Читать книгу Sechs utopische Thriller - Conrad Shepherd - Страница 26
9. Kapitel
ОглавлениеGegen zehn Uhr rief die Hotelrezeption durch und informierte ihn, dass jemand vom Institut auf ihn wartete, um ihn abzuholen. Er war längst reisefertig, griff sich seine Tasche und ging nach unten. Entgegen seinen Erwartungen war es nicht Nomi, worüber er eine leichte Enttäuschung spürte. Der Abgesandte des Instituts war ein Chinese namens Louie Wong.
»Mr. Conroy?«
Morton nickte.
Wong war groß, hatte ein breites, lächelndes Asiatengesicht. Sein dichtes, dunkles Haar glänzte, als sei es mit Lack überzogen. Er hatte den leicht wiegenden Gang eines durchtrainierten Athleten; sein Händedruck war fest und zupackend.
»Bitte folgen Sie mir, Mr. Conroy. Draußen wartete der Wagen. Ich habe Anweisung von Mr. Devlin, Sie zum Institut zu bringen.«
»Danke. Ist Mr. Devlin denn schon aus Lhasa zurück?«
»Er traf gegen Mitternacht ein.«
»Ich hatte eigentlich Miss McIrnerny erwartet«, sagte Conroy beiläufig. »Ist sie verhindert?«
Die Augen des jungen Mr. Wong blinzelten.
»Sie musste überraschend in den Süden. Es ist ungewiss, ob sie morgen oder übermorgen zurückkommt.«
»Ach so. Schade, ich hätte sie gerne noch gesehen, bevor ich mich in die Einsamkeit der Berge verdrücke.«
Mr. Wong erwies sich auf der Fahrt vom Hotel zum Rimtec-Institut als höflich und bestens informiert. Er steuerte den Hover selbst. Das blau lackierte Gefährt schlängelte sich geschickt durch breite Boulevards und schmale Gassen. Unterwegs zeigte Wong Conroy die Sehenswürdigkeiten, an denen sie vorüberkamen, und wies auf ihre Besonderheiten hin, als hätte er nie etwas anderes in seinem jungen Leben getan.
»Sie sind gut informiert, Mr. Wong«, bemerkte Conroy.
»Für einen Chinesen, meinen Sie?« Wong zeigte seine schneeweißen Zähne. »Das gehört zu meinen Tätigkeiten, Sir.«
»Und was sind das für Tätigkeiten, Mr. Wong?«
»Erster Sekretär, Hausmeister, Chauffeur«, zählte er auf, »Mechaniker, Pilot – und Stadtführer. Suchen Sie sich etwas aus.«
Conroy schwieg verblüfft, bis der Hover vor dem Institut zum Stehen kam.
Poul Devlin erwartete sie bereits am Fuße des Treppenaufganges mit den steinernen Drachenköpfen links und rechts.
Er war ein mittelgroßer Endvierziger mit leicht angegrauten Schläfen, der in seinem weißen Anzug kühl und wie einem Modejournal entsprungen wirkte.
»Bleiben Sie sitzen, Doktor Conroy«, bedeutete er ihm und stieg zu ihnen in den Hover. »Wir müssen gleich zu Haan, der Abflugtermin hat sich etwas nach vorne verschoben. Mein Gott, wir haben uns lange nicht gesehen, Morton. Ich glaube, es war während eines Kongresses in Budapest, oder?«
Conroy schüttelte den Kopf. »Bukarest«, sagte er. »Bukarest.«
»Potzblitz«, lachte Devlin jovial und klopfte sich auf die Schenkel. »Budapest – Bukarest. Ich verwechsle das noch immer. Wie geht's Ihnen denn?«
Sie schüttelten sich die Hände.
»Am liebsten gut«, erwiderte Conroy mit einem hintersinnigen Lächeln.
Devlin spielte seinen Part ausgezeichnet.
Wie Nomi McIrnerny schien auch dieser Louie Wong nicht in die geheimen Tätigkeiten des Rimtec-Institutsleiters eingeweiht zu sein.
»Wie war denn der Flug?«, erkundigte er sich und gab Louie Wong das Zeichen zum Weiterfahren.
»Miserabel«, hielt Conroy mit. »Schlechter Service. Schlechtes Publikum. Ich saß die ganze Zeit neben einem nach Knoblauch stinkenden Teppichhändler aus Beschmagar. Zu allem Überfluss sind wir über Aden mitten in ein Gewitter hineingeraten. Der Anschluss in Delhi war natürlich weg, und ich musste stundenlang auf den nächsten Carrier warten.«
»Ich hoffe, Sie haben sich inzwischen von den Unannehmlichkeiten des Fluges erholt, Mort.«
»Aber ja, Poul«, erwiderte Morton.
