, erhob sich und kam auf ihn zu. Er war unglaublich alt. Die Pergamenthaut seines gelben Gesichtes war von tausend Falten und Runzeln durchzogen. Weise, unergründliche Augen sahen Conroy an. Dann glitt ein leises Lächeln über das Greisengesicht, er wandte sich ab, schob den Wandteppich am Fußende des Lagers beiseite und ging durch einen niedrigen Torbogen hinaus.
Conroy fühlte sich ausgeruht. Auch seine Kopfschmerzen waren weg.
Er warf die grob gewebten Schafwolldecken, mit denen er zugedeckt war, beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Im selben Augenblick öffnete sich der Wandteppich wieder und Tsamcho trat ein. Der Dolpo-Pa trug das selbe Gewand und die Schuba, die er auch beim Herflug getragen hatte. Er lächelte.
»Wie geht es Ihnen, Doktor – oder soll ich Oberleutnant Morton Conroy sagen?«
Conroy grinste matt. »Sie wissen...?«
»Ja«, bestätigte Tsamcho. »Schon länger. Nachdem ich die Aufregung mitbekam, die Mr. Devlin an den Tag legte, als ich ihm die Nachricht Professor Auborns an diesen Professor Coulson übergab, wurde mir bald klar, dass bald jemand kommen würde, um sich in diesem Laborkomplex umzusehen, der allgemein als Basis Alpha bekannt ist – auch bei uns aufgeklärten Tibetanern. Die Eile, mit der Sie den Flug zum Kloster Lhakpa betrieben, machte klar, dass nur Sie derjenige sein konnten, der in das Hochtal eindringen wollte. Außerdem«, und jetzt lächelte er entschuldigend, »habe ich Mr. Poul Devlin belauscht – ungewollt – wie er einige Gespräche mit New Washington führte. Deshalb meine Kenntnisse über Ihren militärischen Rang. Aber – Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wie es Ihnen geht.«
»Den Umständen entsprechend gut«, antwortete Conroy. »Ich habe nicht mal mehr Kopfschmerzen, obwohl der Schlag nicht von schlechten Eltern gewesen sein muss, der mich ins Land der Träume schickte.«
»Wir haben Sie so gut es ging verarztet; auch gegen Ihre Höhenkrankheit haben wir etwas unternommen.«
»Der Trick mit der Prozession draußen vor dem Kloster war nicht schlecht, Tsamcho.«
Der Dolpo-Pa zuckte die Schultern. »Sie hatten das Maschinengewehr, diese Gatlingkanone, deshalb mussten wir uns etwas einfallen lassen. Ich bin froh, dass alles glatt gegangen ist, dass niemand von meinen Leuten getötet wurde.«
»Wie haben Sie eigentlich so rasch das Kloster erreicht?«
»Ich bin die ganze Nacht durch gelaufen, um rechtzeitig hierherzukommen. Ich wusste ja, dass man Sie nach Tschangu zu diesem Schlächter Xiang bringen würde. Da mussten sie hier vorbeikommen.«
Conroy nagte an der Innenseite seiner Unterlippe. »Sie sind alle tot, nicht wahr? Auch der Russe?«
Tsamcho nickte. »Natürlich. Ob Söldner oder Russe. Für mein Volk sind sie Kollaborateure, unterscheiden sich in nichts von den Chinesen. Für uns waren sie Feinde. Schließlich haben wir Krieg. So ist das nun mal. Ich hätte aber die Männer auch nicht mehr aufhalten können. Es war schon schwierig genug, Ihnen das Leben zu retten.«
»Vielen Dank dafür«, sagte Conroy matt.
»Sie brauchen mir nicht zu danken. Ich habe nur eine Schuld zurückgezahlt. Wissen Sie noch? Draußen am See hat nur Ihr rasches Handeln mein Leben gerettet.«
»Sie haben die Waffen und meine Ausrüstung gefunden, nehme ich an? Sie waren auf der Ladefläche des Fahrzeugs.«
»Ja. Meine Leute nehmen sie gerade auseinander. Kommen Sie doch mit. Drüben haben wir ein Feuer und heißen Tee. Es ist zwar nur tibetanischer Tee, aber ich fürchte, Sie müssen sich noch eine Weile damit begnügen.«
»Überhaupt kein Problem«, wehrte Conroy ab. »Ich war schon mal in Ihrem Land, müssen Sie wissen, als ich auf den Uranfeldern von Rungmar Thok gegen die Chikoms gekämpft habe. Ich schätze Ihren Tee.«
Tsamcho schob den Wandteppich an der Tür beiseite.
