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3.

Der Staat in Zeiten der Krise –

Starker Staat in geschwächter Wirtschaft?

Corinne M. Flick im Gespräch mit Rudolf Mellinghoff, bis Juli 2020 Präsident des Bundesfinanzhofs, am 7. April 2020

Corinne Michaela Flick: Lieber Herr Mellinghoff, ich möchte heute mit Ihnen über die Auswirkungen der Krise sprechen. Die staatlichen Hilfsprogramme sind die größten, die wir seit der Gründung der Bundesrepublik gesehen haben. Reichen die zahlreichen Hilfsprogramme der Regierung und der EZB für die betroffenen Unternehmen und Privatpersonen? Und kommen sie rechtzeitig?

Rudolf Mellinghoff: Da liest und hört man sehr Unterschiedliches. Teilweise liest man bereits in den Sozialen Medien von ganz beglückten Kleinunternehmern und auch Selbstständigen, die sehr rasch, innerhalb von wenigen Tagen, Hilfe erhalten haben. Wir hören natürlich auch von anderen, die länger auf das Geld warten müssen. Das ist sehr unterschiedlich. Bei der enormen Zahl der betroffenen Betriebe, Freiberufler oder Selbstständigen muss man sich darauf einrichten, dass es etwas länger dauert. Gegenwärtig werden viele notwendige Prüfungen unterlassen, damit die Menschen rasch an ihr Geld kommen, aber das Ganze muss natürlich später auch nachjustiert werden.

CMF: Erleben wir durch diese Hilfsprogramme die Rückkehr des starken Staates?

RM: Damit wird ja unterstellt, dass wir einen schwachen Staat haben. Ich würde da eher das Gegenteil behaupten, denn der Staat verfügt seit vielen Jahren über enorme Finanzmittel, über ständig steigende Steuereinnahmen. Der Staat hat in den letzten Jahren dieses Geld auch immer ausgegeben, keine Rücklagen gebildet und allenfalls einen ausgeglichenen Haushalt zustande gebracht. Das bedeutet natürlich, dass dieser Staat sich immer schon sehr stark in unser Leben eingemischt hat. Wenn wir jetzt sagen, wir haben einen starken Staat, weil er in der Lage ist, durch die über viele Jahre ausgeglichenen Haushalte hohe Kredite aufzunehmen, dann ist das sehr begrüßenswert. Nur dadurch sind wir in der Lage, diese sehr schwierige Phase überhaupt zu meistern. Das ist ein großes Glück, dass wir in der Bundesrepublik über diese Stabilität unserer Finanzen verfügen.

CMF: Wird der Staat stärker, weil er jetzt durch die Programme auch mehr leisten kann?

RM: Der Staat nimmt für sich sehr viel mehr Eingriffsbefugnisse in die Freiheit der Bürger in Anspruch. Wir haben enorme Freiheitsbeschränkungen. Das setzt einen starken Staat, der dies auch kontrolliert und umsetzt, voraus. Wir haben natürlich auch unter Verfassungsrechtlern bereits Diskussionen, was überhaupt im Rahmen einer solchen Krise an Freiheitsbeschränkungen zulässig und verfassungsgemäß ist. Ich halte bisher alle ergriffenen Maßnahmen für sinnvoll. Die eine oder andere Maßnahme mag über das Ziel hinausschießen, aber dafür haben wir eine funktionierende Gerichtsbarkeit, die viele dieser Maßnahmen noch überprüfen wird und gegebenenfalls auch Anpassungen fordern wird.

CMF: Welche Steuermaßnahmen können der Wirtschaft in der Krise helfen bzw. diese nach der Krise wieder in Schwung bringen?

RM: Es ist ja so, dass in dem Corona-Paket gewisse Maßnahmen vorgesehen sind, zum Beispiel Steuerstundungen, Stundungen von Vorauszahlungen und Ähnliches. Meines Erachtens reichen diese Maßnahmen in der gegenwärtigen Krise nicht aus. Man muss aus meiner Sicht den Verlustausgleich wesentlich verbessern, insbesondere einen Verlustrücktrag für die vergangenen Jahre eröffnen und das Rücktragsvolumen deutlich ausdehnen, damit die Unternehmen relativ rasch an Liquidität kommen. Auch die Mindestbesteuerung sollte ausgesetzt werden. Was immer wieder vergessen wird, ist, dass wir ja nicht nur das Geld von den Unternehmen einnehmen, sondern dass die Wirtschaft mit zahlreichen Verwaltungsmaßnahmen betraut ist. Das führt zu zusätzlichen Belastungen. Ich finde, in einer solchen Krise muss man schon überlegen, ob man die Wirtschaft nicht von diesen Dingen, zumindest vorübergehend, entlastet.