Devlin bot Conroy eine Zigarette an.
Eine Weile rauchten sie schweigend, während das Allround-Faktotum des Institutes den Hover geschickt durch die durcheinanderwogende Menschenmenge des mittäglichen Verkehrs von Schrinagar lenkte.
Schließlich erreichten sie die Vororte und fuhren entlang des Flusses, bis sie das eingezäunte Areal Ray Haans erreicht hatten. Wong brachte den Hover zum Stehen.
»Warten Sie hier, Louie«, bedeutete ihm Poul Devlin. »Ich bin gleich wieder zurück.
»Ich werde warten, Herr«, sagte Wong auf Kantonesisch.
»Du sollt nicht diese alte Sprache sprechen«, erwiderte Devlin ebenfalls in Kantonesisch, »und nenne mich nicht immer Herr.«
Conroy tat so, als verstünde er kein Wort. Er griff sich seine Tasche und stieg aus.
»Viel Glück, Doktor!«, wünschte ihm Louie Wong. »Geben Sie acht, dass Sie nicht einem Yeti begegnen dort oben in den Bergen. Ich warne Sie. Es könnte gefährlich werden.«
»Das Leben ist immer gefährlich«, sagte Conroy kurz. »Und setzt man über einen Fluss, so ist es schon Jahrhunderte vorher vom Schicksal bestimmt, wie Tseng-kuang sagt.«
Haan erwartete sie im Hangar vor einem unauffällig lackierten Cargo-Hover. Die seitliche Schiebetür stand offen; Haans indischer Mechaniker wuchtete wortlos Conroys Reisegepäck ins Innere. Conroys Blick fiel auf schwarze Multiplastikbehälter, die im Ladebereich festgezurrt waren.
Eine Furche bildete sich über seiner Nasenwurzel. Als Soldat wusste er, was in diesen Kisten üblicherweise transportiert wurde: Schnellfeuergewehre, Munition, Handgranaten! Dann erinnerte er sich daran, dass Haan neben seinen sicher zahlreichen Tätigkeiten vor allen Dingen die eines Waffenschmugglers ausübte und zuckte mit den Schultern.
»Ich hoffe nur, wir kommen in keine Kontrolle der Luftpolizei«, sagte er und wies kopfnickend auf die Ladung.
Ray Haan griente und schob seinen Zigarrenstummel in den anderen Mundwinkel.
»I wo«, erwiderte er, »mit Sicherheit nicht.«
»Haben Sie bekommen, worum ich Sie bat?«, erkundigte sich Conroy.
»Liegt schon drin.« Der Pilot deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ein Firefly II in Carbon-Kevlar. Extrem leicht, extrem strapazierfähig. In Schwarz, wie gewünscht. Kostet Sie nicht mehr als zweitausend.«
»Mr. Devlin wird diese Kleinigkeit gern übernehmen«, versicherte ihm Conroy. Devlin nickte bestätigend, ohne zu wissen, worum es sich handelte. »Wollten Sie nicht starten, sobald wir hier sind?«, fragte er lediglich.
Haan nickte. »Wenn Doktor Conroy bereit ist, dann sehe ich keinen Grund für eine weitere Verzögerung.«
*
In den späten Abendstunden war leichte Bewölkung aufgezogen, hinter der der Vollmond von Zeit zu Zeit verschwand. Conroy wurde nur langsam wach. Der Mond warf einen breiten Lichtstreif quer über das Bett. Er döste vor sich hin und starrte blicklos durch das Halbdunkel zur niedrigen Decke empor. Der Flug nach Thilen hatte keine Probleme verursacht. Alles war glatt über die Bühne gegangen. Nach einer Weile schaute er auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Er streckte sich noch für einen kurzen Moment aus, dann strampelte er die Decke beiseite und glitt aus dem Bett. Er schlüpfte in seine Kleider und zog die wattierte Jacke über, ehe er die Tür öffnete und auf die Terrasse hinaustrat.
Die mit Felsbrocken beschwerten Flachdächer von Thilen bildeten ein ungleichmäßiges Mosaik, das bis zum Indus hinunterreichte. Die gigantischen Schluchtwände standen wie schwarze Schattenmauern vor dem Nachthimmel. Drüben am anderen Ufer bellte ein Hund. Irgendwo in den Häusern weinte ein Kind, ansonsten war alles still und friedlich.
So still und friedlich, wie Conroy es schon lange nicht mehr erlebt hatte.
Er zündete sich eine Zigarette an, und im gleichen Augenblick glitt der Mond hinter einer Wolkenbank hervor. Er war so hell und klar zu sehen, dass Conroy versucht war, nach jenem Krater Ausschau zu halten, in dem STRALAG-II lag. Dann nannte er sich einen Narren; das Straflager der FSA lag auf der erdabgewandten Rückseite des Mondes.