Sie traten in einen viel größeren Raum mit hoher Decke und winzigen, schießschartenähnlichen Fenstern, die sehr hoch angebracht waren.
Die modernen Schnellfeuerwaffen lagen auf einem großen Holztisch. Fünf kurzbeinige Tibetaner waren mit viel Eifer und Sachkenntnis dabei, sie zu reinigen und zusammenzusetzen.
»Sie scheinen etwas davon zu verstehen«, bemerkte Conroy zu Tsamcho, »Ihre Leute.«
Der Dolpo-Pa nickte. »Es sind qualifizierte Waffentechniker.«
Auf dem großen, steinernen Feuerplatz brannte getrockneter Jakdung mit heller Flamme. Conroy sah zu, wie Tsamcho eine Handvoll zerbröselten Ziegeltee in ein Gefäß mit kochendem Wasser gab und anschließend Butter und eine Prise Salz hinzufügte.
»Wo haben Sie eigentlich meine Ausrüstung hingetan?«, fragte er, während ihm Tsamcho den fertigen Tee reichte. Er leerte den Becher bis zum letzten Tropfen.
»Dort nach hinten!« Der tibetanische Adlige deutete in die entfernte Ecke des langen Raumes. »Wozu brauchen Sie übrigens den Flugdrachen?«
Conroy ließ sich den Becher noch einmal füllen und erkundigte sich, ohne auf Tsamchos Frage zu antworten: »Wie weit ist es von hier zum Thok Po?«
»Etwas mehr als zweihundert Kilometer. Mit dem Pferd ist man in drei Tagen dort, wenn man sich beeilt.«
»Und mit dem Buggy?«
»Ausgeschlossen«, sagte Tsamcho mit Nachdruck. »Dort sind große Einheiten stationiert, die ständig Manöver abhalten. Seit einigen Tagen werden diese Truppen noch verstärkt, wie mir meine Späher berichteten. Rings um den Passeingang errichtet man ausgedehnte Stellungen. Wir kämen jetzt nicht mal in die Nähe des Passes, ohne nicht sofort verhaftet zu werden. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Die chinesische Armee lässt nicht mal eine Maus durch den Pass.«
»Und wenn ich drüberfliege?«
Tsamcho zog verwirrt die Stirn in Falten. Die Hartnäckigkeit Conroys irritierte ihn.
»Wie wollen Sie das anstellen?«
»Mit dem Drachen. Er ist lautlos, unsichtbar in der Nacht. Von keinem Radar zu erfassen. Ich brauche nur einen entsprechend hohen Startplatz, um in das Tal einfliegen zu können.«
»Sie sind verrückt!«
»Nicht mehr als jeder andere. – Na ja, vielleicht doch ein kleines bisschen mehr. Aber nicht viel«, gestand Conroy grinsend.
Langsam nickte Tsamcho, dann lächelte er, und seine Augen blitzen auf einmal.
»Sie wollen das wirklich durchziehen, nicht wahr? Na gut, ich bin dabei. Ich kenne da einen Berg. Wir müssten allerdings einen ziemlichen Umweg machen, um weit im Rücken der Armee den Aufstieg zu wagen.«
»Dann brechen wir am besten gleich auf«, versetzte Conroy.
Wieder schüttelte der Dolpo-Pa den Kopf.
»Sie sind wirklich ein verrückter Kerl, Conroy«, bekannte er.
*
Tsamcho hatte mit seinen Unterführern noch einiges zu bereden. Conroy ging hinaus ins Freie. Er blieb auf dem oberen Ende einer langen Steintreppe stehen und schaute in den Klosterhof hinunter.
Er war leer bis auf ein paar Mönche, die mit dem Rücken zur Mauer nebeneinander saßen und beteten. Das monotone Murmeln drang bis zu ihm herauf.
Es war kaum vorstellbar, dass er noch vor weniger als zwei Wochen auf dem Mond im Straflager gesessen hatte und erst vor zwei Tagen nach Schrinagar gekommen war. Und schon war er wieder mitten drin in einem Geschehen, das ihn jederzeit das Leben kosten konnte.
Er hob den Kopf und blickte in die Richtung, in der der Thok Pa-Pass lag.
