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7.

Eigenverantwortung im Sinne von Solidarität und Freiheitsrechten

Corinne M. Flick im Gespräch mit Ingolf Pernice, Professor für Öffentliches Recht sowie Gründer und Direktor i.R. des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft, am 28. April 2020

Corinne Michaela Flick: Im Kampf gegen das Corona-Virus setzen viele asiatische Staaten Technologien zur Überwachung ein. In westlichen Demokratien gibt es ebenfalls den Wunsch, die Bewegungsdaten der Bürgerinnen und Bürger zu analysieren. Die Krise scheint die Nutzung neuer Technologien im besonderen Maße zu beschleunigen. Genehmigungsverfahren werden abgekürzt. Sehen Sie darin eine beunruhigende Entwicklung?

Ingolf Pernice: Nein, im Prinzip nicht. Es ist gut, dass Genehmigungsverfahren schneller abgeschlossen werden. Technologien müssen gerade bei solchen Krisen wie im Moment schnell entwickelt werden. Allerdings sollte die Sorge um Datenschutz und andere Dinge, die durch einen Missbrauch damit verbunden sein könnten, nicht zu leichtgenommen werden. Das heißt, die Genehmigungsverfahren sind wichtig, aber sie sollten nicht zu lange dauern. Am Ende ist das eine Frage der Abwägung.

CMF: Ein wichtiger Aspekt der Debatte über digitales Tracking ist die Frage, ob es auf freiwilliger Basis erfolgt oder für alle Bürger verpflichtend ist. Die europäischen Länder tendieren dazu, es als freiwillige Option anzubieten. Was ist hier Ihre Meinung?

IP: Ich bin an sich dafür, Freiwilligkeit mit Solidarität und Selbstverantwortung zu verbinden. Ich würde es immer unterstützen, die Menschen darum zu bitten, solche Tracking-Software freiwillig runterzuladen und zu nutzen, um der Rückverfolgung des Corona-Virus besser dienen zu können. Ich habe gewisse Zweifel, ob Freiwilligkeit in einem solchen Fall genügt. Man sollte es aber zunächst einmal versuchen und erst im zweiten Schritt daran denken, dass auch eine obligatorische Einführung nicht außerhalb der Möglichkeiten steht.

CMF: Es gibt auch die Möglichkeit, dass Informationen nicht zentral von Regierungen gesammelt werden, sondern dass die Bürger über ein Peer-to-Peer-System untereinander erfahren, ob sie in Berührung mit dem Virus gekommen sind. Finden Sie so eine Peer-to-Peer-App besser als eine App, die die Information an den Staat weitergibt?

IP: Ich glaube nicht, dass Informationen an staatliche Behörden persönlich identifizierbar sein müssen. Wie Sie bereits sagten, gibt es Möglichkeiten und Technologien, um Informationen anonymisiert weiterzugeben. Es ist also denkbar, dass ich mir eine App herunterlade, die über Bluetooth aufzeichnet, welche Personen mit mir in den letzten Tagen in näherem Kontakt waren und wie lange. In dem Fall, dass bei mir eine Infektion festgestellt wird, kann diese Technologie all diese Personen automatisch und anonym informieren: „Du warst mit jemandem in Kontakt, der positiv getestet wurde. Bitte begib Dich in Quarantäne und beobachte genau, ob Symptome auftreten.“ Der Trick dabei ist, dass weder ich als möglicher Infektant noch die anderen als möglicherweise Infizierte identifiziert werden und trotzdem alle über diese App benachrichtigt werden, dass ein Problem vorliegt. Das würde ich absolut für das ideale Instrument zur Eindämmung der Ansteckung ansehen, und es würde eigentlich niemandem Schaden bringen.

CMF: Jetzt sind wir bei der Verantwortung des Bürgers, der dann auch handeln muss und sich selbst zurückzieht.

IP: Ja. Zudem hat derjenige, der die App runterladen muss, keinen unmittelbaren, eigenen Vorteil daran. Vermieden wird nur, dass die Person, die infiziert wurde, andere ansteckt – wenn sie sich denn isoliert. Diese Verantwortung kann die andere Person haben und ausüben. Darauf muss man pochen: „Sorge dafür, dass andere nicht durch dich gefährdet werden.“ Ob diese Eigenverantwortung jedes Einzelnen im Sinne der Solidarität reicht, das ist die Frage. Wenn nicht, dann brauchen wir ein Gesetz oder eine Verordnung, die das zur Pflicht macht.