Der Sternenhimmel war in dieser Höhe von einer unglaublichen Klarheit und Schönheit. Die schimmernden, unzähligen Lichtpunkte erstreckten sich bis an den Horizont, wo die aufragenden Gipfel ihnen gefährlich nahezukommen schienen.
Conroy warf die halb gerauchte Zigarette weg, atmete tief den Duft der Erde ein und fragte sich, warum nicht alles auf der Welt so einfach und unkompliziert sein konnte wie dieser Moment? Nur dastehen und schauen. Das kostete nichts als ein wenig Zeit, aber man bekam so unendlich viel dafür...
Ein kalter Wind umwehte ihn und riss ihn aus seinen elegischen Betrachtungen. Er erinnerte sich mit leisem Schaudern daran, dass das Ziel seines Auftrags nicht mehr als eine Flugstunde entfernt lag. Er zog die Schultern hoch, drehte sich um und ging hinein.
Im Hotel war alles ruhig. Aus der kleinen Halle schlug ihm warme, abgestandene Luft entgegen.
Der Nachtportier, ein älterer Hindu, schlief mit weit offenem Mund an seinem Arbeitsplatz. Conroy schob sich leise an ihm vorbei in den Speiseraum.
Haan hockte an einem Tisch am Fenster, war im Augenblick der einzige Gast.
Als er zu dem Piloten hinüberging, blickte der grinsend hoch.
»Da sind Sie ja, Doktor! Wollte Sie gerade wecken lassen. Wie wär's mit etwas zu essen?«
Conroy lehnte ab. »Danke, für mich nicht.«
»Dann etwas zu trinken, Doktor?«
»Wenn es die Küche nicht überfordert – Tee.«
»Natürlich.« Haan winkte dem Kellner, der in der Nähe stand und stoisch darauf wartete, dass sich etwas tat. »Bitte Tee, Ochia!«
Conroy setzte sich Haan gegenüber. Sie schwiegen, bis der Tee kam.
Der Kellner servierte ihn in hauchdünnen Porzellanschalen und auf einem silbernen Thali, dessen wundervoll ziselierter Rand nach oben gebogen war und ein Lotosblütenblatt andeutete.
»Scheint genau die richtige Nacht für uns zu sein«, sagte Conroy und schaute durch das Fenster hinter Haan auf die mondbeschienene Landschaft.
Der Pilot kicherte leise. »Könnte wirklich nicht besser sein«, gestand er, »Bei dem Mondlicht komme ich wie geschmiert über die Pässe. Sie werden sehen.«
»Hoffentlich haben Sie recht.« Conroy trank einen Schluck von dem kräftigen grünen Tee.
»Natürlich habe ich recht. Ich habe stets recht mit meinen Prognosen. Wissen Sie, im Krieg bin ich über zweihundert Einsätze geflogen. Immer, wenn sich etwas Unangenehmes ereignete, hatte ich vorher ein ungutes Gefühl. Erbe meiner grönländischen Urgroßmutter mütterlicherseits – oder war es väterlicherseits? Na, egal. Ich weiß daher immer vorher, wenn etwas passieren wird, glauben Sie mir. Heute Nacht wird alles glattgehen.« Er lehnte sich über den Tisch und goss etwas Whisky in Conroys Tee. »Trinken Sie aus, dann gehen wir zum Flugplatz. Ich habe den Dolpo-Pa bereits vor zwei Stunden mit meinem hiesigen Mechaniker hingeschickt. Die Umladung ist ebenfalls schon über die Bühne gegangen.«
Conroy blickte mit einem leichten Stirnrunzeln in seine Teeschale. Irgendwo tief in ihm meldete sich ein primitiver Instinkt – vielleicht das Erbe aller alten Rassen? – weitergegeben an ihn von seinen Vorfahren, die sich, soweit er wusste, in schwankenden, heute primitiv und lebensgefährlich anmutenden hölzernen Nussschalen auf die Meere gewagt hatten. Dieser Instinkt warnte ihn, sagte ihm, dass Gefahr im Anzug war. Trotz aller Versicherungen Haans – dieses Unternehmen stand unter keinem besonders freundlichen Stern. Nachdem sich der SY.N.D.I.C.-Agent mit dieser Tatsache abgefunden hatte, überkam ihn eine seltsame Ruhe, die ihm Kraft gab. Er hob seine Teeschale, lächelte und prostete Haan zu. Dann trank er das jetzt fürchterlich schmeckende Gebräu in einem Zug aus.
»Von mir aus können wir«, sagte er.