Das Tor zur Hölle, wie sich Tsamcho geäußert hatte.
Ob sich dort sein Schicksal erfüllte? Conroy schauderte unwillkürlich.
Vor über fünftausend Jahren hatte ein biblischer Prophet es viel vollkommener ausgedrückt, als er es konnte:
»Der Zeit und dem Schicksal sind alle Menschen unterworfen!«
Er setzte sich auf die oberste Treppenstufe, zündete sich eine Zigarette an und sah sich merkwürdigerweise damit beschäftigt, über Boris Andrej Chakatow nachzudenken, der so unerwartet wieder in seinem Leben aufgetaucht war, nur um gleich darauf den Tod zu erleiden. An einem Ort, wo er ihn zuallerletzt erwartet hätte. Und auf eine Weise, für die eigentlich er und seine Leute berüchtigt und gefürchtet waren.
Nannte man so etwas nicht Ironie des Schicksals?
Conroy war versucht zu lachen, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. Es war schon ein sehr ernüchternder Gedanke, dass er dem eigenen Tod nur durch einen Zufall entgangen war.
Plötzlich schmeckte ihm die Zigarette nicht mehr. Er warf den Rest weg und stand auf, als ihm ein Gedanke kam. Hatte Chakatow ihm gegenüber nicht erwähnt, er sei hinter der gleichen Sache her? Auf Grund welcher Informationen?
»Sie haben nicht zufällig so etwas Ähnliches wie die persönlichen Habseligkeiten Chakatows?«, fragte Conroy, als er zu Tsamcho zurückkehrte.
Der Tibetaner deutete auf einen Tisch in der Ecke. »Einer meiner Männer hat dem Toten die Taschen geleert. Dort liegen die Sachen.«
Conroy trat an den Tisch. Nicht viel, was von einem Menschen übrigbleibt, dachte er, als er die wenigen Stücke betrachtete. Ein Hand-Kom mit integriertem Holoprojektor, eine angebrochene Packung Zigaretten – Jehejuan Filter und keine Papyrossi! – und eine altmodische Brieftasche. Er nahm die Dinge an sich und setzte sich damit auf die durch jahrzehntelangem Gebrauch polierte Holzbank. Die Brieftasche enthielt ein paar Banknoten sowie eine Kodekarte für ein Hotel in Tschiba. Nichts Privates, wofür Conroy irgendwie dankbar war. Trotzdem war er enttäuscht, dass sich seine Vermutung als Fehlschlag herausstellte. Er wollte die Brieftasche schon wieder aus der Hand legen, als er etwas Hartes in einer Ecke spürte. Nach kurzem Kramen brachte er eine runde Scheibe in einem transparenten Etui zum Vorschein.
»He, was haben wir denn da?«, murmelte er.
Er hielt einen Holo-Datenträger in Münzengröße in der Hand.
Conroy starrte ihn an. Sekundenlang – dann aktivierte er kurz entschlossen Chakatows Hand-Kom und schob die Minidisc in den Eingabeschlitz. Ein fünfzig mal fünfzig Zentimeter großes Holo entfaltete sich über dem Abstrahlpunkt.
Das Innere eines Labors wurde sichtbar. Männer und Frauen liefen hektisch durchs Bild. Unverständliche Gesprächsfetzen waren zu vernehmen. Dann kam die fast flüsternde, abgehackte Stimme eines unsichtbaren Sprechers, der auf Russisch sagte: »... habe noch immer keine Gelegenheit gefunden, Professor Atabek zu kontakten... wird zu sehr abgeschirmt... bin auch nicht berechtigt, in den inneren Bereich zu gelangen... verdammt schwierig alles... noch keinen Hinweis auf den Bau einer Endzeitwaffe gefunden... bisher...« Die Worte wurden unverständlich, die Aufzeichnung brach ab, das kleine Holofenster zeigte nur Moiré. Aber da es sich nicht vollständig abschaltete, wartete Conroy. Seine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt.
Erneut stabilisierte sich die Aufzeichnung; der Blickwinkel war der gleiche, nur die Umgebung schien gewechselt zu haben – und die Zeit. Vermutlich eine spätere Aufnahme, dachte Conroy und konzentrierte sich auf das, was die halblaute Stimme des Unsichtbaren, die jetzt wieder erklang, zu sagen hatte.