CMF: Erste Stimmen fragen, wie die enormen Ausgaben des Staates wieder ausgeglichen werden. Ist es im Moment zu früh, über die Gegenfinanzierung zu sprechen?

RM: Es werden bereits Vorschläge eines Lastenausgleiches oder einer Vermögensabgabe gemacht, aber ich finde es jetzt wirklich viel zu früh, über eine Gegenfinanzierung zu sprechen. Wir müssen doch erst einmal sehen, welches Volumen diese Maßnahmen nachher im Ergebnis haben. Können wir sozusagen diese vorübergehende Erhöhung der Staatsverschuldung als ausreichende Maßnahme abbuchen oder müssen wir hingehen und andere, schärfere Maßnahmen in Anschlag bringen? Ich halte eine solche Diskussion für verfrüht. Man kann später, wenn man einen Überblick hat, darüber diskutieren, aber nicht heute.

CMF: Eine einmalige Vermögensabgabe von fünf Prozent für Multimillionäre wurde bereits ins Gespräch gebracht. Was halten Sie von so einem Vorschlag?

RM: Das setzt erst einmal voraus, dass man weiß, was ein Multimillionär ist. Ich kenne keinen Multimillionär, dessen Vermögen nicht im Unternehmen oder in Kapitalanlagen angelegt ist, die ja nicht einfach nur dazu da sind, um Liquidität zu produzieren, sondern im Wesentlichen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Man kann natürlich der Wirtschaft noch fünf Prozent ihrer Finanzierung entziehen, wenn man meint, das wäre die richtige Maßnahme. Ehrlich gesagt halte ich das für einen etwas kurzsichtigen Vorschlag. Davon abgesehen: Wenn man eine Veränderung vornehmen und vermögende Unternehmen und Privatpersonen steuerlich höher belasten will, dann geht das auch nur unter Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Man muss sehr genau überlegen, wie man das umsetzt, indem man zum Beispiel die Progression erhöht. Darüber kann man diskutieren, aber von einem Schlagwort wie „5 % von Multimillionären“ halte ich gar nichts.

CMF: Es gibt ja das Gebot „Der Staat hat kein Recht, Steuern zu erfinden“. Würde eine solche Abgabe unter Steuererfindung fallen?

RM: Wenn man die Steuerprogression anhebt, dann würde das nicht unter Steuererfindung fallen. Im Übrigen muss man sagen, die Vermögenssteuer steht nach wie vor in Artikel 106 des Grundgesetzes. Es ist nicht so, dass eine Vermögenssteuer etwas ist, was jetzt aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht stattfinden kann. Da geht es mehr um die Frage, wie kann überhaupt eine Vermögenssteuer ausgestaltet sein. Das Bundesverfassungsgericht hat sie als „Soll-Ertragsteuer“ definiert; das heißt, sie muss aus den Erträgen gezahlt werden können und soll den Bestand des Vermögens nicht angreifen.

CMF: In der Vergangenheit gab es ja oft Ansätze zur Steuerreform. Bietet diese Krise auch eine Chance, eine solche Steuerreform einzuleiten?

RM: Krisen sind immer ein Anlass für umfassende Reformen gewesen. Das hat man auch nach dem Ersten Weltkrieg gesehen. Unser heutiges Steuersystem basiert im Grunde genommen auf einem Kraftakt aus den Jahren 1919/20, als die Steuerordnung völlig neu gestaltet worden ist. Die Gemeinden sehen jetzt auch, wie schwierig es ist, ihre Haushalte mit der Gewerbesteuer zu finanzieren. Die erste Maßnahme wäre für mich die Gewerbesteuer, diesen Fremdkörper im Vergleich mit anderen Staaten, abzuschaffen und in eine neue, wirtschaftskraftbezogene Steuer für die Kommunen umzuwidmen. Dafür gibt es bereits viele Vorschläge. Ich bin sehr hoffnungsfroh, dass diese Krise auch Anlass und Anstoß sein kann, Strukturreformen im Steuerrecht umzusetzen.

CMF: Viele EU-Staaten, allen voran Italien, Spanien und Frankreich, fordern die Einführung von Corona-Bonds, eine gemeinsame EU-Schuldenaufnahme, um finanziell schwer angeschlagene Staaten mit Geld zu versorgen. Andere Mitgliedstaaten, zum Beispiel Deutschland, sind dagegen. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion?