Die Landebahn befand sich einen Kilometer außerhalb Thilens auf einem flachen Uferstreifen. Keine der offiziellen Fluglinien benutzte den Platz, der während der Aufstände als provisorischer Stützpunkt einer Luftlandeeinheit der Chikoms errichtet worden war. Der Hangar war ein alter Bau und aus vorgefertigten Bauteilen errichtet. An seinen Außenflächen trug er noch Spuren der vormals graugrünen Tarnbemalung. In seinem Innern roch es feucht und modrig, als sei er schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden.
Als Conroy ihn betrat, stieß er einen überraschten Laut aus.
Die Maschine stand mitten im Hangar. Im Licht der Xenon-Deckenlampen glänzten die schmutzigweißen Wandungen eines Hoverjets in Wintertarnung, einer Vertidyne von Dornier-Mabuchi mit verstärkter Seitenpanzerung gegen Raketenbeschuss und Hubrotoren aus einer 65-Schicht-Composit-Bauweise, die gegen Beschuss kleinerer Kaliber unempfindlich waren. An der Maschine waren die Verkleidungen der Steuerbord- und Backbordaggregate geöffnet. Parimandu, Haans hiesiger Mechaniker, hockte auf dem Pilotensitz und lauschte mit angespannter Miene dem Geräusch der beiden starken Motoren. Neben ihm saß ein hochgewachsener Tibetaner. Als sie Haan erblickten, drosselte der Mechaniker die Maschinen zu einem leisen Flüstern, und beide sprangen auf den mit Öl- und Treibstoffflecken übersäten Betonboden herab.
»Irgendwelche Probleme, Pari?«, wandte sich Haan an den Mechaniker.
»Nichts Besonderes, Sahib, nur eine Feinabstimmung.«
»Und wie klingen sie?«
Parimandu zeigte ein Lächeln und ein zufriedenes Glitzern in den Augen. »Großartig, Sahib.«
»Treibstoff?«
»Aufgetankt bis zu Halskrause.«
Conroy wandte Haan sein Gesicht zu und sagte bewundernd: »Wo haben Sie diese... diese Wahnsinnsmaschine aufgetrieben? Ist Ihnen noch niemand draufgekommen, dass Sie sich in Besitz von Kriegswaffen befinden?«
Haan zuckte die Schultern.
»Krr-ieg sein lang-ge vorbei«, radebrechte er in der schlechten Parodie eines beo-russischen Infanteristen.
»Der Krieg ja«, betonte Conroy und wandte sich an den Dolpo-Pa. »Würden Sie mich bekannt machen, Ray!«, sagte er über die Schulter.
Der Tibetaner trug das traditionelle lange Untergewand mit weiten Ärmeln und darüber eine Schuba aus Schaffell, die seine Brust bis zum Gürtel freiließ. Seine Beine steckten in kniehohen roten Stiefeln aus Rohleder. Sein Haar war zu beiden Seiten des Kopfes zu Zöpfen hochgebunden, darauf thronte eine spitz zulaufende Fellmütze. Der Dolpo-Pa war groß und kräftig. Sein gebräuntes Gesicht hatte keine orientalischen Züge. Zudem verliehen ihm die hohen Backenknochen und die gerade Nase etwas Aristokratisches.
»Tsamcho, das ist Doktor Conroy. Der Ethnologe, der zum Lhakpa-Kloster will«, sagte Ray Haan.
Der Tibetaner streckte die Hand aus und sagte schlicht: »Ich freue mich, Doktor Conroy.«
Morton war beeindruckt. Was nicht nur an dem einwandfreien Englisch lag, das Tsamcho sprach. Er war auch sonst ein Mann, der in jeder Umgebung Eindruck gemacht hätte. Intelligent und hart. Eine Führerpersönlichkeit, trotz seiner Jugend. Männer dieses Schlages, dachte er, gehen keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Sie gingen ein paar Schritte von der Maschine weg und setzten sich auf eine Kiste. Im Hangar war Rauchen verboten, deshalb unterließ es Conroy, Tsamcho eine Zigarette anzubieten, obwohl er an dessen gelblich verfärbten Fingerspitzen sah, dass er ein starker Raucher sein musste.
»Devlin sagte mir», begann er, »dass Sie mich nach Tibet begleiten und mir bei den Mönchen des Kloster Lhakpa weiterhelfen wollen?«
»So ist es.«
»Warum tun Sie das?«
»Ich verspreche mir«, antwortete der Tibetaner einfach und ohne Pathos, »von Ihren Studien ein bestimmtes Echo in der Welt. Außerdem ist meine Anwesenheit im Kloster dringend gefordert.«
»Wie ist denn die Lage im westlichen Tibet?«
»Sie unterscheidet sich vom übrigen Land. Die Chinesen haben ihre Präsenz seit Dekaden immer mehr verstärkt, haben neue Straßen angelegt, Brücken gebaut und versuchen, auch die letzten Bastionen unseres tapferen Volkes zu zerschlagen.«
»Es gibt also noch immer Widerstand?«
Ein leichtes Lächeln huschte über Tsamchos Gesicht.