»... bin durch die Erschütterungen aufgewacht. Weiß nicht, was sich zugetragen hat, aber es muss etwas Schreckliches passiert sein. Die ganze 13. Ebene ist abgeriegelt...« Der Träger der Minikamera bewegte sich durch schwach beleuchtete Korridore, lief über Treppen, dann eine Rampe empor. Seine Stimme wurde wieder vernehmlicher: »... eine Quarantänestation in den oberen Ebenen eingerichtet... konnte einige Wissenschaftler belauschen, ehe sie mich entdeckten... sprachen von Schwarzschild-Radius, Entropie, Einstein-Rosen-Brücke und Kerr-Tunnel... keine Ahnung, was gemeint ist. Sollen sich unsere Wissenschaftler im Institut damit befassen... ich muss jetzt nach oben, damit ich die Übermittlung starten kann...«
Die Aufzeichnung war zu Ende; das Holo wurde leer, und der Projektor zog das kleine Fenster wieder ein.
Conroy starrte einen Moment ins Leere, dann blickte er wie erwachend auf Tsamcho und fragte: »Ihre Leute, haben die in letzter Zeit ungewöhnliche Ereignisse am Thok Po-Pass bemerkt?«
Der Dolpo-Pa betrachtete ihn mit leichtem Stirnrunzeln. »Außer den verstärkten Manövern?«
Conroy nickte.
»Nicht am Pass, aber einer meiner Leute kam letzte Nacht aus Tschangu zurück und berichtete, dass auf einem von Energiezäunen abgesperrten Areal der dortigen Garnison eine Art Feldlazarett errichtet worden sei.«
Das würde passen, dachte Conroy und sah einige seine Befürchtungen bestätigt. In der Station schien einiges außer Kontrolle geraten zu sein. Die Sache nahm ungeahnte Dimensionen an, denn im Gegensatz zum Spion des Eurasischen Commonwealth glaubte er zu wissen, was sich in Basis Alpha ereignet hatte. Offenbar hatte sich bei den Experimenten Professor Auborns in der Station ein Schwarzes Loch geöffnet. Conroy fror unwillkürlich, als er sich der Konsequenzen bewusst wurde, die ein derartiges Ereignis für die Basis, möglicherweise sogar für die ganze Menschheit bedeutete.
Seine Befürchtungen hatten sich um kein Jota verringert, als sie nur wenig später durch das Haupttor rollten und ihre Reise antraten.
Tsamcho schlug einen Bogen um die Klostermauern und jagte in voller Fahrt aus dem flachen Tal hinaus. Er folgte zwei Stunden lang einem gewundenen Karawanenweg, dessen Spuren für Conroy kaum zu erkennen waren. Der adelige Dolpo-Pa am Steuer des Buggys, auf dessen Ladefläche Mortons Ausrüstung und das umfangreiche Bündel des zerlegten Drachens unter Jakfellen verborgen lag, schien keine Schwierigkeiten damit zu haben. Es war eine raue, einförmige Landschaft, durch die sie sich bewegten. Sie erstreckte sich in großen Wellen bis an den Horizont, gelegentlich unterbrochen von unordentlich aufgeschichteten Steinhaufen und hochragenden, weiß gekalkten Pfosten, an denen bunte Gebetsfahnen laut im harten Wind knatterten. An diesem Fleck der Erde schien die Zeit stillzustehen. Conroy hatte das Gefühl, durch einen unerklärlichen Vorgang um mehr als hundert Jahren in die Vergangenheit zurückgekehrt zu sein.
Wiederholt kamen sie an kleinen Herden bei; ein andermal mussten sie einer langen Karawane schwerbeladener Jaks und Mulis ausweichen.
Conroy wandte sich an den Tibetaner. »Wie weit werden wir heute kommen?«
Der Dolpo-Pa durchfuhr eine flache Furt, ehe er mit einem raschen Seitenblick antwortete: »Bis zu einem Dorf am Fuß des Berges. Dort werden wir die Nacht verbringen und am nächsten Tag aufsteigen.«
»Dieser Berg, zu dem Sie mich bringen, wie hoch liegt er?«, fragte Conroy.
»Sechstausend Meter«, erklärte Tsamcho ungerührt, »und er ist die meiste Zeit des Jahres unbesteigbar.«
»Ja, aber...?«
»Wir müssen ja nicht zum Gipfel«, versicherte ihm der Dolpo-Pa.
