Читать книгу Sechs utopische Thriller - Conrad Shepherd - Страница 28

10. Kapitel

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»Wir werden das Kloster nicht direkt anfliegen«, sagte Haan. »Zu unsicher jetzt. Die Patrouillen zwischen Rudok und Lhakpa sind bestimmt schon alarmiert. Ich kann es nicht riskieren, mit der Waffenladung erwischt zu werden. Kostet mich meinen Kopf. Und ohne den lebt es sich bekanntlich schlecht.« Er lachte freudlos.

Tsamcho bekundete sein Einverständnis mit einem Kopfnicken.

»Ich kenne da einen kleinen See in der Nähe des Klosters. Dort können wir die Waffen verstecken und sie später, wenn die Luft rein ist, von den Mönchen bergen lassen. Einverstanden?«

Haan nickte.

»Und Sie, Doktor?«

Conroy zuckte die Schultern. »Habe ich eine Wahl?«

Tsamcho schwieg.

»Na sehen Sie...«

Es dauerte keine zehn Minuten mehr. Ein See tauchte auf, wenige Sekunden später ein zweiter, dann noch einer. Tsamcho tippte Haan auf die Schulter. Der nickte und drückte den Hover nach unten. Eine Sandfläche am westlichen Ende des Sees schimmerte weißlich. Haan zog eine Kehre und setzte zur Landung an. Plötzlich erhöhte er den vertikalen Schubvektor und startete durch.

»Etwas nicht in Ordnung?«, rief Conroy.

»Mir war, als hätte ich da unten ein Licht gesehen!«, behauptete Haan.

»Wo?«, erkundigte sich der Dolpo-Pa.

»Gleich da drüben auf dem Hügel neben dem See. Sehen wir lieber noch einmal nach.«

Er drehte im Flüstermodus eine Runde, dann noch eine. Doch von dem gesichteten Licht war nichts zu entdecken.

»Was halten Sie davon, Tsamcho?«, fragte Haan.

Conroy blickte den Tibetaner fragend an. Der hob die Schultern.

»Wenn da wirklich ein Licht war«, meinte er, »dann kann es sich nur um das Feuer eines Hirten gehandelt haben. Die Chikom-Soldaten würden es nicht wagen, in dieser Gegend ein offenes Feuer zu entzünden.«

»Worauf warten wir dann?«, meinte Conroy. »Landen wir!«

Haan nickte zustimmend. Er flog noch einen letzten Kreis um den See und landete den Hover dann auf dem Sandufer.

Conroy verschenkte keine Minute. Sobald die Vertidyne zur Ruhe kam, öffnete er die Kanzeltür auf seiner Seite, sprang hinaus und half Tsamcho sofort beim Ausladen der Waffen und seiner eigenen Ausrüstung. Sekunden später war alles ausgeladen. Tsamcho stand neben ihm.

Haan beugte sich herüber, um die Schiebetür zu schließen. »In einer Woche zur gleichen Zeit hier, Doktor!«, rief er halblaut. »Seien Sie pünktlich! Ich habe keine Lust, in dieser gottverlassenen Gegend Wurzeln zu schlagen.«

Tsamcho und der SY.N.D.I.C.-Agent zogen die Munitionskisten beiseite. Dann blickten sie auf die Vertidyne, die unter Haans Schaltungen einen Satz in die Luft machte und in einer aufsteigenden Parabel immer schneller nach Südwesten verschwand.

Conroy hatte noch den Motorenlärm in den Ohren, als er sich zu dem Dolpo-Pa umdrehte.

»Wir sollten die Ausrüstung und die Waffen lieber irgendwo verstecken, bis Ihre Freunde aus Lhakpa sie abholen kommen.«

Er ging auf einen dreißig oder vierzig Schritte entfernten Geländeeinschnitt zu, der ihm als Versteck gut geeignet schien. Es war merkwürdig, wie lange der Motorenlärm des verschwundenen Hoverjets noch in den Ohren nachklang.

Er drehte sich um, weil er Tsamcho rufen wollte. In dieser Sekunde tauchte wie ein Gespenst das Käferskelett eines Kampfbuggys auf der nächsten Hügelkuppe auf. Es hatte seine Scheinwerfer ausgeschaltet und bildete im Mondlicht eine drohende Silhouette.