»Unser Volk ist ein Volk von Hirten, die ständig mit ihren Herden umherziehen. Es sind harte Bergbewohner, die sich nicht so leicht fremder Herrschaft unterwerfen, schon gar nicht der der Chinesen. Was haben Sie eigentlich mit Ihrer Frage bezweckt?«
»Ich war bislang der Meinung, dass das tibetanische Volk mit seinem buddhistischen Glauben jeder Art von Gewalt abgeneigt ist«, bemerkte Conroy in seiner Rolle als Ethnologe.
»So war es einmal«, erwiderte Tsamcho mit harter Stimme. »Doch dann kamen vor vielen Jahrzehnten die Chinesen, töteten unsere Männer, vergriffen sich an unseren Frauen und Töchtern. Vor langer, langer Zeit waren die Tibetaner bereits schon einmal fürchterliche Krieger, bis Buddha uns die Pfade des Friedens lehrte... Die Chinesen haben uns wieder in ein kriegerisches Volk zurückverwandelt. Und dafür hassen wir sie.«
Er hat recht, dachte Conroy. Bei Rungmar Thok haben sogar Frauen und Mönche gekämpft.
»Was ist mit euch beiden?«, rief Haan von der Maschine herüber. »Wenn ihr soweit seit, dann können wir!«
Sie gingen hinüber.
Conroy wandte sich an den Dolpo-Pa. »Ich sollte jetzt wohl besser meine Verkleidung anlegen, oder?«
Tsamcho nickte und zerrte ein Kleiderbündel aus der Kanzel. Es enthielt die landestypische Tracht der Tibetaner: grobe Wolljacke, Schuba und Mütze aus Schaffell sowie ein paar Rohlederstiefel. Conroy zog sich rasch um und zeigte sich Haan.
»Und, wie mache ich mich?«
Der Pilot und Schmuggler hatte seine Zweifel.
»Na ja. Aus einiger Entfernung wird keinem etwas auffallen, denke ich mal. Am besten ist, Sie schmieren sich bei der nächsten Gelegenheit Dreck ins Gesicht. Sie sind zu sauber, Mann!«
Conroy grinste. »Ich werde dran denken. Versprochen.«
Tsamcho und Conroy kletterten in die Kanzel, dann schob sich Haan nach vorne auf den Pilotensitz. Er aktivierte das Instrumentenbrett und rief die holographische Karte auf, danach wandte er sich an Tsamcho.
»Und Sie sind sicher, dass die Grenzpatrouille uns in Ruhe lassen wird?«
Der Dolpo-Pa nickte zuversichtlich. »Die Patrouille sollte den Phoksando-Pass eigentlich täglich kontrollieren, aber in letzter Zeit ist die Gegend für sie zu unsicher geworden. Der Grenzposten besteht nur aus einem Zug mit zehn Mann und einem Unteroffizier. Sie haben nur vier Kampfbuggys zur Verfügung, von denen einer oder zwei durch die Kälte ständig ausfallen. Ihre Basis ist in der Nähe von Rudok. Aber diese Patrouillen machen mir weniger Sorgen...«
»Sondern?«
»Es ist die chinesische Luftwaffe. Sie führt östlich von unserer Route regelmäßig Aufklärungsflüge durch, seit dort permanente Manöver abgehalten werden.«
»Hoverjäger?«, fragte Conroy.
»Stimmt genau.« Tsamcho schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne seines Kontursitzes. »Eine schöne Maschine, diese Vertidyne, aber ist sie auch den Jägern gewachsen?«
»Das reicht jetzt, Tsamcho«, mischte sich Haan ein. »Lassen Sie sich versichert sein, dass diese Maschine viel mehr ist, als Sie glauben. Sie werden es vielleicht sogar herausfinden. Heute noch. Wer weiß...« Haan lehnte sich noch einmal aus der Kanzel. »Erwarte mich in etwa vier Stunden zurück!«, rief er Parimandu zu. Dann löste er die Bremsen und erhöhte etwas die Drehzahl der Hubrotoren. Die Titanjalousien unter den Rotorblättern waren nach hinten gerichtet und übten Druck auf die Maschine aus. Langsam schwebte sie, zwei Handbreit über dem Hallenboden, ins Freie.
Der Pilot und Waffenschmuggler kontrollierte ein letztes Mal die Instrumente.