CMF: Brauchen wir in dieser Situation Unternehmen wie Google/Alphabet, die länderübergreifende Informationen nachverfolgen und speichern können?

IP: Wenn es darum geht, Trends zu erkennen, wo bestimmte geografische Schwerpunkte in der Verbreitung des Virus sind, können Unternehmen wie Google möglicherweise Informationen bieten, zum Beispiel auf Basis der Anfragen an ihre Suchmaschine. Ich würde dies aber nicht als ausreichend gegenüber offiziellen Informationen zur Verbreitung des Virus, etwa vom Robert Koch-Institut, ansehen. Ich war generell überrascht, dass wir uns zunächst einmal völlig auf die Informationen der Johns-Hopkins-Universität gestützt haben. Die mögen wissenschaftlich hervorragende Methoden haben, aber ich frage mich, woher die Universität die Informationen über Ansteckung und Verbreitung des Virus, zum Beispiel in Deutschland, zuverlässig haben soll, wenn nicht vom Robert Koch-Institut oder anderen Institutionen wie unseren Gesundheitsämtern. Diese sammeln schließlich aufgrund des Infektionsschutzgesetzes und der Meldepflichten der Ärzte sowie der behandelnden Institutionen an erster Stelle solche Informationen. Ich würde also antworten, dass Unternehmen ergänzende Informationen bieten können, vielleicht auch als staatlich unabhängige Kontrollinformationen, aber nicht die Grundlage der Basisinformationen, die offiziell geliefert werden sollten. Ich gründe diese Meinung auf einem Grundvertrauen, dass die von unserem Staat gesammelten und herausgegebenen Informationen auch stimmen.

CMF: Vertrauen in unsere Staaten – das kam auch in anderen Gesprächen heraus. Dennoch hat die Geschichte gezeigt, dass viele Staaten nach einer Krise nicht mehr bereit waren, ihre Ermächtigungen, die sie aufgrund bestimmter Notstände bekommen haben, wieder aufzugeben. Sehen Sie das Risiko, dass jetzt eingeführte Überwachungstechnologien zur Normalität werden?

IP: Mein Vertrauen ist nicht nur in unsere Institutionen und unseren Staat groß, sondern auch in unsere Öffentlichkeit, unsere Medien, in uns selbst als Gesellschaft. Daher würde ich sagen: Nein, diese Gefahr besteht nicht. Sie besteht nicht, wenn wir wachsam bleiben und uns nicht von den schönen Worten derjenigen, die verantwortlich sind, einlullen lassen. Ich denke, dass die Wachsamkeit in Deutschland, ebenso in Österreich, Frankreich und auch Italien, ausreichend groß ist, sodass wir unsere Institutionen notfalls dazu bringen werden, diese Maßnahmen wieder abzuschaffen. Wenn wir eine App haben, in der Daten Peer-to-Peer verschlüsselt sind und in die nicht heimlich irgendwelche Backdoors für den Staat eingebaut wurden, dann bleiben alle Informationen unter uns und das Ganze eine gesellschaftliche Angelegenheit. Wenn wir dazu noch eine automatische Löschung der Kontaktinformationen sicherstellen, beispielsweise dass Daten, die älter als 14 Tage sind, automatisch gelöscht werden, dann habe ich auch keine Befürchtung, dass es in Bezug auf das Thema Überwachungsstaat zu Problemen kommt. Entsprechende Löschungsmechanismen oder Pflichten haben wir ja auch im Datenschutzgesetz. Notfalls wird das durch Whistleblower, aber im Grunde auch durch institutionelle Kontrollen verhindert. Meine Sorge ist jedenfalls in diesem Fall nicht so groß, dass ich jegliche Datensammlung und Überwachung im Rahmen der Corona-Krise ablehnen würde. Damit würden wir den Vorteil dieser Technologien, deren Einsatz wir im Einzelfall entscheiden müssen, außer Acht lassen. Es geht ja nicht nur um die Rettung von Menschenleben, es geht auch um die Bewegungsfreiheitsverbote und um die Schließung von Geschäften, Betrieben und Dienstleistungsunternehmen, von Schulen und Universitäten. Der volkswirtschaftliche Schaden, der damit verursacht wird, kann ebenfalls zu vielen menschlichen Tragödien führen. Wenn wir eine Technologie haben, die es uns erlaubt, diese Verbote zu lockern, weil wir eine gewisse Kontrolle über die Verbreitung des Virus sicherstellen können, dann finde ich, muss man diese Technologie auch nutzen.