In der ersten Schrecksekunden stand Conroy wie vom Donner gerührt da und starrte auf die Gestalten und das lange Laufbündel einer Gatling, die auf einem Drehkranz montiert war. Dann reagierte er in gewohnter Manier. Er sprang mit einem gewaltigen Satz vor und riss im Laufen die MDK aus der Tasche.

»Achtung, Tsamcho!«, brüllte er.

Der dicke Lauf der Gatling schwenkte bereits in Richtung auf den Dolpo-Pa herum. Mit einem hässlichen, stoßartigen und metallenen Klingeln blitzten bläuliche Flammenzungen auf, Sand und Dreck stob unter den Einschlägen auf.

Tsamcho warf sich zur Seite und rollte verzweifelt auf die nächste Deckung zu. Conroy kniete nieder und feuerte ein paar Schüsse auf den Buggy ab, um die Aufmerksamkeit der Besatzung auf sich zu lenken.

Die Atempause nutzte der Dolpo-Pa, um zwischen einem Gewimmel von Felsbrocken am Seeufer zu verschwinden.

Jetzt schwenkte die Gatling zu Conroy herum. Er ließ sich in den Geländeeinschnitt fallen und presste das Gesicht auf den gefrorenen Boden. Ringsumher spritzten die Kugeln vom Felsen. Steinsplitter flirrten durch die Luft; einer davon riss ihm die Wange auf. Als er sich etwas erhob, um sich tiefer ins schützende Dunkel zurückzuziehen, streifte eine Kugel seine rechte Schulter.

Wieder presste er sich flach wie eine Flunder auf den Boden und wartete. Als die Schüsse verstummten und die letzte Patronenhülse ausgeworfen war, war die Stille schwerer zu ertragen als der ohrenbetäubende Lärm der feuernden Gatling.

Conroy wälzte sich herum und richtete sich vorsichtig auf. In der nächsten Sekunde hörte er einen dumpfen Knall, und sein Versteck war in hartes weißes Licht getaucht.

Er starrte in das grelle Licht der an ihrem Minischirm langsam herabsinkenden Leuchtrakete und blieb einfach stehen, weil es für ihn nicht die Spur einer Fluchtmöglichkeit gab. Gleich darauf rollten ein paar Steinchen über den Hang. Am Rand des Grabens tauchten zwei Männer mit schußbereiten Maschinenpistolen auf, die zwar Kleidung militärischen Zuschnitts trugen, aber keine Soldaten waren. Ganz im Gegenteil.

Conroy hob schon die MDK, da erschien zwischen den beiden ein dritter Mann, schlank und groß. Er war so nahe, dass Morton jede Einzelheit erkennen konnte.

Lächelnd blickte er auf Conroy herab.

Und Conroy sah ein Gesicht, von dem er glaubte, es längst vergessen zu haben. Ein schmales Gesicht, mit vollem, in die Stirn gekämmtem schwarzem Haar. Die Haut über den Backenknochen hatte bei Tageslicht einen leicht gelblichen Schimmer, wie er wusste.

Morton hielt den Atem an, während sich alles in ihm verkrampfte und sein Mund trocken wurde. Dieser Mann war einmal sein Todfeind gewesen. Als er dieses Gesicht zum letzten Mal gesehen hatte, war es unter ihm gewesen, schweißüberströmt, verzerrt, während Morton drauf und dran war, den Kerl zu töten. Damals, in Bessarabien, als er mit seinem Team am Fuße der Karpaten jenes Militärlager aushob, das den regulären Truppen soviel Schwierigkeiten bereitete.

Und jetzt kam sein Todfeind auf ihn zu...

Es war eine Nacht voller Überraschungen.

»Oberst Chakatow«, nickte Conroy wie bestätigend. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit diesem Boris Chakatow.