Sekunden später blieb der Erdboden unter ihnen zurück. Haan erhöhte schlagartig die Leistung der Motoren und zog den Steuerknüppel an den Bauch. Der Hoverjet schwang sich empor und in die Schlucht hinein. Zu beiden Seiten rasten hohe Felswände an der Besatzung vorbei. Riesig und drohend ragten die Bergwände vor ihnen auf. Haan ließ die Vertidyne höher und höher steigen, dann änderte er den Schubvektor – und die Maschine jagte mit einer Höllenfahrt zwischen zwei Gipfeln hindurch zu einem anderen Pass hinüber.
*
Mehr und mehr gewann Conroy den Eindruck, sich auf dem Mond zu befinden anstatt auf der Erde. Auf allen Seiten ragten gewaltige, schneebedeckte Gipfel empor, zwischen denen sich Ray Haan mit wahrhaft traumwandlerischer Flugkunst seinen Weg suchte. Trotz der Tatsache, dass es nach Mitternacht war. Über den Bergspitzen funkelten die Sterne wie Diamanten auf schwarzem Samt – viel heller und strahlender, als Conroy sie jemals im Weltraum erlebt hatte.
Die »Mondlandschaft« schien kein Ende zu nehmen.
Mehr als einmal sackten sie in Luftlöchern bedrohlich tief durch.
Dann, als sie von einer Schlucht in eine andere überwechselten, hätte Conroy schwören können, dass der Hoverjet backbords die Felswand berührte. Aber Haan zeigte keine Reaktion. Seine Hände lagen so ruhig und sicher wie zuvor auf den Flugkontrollen.
Ein andermal rutschten sie gerade noch so über einen Bergrücken hinweg; Schnee stäubte hoch; hinter dem Vertidyne bildete sich eine lange Wirbelschleppe aus Eiskristallen. Schneebretter lösten sich unter dem Schalldruck der Rotoren.
Ein kleiner See glitzerte im Mondlicht, nicht mehr als hundert Meter unter ihnen. Er verschwand nach hinten, als hätte es ihn nie gegeben.
»Da!«, übertönte Tsamchos Stimme das Brüllen der Hubrotoren. Er deutete nach vorn. »Der Phoksando-Pass!«
Der gewaltige Pass lag vor ihnen. Steil stieg er geradewegs in den Himmel und schien kein Ende nehmen zu wollen.
Haan erhöhte den Aufwärtsschub; die Maschine stieg, aber im gleichen Maß stieg auch das Gelände unter ihnen an. Es war wie in einem Angsttraum.
Mit angehaltenem Atem wartete Conroy auf den Aufschlag, der unweigerlich kommen mußte. Doch er wartete zum Glück vergeblich. Nichts geschah. In der lächerlich geringen Höhe von nur zehn Metern überwanden sie den Scheitelpunkt des Passes. Auf der Backbordseite glitten dunkle Felswände an ihnen vorüber, auf der Steuerbordseite weißfunkelnde Gletscher. Das Gelände fiel wieder leicht – und unter ihnen erstreckte sich, so weit der Blick reichte, ein dunkles, vereistes Hochplateau.
Im fahlen Licht der Instrumentenbeleuchtung sah Conroy das Grinsen auf Haans Gesicht.
»Es wird Sie vielleicht interessieren, Doktor, dass wir uns in diesem Augenblick über Tibet befinden!«, rief der Waffenschmuggler. »Ich werde eine kleine Kursänderung vornehmen, um Rudok und der Basis der Grenzpatrouille nicht zu nahe zu kommen. Es hat keinen Sinn, unser Kommen auch noch anzukündigen.«
Die Vertidyne beschrieb eine scharfe Kehre nach Westen und kam dann wieder in die Waagerechte. Der Ausblick war überwältigend. Bis zum Horizont erstreckte sich eine einförmige Steppe. Hier und da zeichneten sich Schluchten und Taleinschnitte als schwarze Schatten ab, da das Mondlicht nur die flachen Teile des Landes beschien.
Während Haan den hochfrisierten Hoverjet in einen weiten Talkessel steuerte, warf Conroy einen Blick auf die Schirmanzeigen. Das Außenthermometer zeigte beinahe vierzig Grad unter Null. Unwillkürlich schauderte er. Eine rein subjektive und rationell nicht nachvollziehbare Empfindung; in der Kabine war es wohlig warm.
Conroys Blick richtete sich nach Westen, wo weitere eisbedeckte Gipfel in den nächtlichen Himmel ragten, von tiefen Einschnitten unterbrochen. Etwas fesselte seine Aufmerksamkeit. Es schien, als stießen Lichtfinger ultrastarker Scheinwerfer in die Nacht.
Conroy tippte Tsamcho auf die Schulter. »Was ist das?«, machte er den Dolpo-Pa aufmerksam.
»Das Tor zur Hölle«, kam dessen knappe Antwort.
»Merkwürdiger Name für einen Pass«, meinte Conroy.