»Das beruhigt mich dann schon...« murmelte Conroy und suchte sich eine bequemere Sitzposition in dem harten Schalensitz; seine Stirn war leicht gefurcht.
Kilometer um Kilometer rollte der Buggy mit relativ hoher Geschwindigkeit über den unbefestigten Weg.
Rund drei Stunden nach ihrem Aufbruch von Lhapka hielt Tsamcho neben einem kleinen Tümpel aus Schmelzwasser am Fuß hoher Felsen. Dahinter senkte sich der Weg in ein Tal.
»Gefahr?«, erkundigte sich Conroy, während ihm die plötzliche Stille in den Ohren dröhnte.
Tsamcho war auf den Sitz gestiegen und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Überrollbügel mit seinem jetzt leeren Drehkranz; Tsamchos Leute hatten die Maschinenkanone abgebaut, um sie einem anderen Verwendungszweck zuzuführen. Wortlos starrte er durch das wuchtige Sichtgerät, das nicht nur als Fernglas fungierte. Es war gleichzeitig auch ein starkes Aufzeichnungsgerät; ein Nano-Chip speicherte alle Bildinformationen, die bei Bedarf nachträglich jederzeit über den kleinen Schirm abgerufen werden konnten.
»Stört Sie etwas?«, bohrte Conroy weiter.
Der Dolpo-Pa setzte das Glas ab und schüttelte langsam den Kopf.
»Nein. Hab' mich getäuscht. Ich dachte zuerst, eine Jägerpatrouille sei unterwegs.«
Der SY.N.D.I.C.-Agent streckte die verkrampften Beine aus und horchte, wie der Wind durch das trockene Gras fuhr. Ein Vogel stieg mit heißerem Schrei auf und schraubte sich in den Äther. Conroy kniff die Augen zusammen und blickte ihm nach, wie er in die unendliche Weite des Himmels eintauchte und verschwand. Dann trug der Wind die Schreie von Jaks an sein Ohr, die kehligen Rufe von Hirten; er empfand plötzlich eine seltsame, unerklärliche Stimmung...
»Commander!«
»Hm?«, sagte Conroy und sah auf Tsamcho.
»Tut mir leid«, sagte der Dolpo-Pa und machte den Eindruck, als täte es ihm alles andere als leid, »aber wir sollten weiterfahren.«
»Von mir aus«, sagte der Agent einsilbig und richtete seine Gedanken wieder auf das, was in allernächster Zeit auf ihn zukommen würde.
Tsamcho griff nach dem Anlasser, da packte ihn Conroy beim Arm und unterband so den Startvorgang.
»Augenblick – haben Sie nichts gehört?«
Beide Männer lauschten. Da – irgendwo hinter den Felsen war ganz deutlich das Brummen eines Fahrzeugmotors zu hören!
Tsamcho stieß einen Fluch in seiner Landessprache aus. »Eine Patrouille der Chikoms...!«
»Oder jemand scheint uns auf den Fersen zu sein«, gab Conroy zurück. »Ob man auf der Suche nach Oberst Chakatow ist?«
Der Tibetaner blieb ihm die Antwort schuldig. Er gab Gas und war völlig damit beschäftigt, in höchster Eile dem gewundenen Karawanenweg zu folgen, der in das Tal hinunterführte.
Der Boden war uneben, stellenweise gefroren.
Das Tal wurde breiter. Der Weg fiel auf dem letzten Stück steil zum Boden der Schlucht ab. Unter sich entdeckte Conroy eine Brücke, die über den Fluss führte, der von den vielen kleinen Schmelzwasserseen des Hochplateaus gespeist wurde.
Tsamcho hielt für einen Augenblick an und orientierte sich. Dann legte er den ersten Gang ein und steuerte den Buggy vorsichtig hinab.
Die Holzbrücke war recht schmal und sah wenig vertrauenswürdig aus. Der Tibetaner hielt erneut an und stieg aus. Beinahe glitt er auf dem vereisten Boden aus. Dann hatte er sich wieder gefangen. Er betrat die Brücke und ging bis zur Mitte; mehrere Meter unter ihm floss das Wasser rauschend über große Steinblöcke. Er lief zum Buggy zurück.
»Wird sie uns aushalten?«, fragte Conroy.
»Sie ist so stabil wie die Golden Gate Bridge.« Tsamcho bemühte sich, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu verleihen. »Sie würde mit Leichtigkeit einen Panzer tragen.«
Conroy hob eine Braue. »Hoffentlich weiß die Brücke das auch«, murmelte er misstrauisch.