CMF: Sie haben es jetzt schon teilweise beantwortet, aber brauchen wir Richtlinien, um eine solche Balance zwischen Überwachungstechnologie und unseren Freiheitsrechten zu finden? Wäre es hilfreich, wenn wir uns grundsätzlich Gedanken darüber machen?

IP: Ja, aber das ist nichts Neues. Wir haben das Problem der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit in vielen Bereichen schon immer. Eine Frage wäre, was wir aus unseren jetzigen Erfahrungen für das allgemeine Problem der Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit lernen können. Gehen wir in der Corona-Krise zu weit in Richtung Sicherheit oder nicht? Wenn wir zu weit gegangen sind und wir nachher einen diktatorischen Überwachungsstaat haben, dann ist die Sache in den Brunnen gefallen. So weit muss es aber nicht kommen. Wenn wir behutsam über Methoden wie die Überwachung durch Apps nachdenken und immer im Bewusstsein behalten, dass wir Maßnahmen im Zweifel auch wieder abschaffen können – dafür haben wir entsprechende Mechanismen oder Verfahren –, dann denke ich, dass wir für das Grundproblem „Freiheit/Sicherheit“ aus der Corona-Krise viel lernen können. Ich würde aber nicht sagen, dass wir allgemeine Richtlinien aufstellen, Prinzipien diskutieren oder Ethikräte Gutachten anfertigen lassen müssen, bevor wir überhaupt Maßnahmen gegen das Virus ergreifen. Sonst sind zu viele Leute tot. Vielleicht kann man trotzdem die Prinzipienebene im Kopf behalten und Ethikräte dazu veranlassen, die Praxis kritisch zu betrachten, um eben aus der Erfahrung dieser Praxis die Prinzipien weiterzuentwickeln und Grundsatzüberlegungen dazu anzustellen, wie weit wir in der Einschränkung der Freiheit gehen können. Kurz und knapp: Das Denken über Prinzipien darf nicht den absoluten Vorrang haben und konkrete Maßnahmen ausschließen, die sich prima facie aufdrängen, um Menschenleben zu retten.

CMF: China hat ein QR-Code-basiertes Farbsystem eingeführt. Nach diesem ist es Bürgern nur erlaubt, sich frei zu bewegen, wenn sie einen grünen Code auf ihrem Telefon vorweisen können. Dieser belegt, dass sie in der letzten Zeit keine Berührung mit Covid-19-Infizierten hatten. Können Sie sich ein solches System auch in Europa vorstellen, um die Quarantäne-Maßnahmen zu lockern, oder würden Sie so etwas für unsere westlichen Demokratien ausschließen?

IP: Das Grüne-Punkt-System Chinas klingt erst einmal sehr verführerisch. Es setzt aber eine totale Überwachung voraus, um festzustellen, ob jemand tatsächlich mit Corona-infizierten Leuten in Kontakt kam oder nicht. Das kann man im chinesischen Social-Credit-System vielleicht sicherstellen. Diese Totalüberwachung wollen wir aber nicht. Das chinesische Modell ist daher, meiner Meinung nach, kein gutes Modell. Auf der anderen Seite überlege ich, wie das mit Personen ist, die schon immunisiert sind – zum Beispiel, weil sie das Virus bereits hatten. Sollte man das durch einen grünen Punkt oder Ähnliches kenntlich machen? Man könnte diese Personen dann zum Beispiel in Krankenhäusern oder anderen Diensten besser einsetzen. Darüber sollte man irgendwie nachdenken.

CMF: Das Problem ist, dass man noch nicht weiß, wie lange die Immunität hält.

IP: Das stimmt. Die Corona-Viren mutieren auch. Es könnte sein, dass ich bei der nächsten Welle wieder infiziert werde. Insofern ist das kompliziert.

CMF: Kürzlich hat Deutschland den Hackathon #WirVsVirus organisiert. Dabei ging es um die Frage, wie man Technologie in der jetzigen Krise besser einsetzen kann. Viele der eingereichten Vorschläge hatten zum Ziel, Bürgerinnen und Bürger selbst zu befähigen, die Krise zu bekämpfen. Sind wir in Europa grundsätzlich zu sehr auf den Aspekt der Überwachung fokussiert? Sollten wir lieber den Bürger ermächtigen und zu mehr Verantwortung aufrufen? Oder sehen Sie hier auch das Drohpotenzial, dass Bürger ihre Mitmenschen anzeigen?