Der Russe grinste. »Hi, Commander«, sagte er gelassen auf englisch. »Habe ich Ihnen nicht prophezeit, dass wir uns eines Tages wieder gegenüberstehen werden?«

»Ich dachte, die hätten Sie in Kovitze viergeteilt, nachdem sie herausgefunden hatten, was Ihre Leute mit den Frauen und Mädchen angestellt hatten«, versetzte Conroy lahm, und sein Körper spannte sich wie eine Stahlfeder.

»Seien Sie kein Narr, Commander Conroy«, sagte der Russe scharf, der ihn nicht aus den Augen ließ. »Das hilft Ihnen doch alles nichts mehr.«

Conroy nickte.

»Vielleicht haben Sie da gar nicht so unrecht« versetzte er. Dann warf er die MDK weg und wartete, bis sie ihn holen kamen.

*


Der kalte Wind wehte um die Felsblöcke und führte winzige Eiskristalle mit sich.

Conroy fror hundsmiserabel; er zog die Schuba enger um sich. Das heiße Brennen in der Schulter hatte sich in einen stetig pulsierenden Schmerz verwandelt. Die bittere Kälte der tibetanischen Hochebene betäubte die Wunde. Conroy spürte bohrende Kopfschmerzen und eine leichte Übelkeit, die wohl auf die zu rasche Überwindung zu großer Höhenunterschiede zurückzuführen war. Er lehnte mit dem Rücken an einem Rad des Kampfbuggys. Zwei Schritte neben ihm flackerte vor einem modernen Militär-Igluzelt die Flamme eines kleinen Feuers im Wind. Daneben hockten Fahrer und Bordschütze Chakatows. Schweigsame, riesige Kerle in schwarzen Kampfanzügen, über denen sie kälteabweisende Thermojacken trugen. Als die Flammen einmal höher aufloderten, sah Conroy die Tätowierungen über ihren linken Augenbrauen: der Kopf einer zustoßenden Kobra.

Sie waren Söldner.

Hybriden.

Nanoimplantate legten ihr Schmerzempfinden lahm. Im Kampf konnte man sie nur stoppen, wenn man sie tötete. Solange noch ein Funken Leben in ihnen war, ließen sie nicht von ihrem Vorhaben ab, ihren Auftrag auszuführen, ihre Gegner umzubringen. Der größere der beiden hatte ein breites, flaches Gesicht, das auf eine Mischung von slawischem und asiatischem Blut schließen ließ. Der andere musste aus den FSA-Staaten kommen.

Während der eine in einem Kochgeschirr Teewasser heißmachte, hatte der andere eine AutoMag mit integriertem Rohr für panzerbrechende Gewehrgranaten über den Knien liegen; die Mündung zeigte unverrückbar auf den Agenten.

Conroy machte sich Gedanken um Tsamcho. Wenigstens der war heil davongekommen – ein gewisser Trost in diesem Dilemma. Aber vorerst durfte er sich von dieser Seite keine Unterstützung erhoffen. Allein und unbewaffnet konnte der Dolpo-Pa nichts ausrichten. Erst wenn es ihm gelang, mit seinen Leuten Verbindung aufzunehmen, bestand etwas Hoffnung.

Die Zeltklappe wurde zurückgeworfen. Chakatow kam mit einem Verbandskasten herausgekrochen

Der Blick seiner Augen war unergründlich, als er neben Conroy in die Hocke ging.

»Wie fühlen Sie sich?«

Conroy zuckte bloß mit den Schultern.

Der Russe zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche. »Hier, nehmen Sie eine, das wird Ihnen helfen, Commander.«

Er ließ ein Feuerzeug aufflammen .

Conroy nahm einen tiefen Zug und musste husten.

»Sorry«, sagte Chakatow. »Hab' leider nur chinesisches Kraut.«

»Ich werde es überleben«, sagte Conroy. »Mein Gott, was ist die Welt doch klein! Boris Andrej Chakatow. Mit Ihnen habe ich nicht gerechnet. Ich habe gehört, Sie wären endgültig tot.« Er hustete wieder und versuchte, die Kälte zu ignorieren.