RM: Diese Diskussion um die Corona-Bonds, die ja im Grunde genommen nichts anderes als die Fortsetzung der Diskussion um die Eurobonds ist, war immer ein Spaltpilz in der EU. Viele Mitgliedstaaten wie Deutschland und die Niederlande lehnen dies ab, weil sie keine Vergemeinschaftung von Schulden wollen und weil sie die Verantwortlichkeit der einzelnen Mitgliedstaaten gewahrt wissen wollen. Es gibt natürlich den Vorschlag, dies über den European Stability Mechanism (ESM) zu machen. Der ESM hat das Problem, dass die Ausschüttung dieser Gelder teilweise an sehr rigide und strikte Vorgaben gebunden ist. Dazu wären wir in der gegenwärtigen Situation überhaupt nicht in der Lage. Ich würde vielleicht einen anderen Weg vorschlagen. Ich glaube, wir haben bei Griechenland gesehen, dass wir ernsthaft darüber nachdenken müssen, Ländern mit dramatischer Haushaltslage wie jetzt Italien und Spanien Finanzmittel zukommen zu lassen, die sie in eigener Verantwortung und ohne externe Kontrolle verwenden können. Natürlich nicht uferlos, aber doch in einem gewissen Umfang. Möglich wäre so etwas wie ein Corona-Fonds, vergleichbar vielleicht mit einem Strukturfonds auf europäischer Ebene, in den Mitgliedstaaten nach ihrer wirtschaftlichen Kraft einzahlen. Dann sagt man eben ehrlich: „Wir stellen dieses Geld zur Finanzierung dieser Krise vorübergehend auch als verlorenen Zuschuss zur Verfügung“. Das darf natürlich nur ein begrenztes Volumen haben, aber ich frage mich, ob das nicht eine ehrlichere und eine solidarischere Aktion wäre.

CMF: Sie haben jetzt ein wichtiges Wort genannt: „solidarisch“. Die Solidarität ist eines der Kernelemente der EU.

RM: An Solidarität hat es in den letzten Wochen gemangelt. Ich habe nie die Kritik an den Grenzschließungen verstanden, weil ich das eigentlich nur als Fortsetzung der Kontaktbeschränkungen sehe, die wir auf nationaler Ebene haben. Aber das Verbot, Hilfsgüter in die am schwersten betroffenen Staaten zu senden, das hat mich doch sehr irritiert. Wenn Sie sehen, wie die Menschen in Italien sterben, und dann sie damit zu konfrontieren, dass sie weder Atemmasken noch Schutzanzüge bekommen, das tut schon weh, und das tut auch diesen Staaten weh.

CMF: Ein ganz anderes Thema – Sie als Präsident des Bundesfinanzhofs führen jetzt eine sehr wichtige Institution unseres Landes durch diese Krise, was sind dabei die größten Herausforderungen?

RM: Wir sind in einem Spagat. Einerseits müssen wir unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen. Das bedeutet, dass wir alle Maßnahmen ergreifen müssen, um so wenig Kontakt wie möglich zu haben. Auf der anderen Seite sind wir dazu verpflichtet, Rechtsschutz zu gewähren.

CMF: Die Gerichte sind wichtig für unser Land.

RM: Das ist richtig. Die Gerichte müssen auch weiter funktionsfähig bleiben. Dass es natürlich in dieser Umstellungsphase gelegentlich zu Verzögerungen kommen kann, damit müssen wir leben. Die Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit aber ist gewährleistet – im Übrigen in allen Ländern und allen Gerichten, mit denen ich in Kontakt bin.

CMF: Wird sich unsere Gesellschaft durch die Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung, und was ist Ihre größte Hoffnung?

RM: Meine größte Befürchtung ist, dass wir tiefgreifende, strukturelle Schäden im Umgang der Menschen miteinander und in unserer Wirtschaft haben. Ich kann mir eigentlich keine schlimmere Situation vorstellen, als dass zum Beispiel der gesamte Automobilsektor einen dramatischen, langfristig nachhaltigen Schaden erleidet, weil das die Stütze unserer Wirtschaft ist. Wenn diese Bereiche wegbrechen, dann stehen wir vor einer extrem schwierigen Situation. Die größte Hoffnung ist eine große gelebte Solidarität. Ich erlebe in vielen Bereichen, dass die Menschen sich gegenseitig unterstützen. Wenn man dann weiter denkt, muss man anerkennen, wie wichtig die Fortschritte in der Digitalisierung sind. Wir erleben auf diesem Gebiet gewaltige Sprünge, weil die Menschen nun darauf angewiesen sind. Wenn das noch durch ein Digitalministerium begleitet werden würde, das diese Dinge sinnvoll strukturiert, fördert und weiterbringt, dann würden wir auf diesem Gebiet wirklich Fortschritte machen. Wenn das dann noch in einer schönen Steuerreform münden würde, wäre ich glücklich.

Zu diesem Thema:

Gespräch 5: Monika Schnitzer

Gespräch 15: Stefan Korioth

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