IP: Einen solchen Hackathon zu organisieren – sozusagen ein strukturiertes Brainstorming, wie man Technologien nutzen kann – finde ich hervorragend. Ich habe das Gefühl, dass in großen Teilen unserer Bevölkerung eine Menge Eigenverantwortung da ist und man dementsprechend nicht nach einer totalen Überwachung rufen sollte. Wenn wir das Vertrauen in uns selbst, in unsere Eigenverantwortung, verlieren, dann sind wir dem „totalen Staat“ schon sehr nahe. Wir sollten die Selbstverantwortung und den Anspruch, gemeinsam verantwortlich zu sein, fördern und nicht die Erfindung von neuen Technologien als einzige Lösung ansehen. Wir könnten überlegen, welche bei solchen Hackathons entwickelten Ideen uns dabei helfen können, diese Eigenverantwortung besser wahrzunehmen. Dann sehe ich auch kein Drohpotenzial, dass Bürger ihre Mitmenschen anzeigen. In gewisser Weise haben wir das aber schon immer. Wir haben in unserer deutschen Vergangenheit eine reiche Erfahrung mit bösen Dingen zwischen Menschen, und diese Erfahrung dürfen wir nicht vergessen. Deswegen sollten wir auch Technologien, die sozusagen ein Anzeigen anderer bei irgendwelchen Stellen fördern, nicht in Umlauf bringen. Ich verstehe Ihre Sorge und denke mir auch: Wie ist das im Park, wenn ich zum Beispiel einer Gruppe von jungen Menschen begegne, die ganz eng zusammen auf ihrer Decke sitzen und offensichtlich keine Familie sind – wie verhalte ich mich da? Das hängt ein Stück weit von der Grundeinstellung jedes Menschen ab. Wie weit reicht meine Achtung für die Freiheit und Selbstentfaltung anderer? Ich würde sagen, wenn wir allgemeine Regeln haben, sollte sich jeder erst einmal tunlichst daran halten. Sonst werden die Regeln und Sanktionen weiter verschärft. Jeder ist mitverantwortlich, dass wir trotz dieser Krise ein relativ freiheitliches System beibehalten können.

CMF: Das führt uns zur abschließenden Frage. Wie wird sich unsere Gesellschaft durch die Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung? Was ist Ihre größte Hoffnung?

IP: Meine größte Hoffnung ist natürlich, dass wir die Kraft haben, die jetzigen Einschränkungen, ohne zu meckern und ohne wirtschaftlich in die Knie zu gehen, einzuhalten. Ich hoffe, dass wir eigenverantwortlich lernen, wieder ein Allgemeininteresse zu verstehen, nämlich dass sich dieses Virus nicht weiterverbreitet und die Zahl der Toten nicht ins Unermessliche steigt. Je mehr sich alle an die Regeln halten, desto schneller sind wir über den Berg. Meine größte Befürchtung ist, dass die einen oder anderen durchdrehen. Das sage ich so salopp. Das betrifft zum Beispiel häusliche Gewalt als Folge des Eingesperrtseins. Ich wäre hier allerdings vorsichtig, da manche das nachher als eine Rechtfertigung von Gewalt ansehen werden. Die zweite Befürchtung ist, dass die Kontaktverbote nicht ernst genug genommen werden. Die Folge wäre, dass die Intensivstationen überlastet werden und wir zur Triage kommen. Und die Triage tut weh. Wenn jemand nicht behandelt werden kann, weil kein Platz mehr ist, schafft das unglaubliche Brüche. Eine weitere Folge könnte eine signifikante Verschärfung der Gesetze sein. Das halte ich für vermeidbar, aber es könnte dazu kommen, wenn Menschen die Regelungen nicht mehr einhalten wollen. Ich fürchte also, dass die Solidarität und das Gefühl der Gemeinsamkeit irgendwann schwach werden. Das könnte die Gesellschaft insgesamt zerstören, auch für die Zeit nach der Krise. Im schlimmsten Fall werden wir dann eine andere Gesellschaft sein, in der wir unsere bekannten Prinzipien und Lebensformen nicht mehr wiedererkennen. Das gilt natürlich nicht nur für unsere Gesellschaft in Deutschland, sondern auch für Europa und die Welt. Wir in Deutschland werden auch nicht glücklich sein, wenn es nur uns gut geht und die anderen Teile der Welt sehr leiden müssen. Deswegen ist auch hier Solidarität gefragt. Das ist aber eine andere Dimension, die ich hier nicht vertiefen möchte.

Zu diesem Thema:

Gespräch 2: Peter M. Huber

Gespräch 8: Herbert Reitsamer

Gespräch 19: Heinz Bude

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