Der Russe grinste breit. »Totgesagte leben länger.«

Conroy nickte und holte Atem. »Das ist nicht zu übersehen. Ist es Zufall, oder steckt Absicht dahinter?«

»Ich würde sagen beides«, gestand Chakatow. »Ich war Oberst Sheehys Organisation eigentlich stets einen Schritt voraus, seit ich von Foss bekam, was ich wollte. Und als Sie aufkreuzten, war ich richtiggehend glücklich«.

Der russische Oberst schien in euphorischer Stimmung. Conroy kannte diese Anzeichen. Er würde jetzt allerlei ausplaudern, und das konnte ihm nur recht sein. So erfuhr er mehr Zusammenhänge, als er jemals durch eigene Recherchen herausbekommen hätte.

Chakatow fuhr fort: »Sie wissen, wir haben noch eine Rechnung offen, Commander. Ich hätte Sie eigentlich gleich umbringen können, aber ich fand Gefallen daran, herauszufinden, wie Sie es wohl anstellen würden, das zu bekommen, worauf die FSA so begierig ist, es zu erfahren. Ich wollte das Ganze aber ein bisschen mit Fußangeln versehen, um zu sehen, wie oft Sie stolpern.«

»Dann haben Sie Hoja auf mich gehetzt?«

Chakatow machte eine wegwerfende Bewegung. »Pah, dieser kleine Sesselfurzer. Wenn der wüsste, worum es wirklich geht, würde er sich selbst in den Allerwertesten beißen.«

»So? Worum geht es denn?«

Chakatow klappte das MediKit auf. »Wenn es Ihnen recht ist«, wich er Conroys Frage aus, »möchte ich einmal nachsehen, wie es Ihrer Verletzung geht.«

»Ein Kratzer, mehr nicht. Die Kugel hat nur meine Schulter gestreift.«

»Trotzdem. Lassen Sie mich sehen.«

Conroy verzog das Gesicht.

Der Russe grinste und untersuchte die Wunde fachmännisch. Dann legte er sehr professionell einen Notverband an. Das flackernde Feuer warf zuckende Schatten auf sein Gesicht.

»Was machen Sie überhaupt hier mitten in der Nacht?«, fragte Conroy. »Man hat mir erzählt, das sei eine recht unsichere Gegend, speziell für Leute wie Sie, die chinesische Zigaretten rauchen und mit den Kampfbuggys der Gelben durch die Gegend kutschieren.«

Chakatow lachte dunkel.

»Ich wollte nach Tschangu, weil ich wusste, dass Sie früher oder später dort aufkreuzen würden. Wollte vor Ihnen dort sein. Wir bekamen aber unterwegs Schwierigkeiten mit dem Motor – verdammtes, chinesisches Dreckszeug! Bis wir den Fehler gefunden und einigermaßen behoben hatten, war es dunkel geworden. Deshalb habe ich mich entschlossen, hier mein Lager aufzuschlagen und erst am nächsten Tag die Fahrt fortzusetzen.«

»Dann war es also Ihr Feuer, das wir beim Anflug gesehen haben?«

Chakatow nickte. »Als Sie auftauchten, habe ich es natürlich sofort gelöscht. Ich wusste ja nicht, was da aus dem Nachthimmel herunterkam. War das vielleicht eine Überraschung, als ich entdeckte, dass Sie hier hereingeschneit kamen.«

»Und wir haben geglaubt, es sei das Lagerfeuer eines Hirten!«, versetzte Conroy bitter.

»So ist das Kriegsglück, Commander.« Der Russe klappte das MediKit wieder zu.

»Was kommt als nächstes?«, fragte Conroy.

»Tee, etwas zu essen und ein bisschen Schlaf, wenn Sie es fertigbringen.«

»Und morgen?«

Chakatow atmete tief ein.

»Morgen fahren wir nach Tschangu zum Militärkommandanten für diese Gegend, Oberst Xiang. Er wird wissen wollen, was Sie nach Tibet geführt hat. Und tischen Sie ihm um Himmels willen nicht das Märchen vom Ethnologen auf. Er wird wissen, dass Sie ein Oberleutnant des legendären Blackwatch-Regiments und Commander einer Ultra Force-Einheit sind – beziehungsweise waren. Oder wie ist Ihr militärischer Rang jetzt?«

»Woher soll dieser Oberst Xiang das wissen?«, wich Conroy Chakatows letzter Frage aus.