Der Dolpo-Pa grunzte nur abfällig und ließ den Buggy auf die Flussquerung rollen. Auf jeder Seite betrug der Abstand zum Geländer nur wenige Zentimeter; die Brücke war mehr für Jak-Karawanen gedacht, weniger für Fahrzeuge. Als in der Mitte die Planken bedrohlich knackten, brach Conroy leichter Schweiß aus. Aber sie kamen heil hinüber.
Tsamcho hielt sofort wieder an, griff sich einen der eiförmigen Sprengsätze und lief zur Brücke zurück. Er deponierte ihn zwischen Fels und Stützpfeiler und aktivierte ihn. Dann entfernte er sich rasch ein paar Schritte. Als die vergleichsweise schwache Detonation erfolgte, drehte er sich halb um. Steine und Holzteile wirbelten durch die Luft. Die diesseitige Stützkonstruktion erhob sich ein bißchen und sackte wieder ab; als sich die Rauchwolke etwas verzogen hatte, sah Conroy, dass sich die Brücke auf ihrer Seite leicht nach rechts geneigt hatte, ansonsten aber den Eindruck von Unversehrtheit machte.
Tsamcho lief inzwischen schon wieder zum Buggy zurück, sprang hinter das Steuer und trat den Beschleunigungshebel gegen das Bodenblech; die voluminösen, einzeln angetriebenen Räder drehten erst einmal auf dem vereisten Boden durch, ehe sie griffen und das Fahrzeug dann schnell an Fahrt gewann. Der Tibetaner fuhr so rücksichtslos, dass er auf der nächsten Kuppe einen regelrechten Luftsprung produzierte, der das Fahrzeug über die Kante katapultierte.
Dahinter malträtierte Tsamcho die Bremsen. Es gab einen Ruck. Der Buggy schlitterte auf dem unbefestigten Weg noch ein paar Meter weiter, ehe er zum Stehen kam.
Tsamcho schwang sich vom Sitz und bedeutete Conroy, ihm zu folgen.
Sie gingen zum Rand zurück und spähten vorsichtig über die Kante in die Schlucht hinunter.
In diesem Augenblick tauchte drüben am anderen Ufer ein dreiachsiges Radfahrzeug auf. Eine Patrouille der chinesischen Armee, wie unschwer an der Tarnbemalung und der Standarte am Heck des leicht gepanzerten Mannschaftswagens zu erkennen war. Er fuhr vorsichtig das letzte Steilstück zur Brücke hinunter.
Tsamcho fluchte leise und ganz und gar unaristokratisch. »Wie ich vermutete«, sagte er halblaut, »eine von Oberst Xiangs Patrouillen.«
Langsam schob sich das Fahrzeug auf die Brücke und kroch über die Planken.
Fast sah es so aus, als käme es hinüber. Aber kurz vor dem anderen Ufer geschah, was der Tibetaner mit seiner Aktion bezweckt hatte: Das letzte Stück der Brücke verschwand plötzlich in der Tiefe. Mit der Vorderachse blieb das Fahrzeug der chinesischen PPB-Patrouille an der Kante des Abbruchs hängen und rutschte langsam nach vorn. Für eine Sekunde hatte man den Eindruck, als würde der Rest der hölzernen Konstruktion den Wagen halten – doch dann stürzte er ab und riß den Überrest der Brücke mit sich in die Tiefe. Aufspritzend fiel er ins Wasser, legte sich etwas auf die Seite. Während die Holztrümmer von den Fluten weggespült wurden, flogen die Luken auf, und die Soldaten kletterten unter lautem Rufen und Schimpfen über die Flanken ins Wasser, um zu Fuß an Land zu waten.
»Sieht nicht gut aus«, murrte Tsamcho. Sie werden Hilfe herbeirufen. Wir müssen uns sputen, unser Ziel zu erreichen, ehe es hier vor Militär nur so wimmelt. Zum Glück wissen sie nicht, dass wir das Fiasko verursacht haben. Sie werden also erst einmal versuchen, sich eine Strategie für ihr ›Versagen‹ zurechtzulegen. Was uns den entsprechenden Vorsprung geben wird.«
»Wie weit haben wir's noch?«, fragte Conroy.