»Der Pass heißt auf den Karten Thok Po«, gab ihm Tsamcho zu verstehen, »aber das, was dahinterliegt, bezeichnen wir als das ›Tor zur Hölle‹!«
»Weshalb?«
»Unsere Schamanen warnen davor, dass dort sich die Hölle öffnen würde, um die ganze Erde zu verschlingen.«
»Im Ernst?« Conroy war versucht zu lachen. Eine mögliche Erklärung für die tibetanische Bevölkerung, dachte Conroy, und vermutlich durch geschickte Propaganda verbreitet. Pekings Agitatoren verstanden ihr Handwerk. In jeder Hinsicht.
Der SY.N.D.I.C.-Agent hatte längst erkannt, dass sich hinter dem Pass Basis Alpha befand; während Tsamcho redete, hatte er die Karte auf dem Pilotendisplay konsultiert. Die Koordinaten stimmten mit denen überein, die er über die Lage der Basis von Angus Santana erhalten hatte.
»Natürlich nicht«, erwiderte jetzt Tsamcho. »Wir aufgeklärten Tibetaner wissen, dass sich in diesem Hochtal ein ehemals internationaler und jetzt rein chinesischer Laborkomplex befindet, in dem nach unseren Informationen eine Superwaffe entwickelt wird. Etwas Hochmobiles und Hochintelligentes. Eine Endzeitwaffe, mit deren Hilfe die Chikoms die Welt übernehmen wollen.«
Haan ließ keinen Moment die ständig wechselnde, holographische 3-D-Darstellung des Geländes unter der Maschine aus den Augen, die ihm der Computer des Bodenfolgeradars im Display präsentierte. An dessen unterem Rand flimmerten die Datenketten und machten Angaben über die Höhe. Natürlich war der Bordcomputer in der Lage, auf Autopilot umzuschalten und die drei Männer in der Vertidyne zu ihrem Ziel zu bringen. Doch Ray Haan zog es vor, die Kontrolle über den Flug keinen Augenblick aus der Hand zu geben. Sein Hoverjet war zwar eine ehemalige Militärmaschine, aber alle Bewaffnung war daraus entfernt worden, der Computer auf keine Kampfsituation programmiert. Für Haans Begriffe würde der Autopilot im Notfall nicht schnell genug reagieren; er übernahm deshalb bei solch gefährlichen Missionen wie dieser das Fliegen lieber selbst.
Sie durchquerten den Talkessel, der von einem breiten, zugefrorenen Flusslauf durchschnitten wurde. An seinem Ende lag wieder weitgehend offenes Gelände unter dem Licht des Mondes.
»Verdammt!«, rief Haan plötzlich alarmiert. »Wir bekommen Besuch!«
Und dann ging alles rasend schnell.
Die Vertidyne erwachte zu schrill heulendem Leben, als Haan irgendeine Taste drückte. Das Brummen der Motoren bekam einen mächtigeren Klang, und der Andruck presste die Männer in die Sitze.
Conroy blickte nach draußen, ohne etwas zu sehen. Er wandte sich Tsamcho zu, der neben ihm saß und eine der beiden schweren AutoMags auf dem Schoß hatte, in dessen Magazin er Ersatzpatronen schob. Conroy griff nach seiner MDK und überprüfte sie. Allerdings, sagte er sich, wenn es wirklich ernst wurde, würde ihm die relativ kleine Handfeuerwaffe nicht viel helfen. Er steckte sie wieder weg und griff nach der zweiten AutoMag.
»... aufschließen, Roter Drache Sieben. Halten Sie Kontakt...«
»Verstanden, Blauer Drache Eins«, krächzte eine Stimme auf Neuchinesisch durch die Lautsprecher.
Ray Haan hatte den Funkverkehr der sie verfolgenden Rotte auf seine Instrumentenkonsole gelegt.
Eine andere Stimme: »Blauer Drache Eins... hier Führer Grün. Wir kommen euch zur Hilfe. Wir schließen die Vektoren sieben und acht.«
»Verstanden, Führer Grün... nehmen wir ihn in die Zange... Diesmal kriegen wir diesen verfluchten Hund von Schmuggler...«
Haan stieß ein Knurren aus; er stellte den Hoverjet auf die linke Kante und ging zum Sturzflug über, wartete drei Sekunden, dann zog er ihn wieder hoch, um den Sturz abzuflachen, kippte die Vertidyne auf die rechte Kante, schoss im Messerflug durch die enge Schlucht, in die er eingetaucht war. An ihrem Ende zog er in einer raschen Folge von Rollen wieder hoch.
Die Verfolger fielen zurück.