Der Russe schüttelte den Kopf. »Woher wohl? Weil ich es ihm sagen werde. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, Towarisch Amerikanski: An Ihrer Stelle würde ich ihm ohne falschverstandenes Heldentum alles erzählen, was er wissen will. Es geht die Rede, dass er ein sehr harter Mann sei.«

Das Schweigen dauerte eine Weile. Dann schlug Chakatow in die Hände. »Aber jetzt wollen wir erstmal was essen.«

Auf ein Zeichen von ihm brachte einer der Söldner Tee und harten Zwieback.

Der Tee tat Conroy gut, wenn er auch nicht die Kopfschmerzen vertrieb. Nachdem er sich hatte nachschenken lassen, sagte er: »Etwas kommt mir merkwürdig vor: Man hört doch immer wieder, dass die Beziehungen zwischen dem Eurasischen Commonwealth und dem Pan-Pazifischen Block eingefroren seien. Wie kommt es, dass die Chinesen Sie frei in ihrer bestbewachten Provinz herumlaufen lassen?«

»Ach was«, winkte der Russe ab. »Die Meinungsverschiedenheiten zwischen unseren Blöcken werden von der FSA nur hochgespielt.«

»Wo haben Sie diesen Unsinn denn her?«, sagte Conroy ärgerlich und warf den Zigarettenstummel weg. »Machen wir uns doch nichts vor! Ihr Russen findet Gefallen daran, euch über die angebliche politische Unreife der Freien Staaten von Amerika zu ereifern, ohne zu erkennen, dass die wirklichen Feinde des Weltfriedens unmittelbar hinter euren Grenzen sitzen. China ist das Problem, nicht der Westen. Selbst der neue Zar hat das inzwischen eingesehen.«

»Pah!« Chakatow schüttelte störrisch den Kopf. »Politik und Religion, das sind Dinge, die die besten Freunde zu Feinden machen. Gehen wir lieber schlafen, es ist spät.«

*


Am Morgen wehte immer noch ein eiskalter Wind, trotz des stahlblauen Himmels. Conroy stand neben dem Buggy und schaute den beiden Söldnern beim Abbrechen des Lagers zu. Er fühlte sich schlapp und kraftlos, allerdings hatten die Kopfschmerzen dank des Medikamentes von Chakatow, das ihm dieser vor dem Einschlafen gegeben hatte, aufgehört. Nur die Wunde an der Schulter brannte noch leicht. Auch Chakatow machte keinen besonders ausgeschlafenen Eindruck. Als die Söldner fertig waren, forderte er Conroy zum Einsteigen auf. Der SY.N.D.I.C.-Agent kletterte auf den Rücksitz hinter dem Gatling- Drehkreuz. Seine linke Hand wurde mit einer Handfessel an eine Strebe gekettet.

Die Räder rollten knirschend über den gefrorenen Boden. Vor ihnen erstreckte sich die scheinbar endlose Steppe mit bereiftem, braunem Gras.

Nach dreißig Minuten erreichten sie eine breite Landstraße, die, Conroys Wissen zufolge, vor rund hundert Jahren zwischen Sinkiang und Jarkand gebaut worden war, um dem chinesischen Heer eine raschere Truppenverschiebung während des Khambas-Aufstandes zu ermöglichen.

Chakatow gab dem Fahrer den Befehl, die Geschwindigkeit zu erhöhen.

Conroy lehnte sich zurück und betrachtete die Gegend. Auf der einen Seite ragte das Aksai Tschin-Plateau in den blauen Morgenhimmel. Vor dem Buggy erstreckten sich nur die leichten Bodenwellen der Steppe, durchschnitten vom hellen Band der Straße.

»Eigentlich«, begann Chakatow nach einer Weile ganz unvermittelt, »sind wir Kämpfer für die gleiche Sache. Haben das gleiche Ziel... nur schade, dass Sie es ohne meine Hilfe nie erreichen werden.«

Conroy hob den Blick. »So? Welches Ziel meinen Sie?«

»Kommen Sie, stellen Sie sich nicht naiver, als Sie sind. Wir wissen doch beide, dass es um Basis Alpha geht, nicht wahr, mein Freund?«

Conroy setzte eine unbeteiligte Miene auf.