»Nach der Karte sind es zirka hundert Kilometer bis zum Dorf. Wir müssten es vor Einbruch der Nacht erreichen.«
»Dann sollten wir uns beeilen.«
Sie kehrten zum Buggy zurück
Tsamcho schob sich hinter das Steuer. Langsam rollte er los; erst als er sicher war, dass ihn die Soldaten unten in der Schlucht nicht mehr hören konnten, beschleunigte er das Gefährt.
Über dem Land hing jetzt ein feiner Dunstschleier, der die Entfernungen verzerrte.
»Wir werden bald Schnee bekommen«, erklärte der Tibetaner, der in seiner Landestracht so gar nicht hinter das Steuer des modernen Kampfbuggys des Pan-Pazifischen Blocks zu passen schien. Er versuchte, wo immer es ging, die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Das Fahrzeug sprang oft meterweit über Bodenwellen oder bretterte halsbrecherisch durch Rinnen und Vertiefungen. Mit stoischer Ruhe hielt sich Morton an den seitlichen Rammbügeln fest. Am Himmel erschienen die ersten dunklen Wolken; Vorboten des von Tsamcho prophezeiten Wetterumschwunges.
Das Terrain wurde ebener. Tsamcho trat das Gaspedal durch, und der Buggy raste mit zunehmendem Tempo dahin. Conroy hüllte sich in seine Schuba und stemmte die in Stiefeln aus weichem Jakleder steckenden Füße gegen das Bodenblech.
Die Wolken am Himmel ballten sich immer drohender zusammen und warfen lange, dunkle Schatten über das Hochplateau.
Etwa eine Stunde später begann es in großen, leichten Flocken zu schneien. Tsamcho mußte die Scheibenwischer einschalten. Die Berge kamen näher; dunkle, drohende Wände, im eigenartigen Licht ihrer Schnee- und Eisflächen schimmernd.
Schließlich hielt Tsamcho an und berührte Conroy, der neben ihm döste, leicht an der Schulter. Das Dorf Salhée lag vor ihnen in einem weiten Tal an einem Flussufer. Es bestand aus einer Reihe flacher, aus Stein errichteter Häuser; sie erstreckten sich in Terrassen den gegenüberliegenden Berg hinauf.
»Weiß man von unserer Ankunft?«, fragte Morton, während der Dolpo-Pa das Fahrzeug langsam im niedrigen Gang den steilen Weg hinunterrollen ließ. Als sie sich dem Dorf näherten, liefen ihnen ein paar kläffende Hunde entgegen. Ihr Bellen klang in der von Schnee erfüllten Luft irgendwie dumpf.
»Natürlich«, erwiderte Tsamcho, und ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht.
Den Grund sah Conroy, noch ehe sie die ersten Häuser erreicht hatten: Am anderen Ende des Dorfes erhoben sich die filigranen Finger eines Funkmastes auf einer kleinen Erhebung. Natürlich. Die Tibetaner hatten zwar im Schutz ihrer hohen Bergketten ihre Traditionen auch nach der erneuten Invasion der Chinesen – jetzt unter dem Protektorat des Pan-Pazifischen Blocks – retten können und hielten überwiegend daran fest. Das hieß aber nicht automatisch, dass sie sich nicht der vorrückenden Zivilisation anpassten. Conroy wusste, dass sich selbst in den entlegensten Dörfern das Computerzeitalter längst etabliert hatte – und nicht wenige Mitglieder dieses zähen Bergvolkes waren in der Raumfahrtindustrie beschäftigt.
Am Flussufer weideten Jakherden. Vor dem Dorf standen die vertrauten schwarzen Spitzzelte der Hirten. Die Behausungen der Nomaden bestanden selbst kurz vor Beginn des 22. Jahrhunderts noch aus zusammengenähten Jakhäuten, die über ein Gerüst aus zerlegbaren Fiberglasstäben gezogen waren; einziges Zugeständnis an die moderne Zeit. Früher hatte dieses Gerüst ausschließlich aus Zweigen bestanden. Jedes der Zelte war von einem runden Steinwall umgeben mit einer Feuerstelle vor dem Eingang. Zwischen den Zelten spielten Kinder; neugierige Gesichter wandten sich ihnen zu, als sie vorüberrollten. Tsamcho hielt auf das größte Haus in der Mitte eines Platzes zu. Es hatte zwei Stockwerke und ein Flachdach wie die anderen Gebäude des Dorfes auch. Eine hohe Mauer umgab das ganze Grundstück. Sie fuhren durch das Tor auf den Innenhof. Tsamcho hielt den Buggy vor der Tür an und schaltete den Motor aus. Dann stieg er die Stufen zur Haustür hinauf, dicht gefolgt von Morton Conroy. In diesem Augenblick ging die Tür auf. Der Dorfälteste trat zur Begrüßung heraus. Er verneigte sich ehrerbietig vor Tsamcho.