»Mit mir doch nicht«, knurrte Haan mit einem wilden Grinsen auf den Lippen. »Da müsst ihr euch schon wärmer anziehen, ihr Möchtegernpiloten.«
»Ich dachte, es würde alles glattgehen«, stieß Conroy mit gepresster Stimme hervor. Die schnellen Fluglagenwechsel machten ihm mehr zu schaffen, als ihm lieb war.
»Man kann sich ja mal irren, oder?«
»Hoffen wir, dass dies Ihr letzter Irrtum war«, meinte Conroy in dem schwachen Versuch, zu scherzen.
»Die Kerle müssen vom Manövergebiet um den Thok Po gekommen sein. Wahrscheinlich war ihnen das ständige Im-Kreis-Fliegen zu langweilig. Die wollten ein bisschen Spaß haben. Den kriegen sie jetzt.«
»... ist uns wieder entkommen, Grün Eins«, kam eine ferne Stimme aus dem Lautsprecher.
»... einfach zu gut, dieser Hundesohn...«, eine andere Stimme.
»... sollten wir in unserer Einheit haben!« Die dritte Stimme konnte ihre Bewunderung für die Flugkünste des Verfolgten nicht verhehlen.
Eine scharfe Stimme brachte die Jägerpiloten zum Schweigen: »Achtung, Drachenrotte! Haltet Funkdisziplin! Taktikbeurteilungen könnt ihr am Ende der Jagd abgeben, Verstanden?«
»Verstanden...«
»Verstanden...«
Die schwerbewaffneten Kampfhover der PPB-Miliz schlossen wieder auf, bildeten eine Krallenformation, die sich jeden Moment um ihr Opfer zu schließen drohte. Auf den Taktikkonsolen hingen die Daumen der Bordschützen nur Millimeter über den roten Druckschaltern, pressten sie nieder, als die winzigen Zielkreuze der Feuerleitautomaten über dem Symbol einrasteten, das die verfolgte Maschine symbolisierte.
Aber da sank der Vertidyne des Waffenschmugglers in einer mit den Augen nicht verfolgbaren spiralförmigen Drehung schon wieder nach unten und aus der Umklammerung heraus.
Die rosaroten Strahlbahnen der Plasmakanonen verpufften wirkungslos in der Nacht.
Haan drückte den Bug des Vertidyne noch weiter nach unten und drehte langsam nach rechts und wieder zurück nach links. Dabei vollführte er eine wellenförmige Vorwärtsbewegung. Der Flug glich einem Höllenritt über der verkarsteten Hochebene, die sich im Licht des Vollmondes wie eine surrealistische Landschaft unter ihnen ausbreitete. Dann zog Haan den Hoverjet in einem Neunzig-Grad-Winkel tausend Meter höher, legte ihn gerade und raste nach Osten.
»Genug gespielt«, ließ sich seine raue Stimme in der Kanzel vernehmen. »Mein Bedarf an Luftkämpfen ist gedeckt.«
Er betätigte eine Reihe schneller Schaltungen.
Aus den Flanken des Vertidyne schossen eine Reihe elektronischer Täuschkörper, deren Auswirkungen Conroy und Tsamcho im Funk mitbekamen
»... Blauer Drache Eins – Blauer Drache Eins!«, knallte eine Stimme aus den Lautsprechern. »Habe Störungen auf meiner Taktikkonsole...«
Eine andere Stimme, verblüfft und alarmiert: »Grüner Drache Sechs hier. Habe den Eindringling verloren... «
»Abdrehen! Bleib mir vom Leib, Grüner Drache. Um Himmels Willen, abdrehe... aaaah!«
Der Schrei brach unvermittelt ab.
Hinter Haans Hover blühten die roten Blumen zweier verschmelzender Explosionen auf und machten kurzfristig die Nacht zum Tag. Eine glühende Trümmerwolke regnete wie ein bengalisches Feuerwerk auf die vereiste Ebene hinab.
»Bei Konfuzius, was geschieht da...?« Die Stimme war voller Frustrationen. »Meine Maschine macht, was sie will. Ich...«
Im Funk herrschte ein heilloses Durcheinander von Stimmen, Befehlen und Anordnungen, die niemand zu befolgen schien, weil jeder mit sich selbst und den verrücktspielenden Anzeigen zu tun hatte.
Auf einem fernen Kanal kam die Stimme des Einsatzführers in der Jägerleitzentrale des Militärstützpunktes am Pass durch, und mit schneidendem Befehlston verschaffte er sich Gehör.
»Abbrechen – Abbrechen! Schaltet eure Flugcomputer ab... fliegt manuell in die Basis zurück.«
»Verstanden...«
Minuten später war der nächtliche Himmel leergefegt von Verfolgern.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich Haans Vertidyne schon wieder weit im Osten; er hatte die Triebwerke auf leise geschaltet und glitt nahezu unhörbar über die mondbeschienene Ebene.