»Sie sind hoffentlich nicht beleidigt, wenn ich Ihnen sage, dass ich mich nicht als Ihren Freund betrachte. Außerdem habe ich keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

»Und Sie vergessen, dass Basis Alpha auf Initiative der russischen Regierung gegründet wurde. Auch einige unserer unersetzlichen Wissenschaftler befinden sich noch immer dort, ohne dass wir ein Lebenszeichen von ihnen bekommen. Würde es Sie sehr überraschen, wenn ich Ihnen verrate, dass der Geheimdienst des Zaren mich damit beauftragt hat, herauszufinden, was in dem Laborkomplex vor sich geht? Weshalb tun wir uns nicht zusammen und tauschen unser gemeinsames Wissen aus? Zu zweit sind wir besser gerüstet für die Aufgabe.«

»Das wäre ja gerade so, als würde man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollen«, versetzte Conroy mit beißendem Spott. »Verschonen Sie mich mit Ihren Anbiederungsversuchen.«

Über das Gesicht des Russen zog ein Schatten. Ein seltsames Licht glomm im Hintergrund seiner Augen auf.

»Schade«, sagte er bedauernd. »Sie waren und sind noch immer ein sturer Hund! Doch keine Bange. Wenn Oberst Xiang Sie erst in seinen Fingern hat, werden Sie bedauern, auf meinen Vorschlag nicht eingegangen zu sein.«

Ihm schien plötzlich die Lust an der Fortsetzung der Unterhaltung vergangen zu sein; er hüllte sich in Schweigen.

Nach weniger als eine Stunde erreichten sie eine breite, fast brettebene Niederung. Der Grund bestand aus festgebackenem Sand und Kies. Hier trat der Fahrer das Gaspedal noch mehr durch, und der Buggy raste mit erhöhtem Tempo dahin. Kalter Fahrtwind peitschte Conroy ins Gesicht und weckte seine Lebensgeister. Am Ende der ebenen Strecke schaltete der Söldner herunter und lenkte den skelettartigen Wagen einen leicht ansteigenden Hügel hinauf. Oben angekommen, sah Conroy ein Kloster am jenseitigen Talende liegen. Das Tal selbst wurde von einem schmalen Fluss durchschnitten, der eisfrei war. Zwischen Fluss und Kloster lag nur ein schmaler Streifen Land.

Der Anblick des Klosters elektrisierte Conroy.

Als sie ins Tal hinunterrollten, konnte er seine Erregung kaum noch unterdrücken. Es kostete ihn Anstrengung, seine Stimme gleichgültig klingen zu lassen.

»Halten wir denn hier?«

Chakatow schüttelte den Kopf.

»Wie kommen Sie denn darauf? Die Straße führt nur nahe der Klostermauern vorbei. Nach Lhakpa wird sie breiter und wir können wieder schneller fahren.«

Als er den Namen des Klosters hörte, hätte sich Conroy um ein Haar verraten. Das hier war das Widerstandszentrum für die ganze Gegend! Der ungesündeste Ort im gesamten Universum für zwei Söldner und einen Russen in einem chinesischen Militärfahrzeug, das zu allem Überfluss auch noch die Insignien des PPB auf seinen Flanken trug. Mit einem seltsamen Gefühl des Bedauerns verfolgte Conroy die Annäherung an das Kloster. Er wusste nicht, woher er die Gewissheit nahm, aber das Schicksal schien sich heute für Chakatow zu erfüllen; für ihn gab es kein Entrinnen mehr.

Lhakpa bestand aus mehreren stufenförmig übereinandergebauten, gelbgestrichenen Gebäuden, die sich an eine Felswand schmiegten. Die ganze Anlage war von einer hohen Mauer umgeben. Das breite Doppeltor stand offen und gewährte Einblick in den Klosterhof. Unmittelbar neben den Mauern und auf der anderen Seite der Straße weideten Herden von Jaks und kleinen Tibetanerpferden. Drüben am Fluss standen die Lederzelte der Hirten. Ein paar Frauen standen trotz der Kälte bis an die Knie im Wasser und wuschen Wäsche. Zwischen den Zelten spielten barfüßige Kinder Verstecken.