»Willkommen«, sagte er ruhig, fast feierlich, »es freut mich, dich wiederzusehen.«
»Die Freude ist auf meiner Seite«, erwiderte der tibetanische Aristokrat und neigte leicht den Kopf. »Das ist mein Begleiter Conroy.«
»Auch er ist mir willkommen. Doch tretet ein und wärmt euch am Feuer.«
Während sie ins schützende Haus gingen, registrierte Conroy noch, wie ein paar Männer den Buggy unter ein Vordach schoben und ihn mit Bündeln von Gerstenstroh vor allzu neugierigen Blikken verbargen.
Der Raum war allem Anschein nach die gute Stube des Hauses. Die Wände waren verputzt und bemalt, der Holzboden sauber geschrubbt und mit Schaffellen belegt. In dem großen, offenen Kamin brannte getrockneter Jakdung mit hellen Flammen. Die große Multivisionswand in einer Ecke wirkte wie ein Fremdkörper.
»Kommt zum Feuer«, bat der Alte.
Eine Frau in der typischen Landestracht hantierte an der Feuerstelle und bereitete Tee zu.
Wenig später hielt Conroy einen Becher in der Hand und trank genussvoll den gesalzenen und mit ranziger Jakbutter versetzten Tee, zu dem Stücke von Hammelbraten mit Reiskuchen gereicht wurden.
»Du hast besorgt, worum ich dich bat?«, fragte Tsamcho, nachdem sie gesättigt waren.
»Ja. – Zwei meiner besten Führer und ein paar Jaks stehen morgen früh bereit. Aber...« er zögerte einen Augenblick, und in seiner Stimme schwang ein Ausdruck von Verwunderung mit, »was will dein Freund dort oben? Es ist ein alter Karawanenpfad, der einmal über die Berge hinüber zu den Salzseen von Kiong Tschongra führte, ehe die gelben Teufel ihn sprengten, als sie das ganze Land dort zu militärischem Sperrgebiet erklärten. Jetzt endet er im Nirgendwo.«
»Wir werden nicht weiter als bis zum Ringmo-Plateau aufsteigen«, beschied ihm Tsamcho, und der Tonfall seiner Stimme riet dem Alten, nicht weiter zu forschen. Wenig später suchten sie ihre Schlafkammern auf.
In Conroys Raum brannte ein angenehm wärmendes Feuer. Er stellte die Öllampe auf den Tisch neben dem Bett und öffnete das Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien, der Wind war frisch und klar, der Himmel leergefegt von Wolken. Der Mond schien und warf sein gespenstisches Licht über die Häuser des Dorfes. Morton atmete tief den Duft der kalten Erde ein. Die frische Luft füllte seine Lungen und klärte seinen Geist, sie konnte aber die innere Unruhe nicht vertreiben. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sich da draußen in der Dunkelheit etwas gegen ihn zusammenbraute. Aber dann zuckte er die Schultern. In seinem Leben hatte er so viele Gefahren überstanden, warum sollte das jetzt anders sein? Es war kaum vorstellbar, dass er in so kurzer Zeit so weit gekommen war. Weniger als 24 Stunden noch, und er würde sich erneut an einem Ort befinden, der so ganz anders sein würde, als der, an dem er sich im Augenblick aufhielt.
Kurz kam ihm Ray Haan in den Sinn, und er fragte sich, ob der Waffenschmuggler wohl den Rückflug geschafft hatte. Plötzlich musste er lächeln. Das war wirklich ein Mann, mit dem er wieder einmal ein Glas zusammen trinken wollte.
Dann überfiel ihn schlagartig die Müdigkeit und verdrängte jeden klaren Gedanken an den morgigen Tag. Nachdrücklich schloss er das Fenster, zog sich rasch aus und legte sich unter die dicken Wolldecken.
Er blies die Lampe aus und gähnte. Dann starrte er zur Decke hinauf, spürte, wie sich seine strapazierten Muskeln entspannten, und schlief kurz darauf ein.