Der Rauch vieler Herdfeuer stieg zum blauen Himmel auf, und sein Geruch weckte in Conroy lange zurückliegende Erinnerungen aus seiner Kindheit.

Etwa sechzig Tibetaner drängten sich um das offene Tor und blickten in den Klosterhof. Als der Buggy sich näherte, wandten sie sich wie auf ein geheimes Kommando dem Wagen zu. Meist waren es Hirten aus den Bergen, in schmutzigweiße Schubas gehüllt, viele mit breiten Jagdmessern im Gürtel, manche mit Krummsäbeln bewaffnet. Sie machten einen ausgesprochen unfreundlichen Eindruck. Der Söldner am Drehkranz entsicherte sofort die schwere Gatlingkanone und kontrollierte die Patronenzufuhr.

Der Wagen musste seine Geschwindigkeit verlangsamen, um niemanden über den Haufen zu fahren. Ebenso langsam wichen die Menschen zurück, um Platz zu machen für den phantastischen Zug, der im gleichen Moment aus dem Klosterhof hervortrat. Eine Gruppe von Lamas in ihren traditionellen Festgewändern war gerade bei einer feierlichen Prozession. In ihren gelben, roten und blauen Seidenroben schritten sie würdevoll über die Straße auf die Zelte am Flussufer zu.

Conroy saß regungslos da, gebannt von dem Gedanken, dass sich gleich etwas Furchtbares ereignen würde. Fluchend hielt der Fahrer den Buggy an, als der Zug vor ihm die Straße überquerte. Dann merkte Conroy, dass die tibetanischen Hirten allmählich einen Kreis um das Fahrzeug bildeten und es immer mehr einschlossen.

Chakatow und seine beiden Söldner waren noch immer ahnungslos.

Plötzlich zitterte ein tiefer, hallender Ton durch die Luft und wurde von den Talwänden als Echo zurückgeworfen.

Conroys Blicke flogen hoch zum Dach des höchsten Gebäudes, wo ein Mönch die Glocke schlug.

Einmal.

Dann noch einmal.

In die Menge kam Bewegung. Ein hochgewachsener Tibetaner drängte sich näher; er trug ein Krummschwert am Gürtel, sein Gesicht war vor Schmutz ganz unkenntlich. Plötzlich lag die breite Klinge in seiner Hand, und noch ehe überhaupt jemand reagieren konnte, vollführte das Schwert einen blitzenden Kreis in der Luft. Der Söldner an der Gatling fiel erst auf Chakatow und stürzte dann über die Bordwand zu Boden. Sein Kopf war fast ganz vom Körper getrennt.

Für eine Sekunde schien die Welt den Atem anzuhalten. Dann begann die Menge zu toben und stürmte heran. Der Fahrer schrie nicht einmal, als sie ihn vom Sitz rissen und Messerklingen seinen Körper trafen, immer und immer wieder; er zeigte keinerlei Schmerzempfindung. Auch nicht, als ihn das Leben verließ.

Chakatows Gesicht hingegen war eine Maske des Unglaubens. Fassungslos warf er Conroy einen letzten Blick zu, bevor auch er vom Sitz gerissen wurde und in der Menge unterging wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wurde.

Er kam nicht mehr hoch.

Conroy kauerte sich auf seinem Sitz zusammen. Verzweifelt zerrte er an seiner Handfessel, die es ihm unmöglich machte, dem Unheil zu entkommen.

»Tsamcho!«, brüllte er gegen den wütenden Lärm an, den die Tibetaner vollführten.

Und wieder: »Tsamcho!«

Verzerrte, hasserfüllte Gesichter starrten ihn an. Hände krallten sich in seine Schuba. Einem Hirten schlug er die freie Faust ans Kinn – doch da explodierte bereits seine Hirnschale.

Seine Welt versank in einem endlosen Abgrund der Finsternis

Sechs utopische Thriller

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