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Schlechtwetterzeiten als Herausforderung für die Insolvenz: Solidarität als Grundvoraussetzung

Corinne M. Flick im Gespräch mit Christoph G. Paulus, Professor (a.D.) für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht sowie Römisches Recht der Humboldt-Universität zu Berlin, am 8. April 2020

Corinne Michaela Flick: Herr Paulus, Ihr Thema ist das Insolvenzrecht und das schon seit Jahren. In der gegenwärtigen Krise, die wir durch Corona erleben, tritt dieses Gebiet möglicherweise in den Vordergrund. Was hat Insolvenzrecht mit der gegenwärtigen Krise zu tun?

Christoph G. Paulus: Im Grunde genommen zeichnet sich jede Krise dadurch aus, dass sie früher oder später auf das Ökonomische durchschlägt. Zurzeit sind der Frisör, der die Miete nicht mehr zahlen kann, und der Gaststättenbetreiber, der keine Gäste mehr hat, in aller Munde. Bei ihnen wie aber auch bei allen anderen Unternehmen ist es ein ganz schlichtes Kalkül, dass das finanzielle und wirtschaftliche Überleben mit den vorhandenen Ressourcen endlich ist. Wenn die Ressourcen nicht nachkommen, tritt der Bereinigungs- bzw. der Beendigungsmechanismus des Insolvenzrechts ein. Insofern ist das Insolvenzrecht das drohende Hintergrundrauschen, das immer lauter wird, auch und besonders in der gegenwärtigen Krise.

CMF: Ist denn das Insolvenzrecht auf eine solche Krise vorbereitet? Ist es das richtige Instrument?

CP: Nach meiner Ansicht nicht wirklich. Man erkennt das zum Beispiel daran, dass kürzlich ein mit unglaublicher Eile zusammengezimmertes Gesetz erlassen worden ist, in dem Insolvenzregeln abgeändert wurden. Dieses Gesetz ist übrigens gar nicht einmal ein so schlechtes. Es werden einzelne Maßnahmen aufgegriffen, mit denen man schon eine gewisse Erfahrung hat. Die meisten Zuhörer werden sich wahrscheinlich daran erinnern, dass es innerhalb der letzten 20 Jahre drei Flutkatastrophen in Deutschland gegeben hat, die eine jeweils riesengroße Notsituation hervorriefen. In Deutschland muss man normalerweise binnen drei Wochen einen Antrag auf Insolvenz stellen, nachdem die entsprechenden Voraussetzungen (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) eingetreten sind. In besagten Krisenfällen wurde diese Frist jeweils verlängert und teilweise sogar aufgehoben. Das macht man jetzt auch.

Ein anderes Beispiel ist die Finanzkrise 2008/09. Da hatte man einen Eröffnungsgrund für ein Insolvenzverfahren, der ökonomisch gesehen und abgefasst wurde. Diese Regelung war in den 90er-Jahren entworfen und nachgefasst worden und passte damals wunderbar. Als die Finanzkrise kam, merkte man aber plötzlich, dass dieser Tatbestand gewissermaßen ein Teilchenbeschleuniger für Insolvenzen ist. Das hätte zur Folge gehabt, dass 2008/09 praktisch die gesamte deutsche Wirtschaft ins Insolvenzverfahren hätte gehen müssen. Binnen drei Wochen wurde dieser Eröffnungsgrund damals aufgehoben. So etwas Ähnliches wird man auch jetzt machen, das ist momentan schon heftig in der Diskussion.

Mein persönliches Petitum vor diesem Hintergrund ist, dass man sich in Zukunft mehr Gedanken darüber machen muss, was die Voraussetzungen für die Maßnahmen sind, die jeweils unter erhöhtem Zeitdruck in Gesetzesform gegossen werden und sich speziell auf das Insolvenzrecht beziehen. Mit anderen Worten: Was sind die ökonomischen und was sind die sozialen Voraussetzungen, auf denen unser Insolvenzrecht basiert? Vermutlich wird jeder wissen, dass es beim Insolvenzrecht darum geht, dass man das Vermögen des Schuldners verkauft, um aus dem Erlös Geld herauszuholen, das man an die Gläubiger verteilt. Was ist aber, wenn es für diese Gegenstände keinen Markt gibt? Das ist eine schlichte Frage, die allerdings in meiner Wissenschaft nicht ernsthaft diskutiert wird. Wir kennen dieses Problem aus Griechenland und Süditalien. Wenn wir dort die Straße an der Küste entlangfahren, sehen wir immer wieder wunderschöne Areale, die durchbrochen sind von hässlichen, nicht fertiggebauten Gebäuden. Hinter diesen leeren Gerippen steckt jeweils ein Insolvenzfall, jemandes Hotel oder Hausmasse, die nicht fertiggestellt werden konnte, weil das Geld dafür nicht vorhanden war. Ein Insolvenzverwalter hat versucht, diese Anfangskonstrukte an irgendjemanden zu verkaufen, aber evidentermaßen hat er niemanden gefunden.

Das bedeutet also, dass wir ein Insolvenzrecht haben, das ins Leere läuft, weil es nicht auf den jetzigen Voraussetzungen basiert. Im Moment ist das große Problem unseres Insolvenzrechts, dass es möglicherweise anachronistisch, also nicht mehr zeitgemäß, auf die momentan massenhaft auftretenden Notfälle reagiert.

CMF: Man hätte dann wahrscheinlich schon in der Vergangenheit, nach der Flutkatastrophe ansetzen müssen. Aber das, was Sie jetzt gesagt haben, steht ja auch in engem Zusammenhang mit Solidarität. Lassen Sie uns zu dem Begriff kommen. Kann Insolvenzrecht diesem Grundwert unserer Zivilisation Geltung verschaffen, sowohl im Grundsätzlichen als auch in Krisenzeiten?

CP: Das ist nicht ganz einfach, aber meine Antwort darauf ist Ja. Es ist deswegen nicht einfach, weil unser Insolvenzrecht auf einem Grundpfeiler aufbaut, den jeder Jurist völlig internalisiert hat. Alle Zuhörer mit einer juristischen Ausbildung werden sich jetzt entspannt zurücklehnen können, weil ich Ihnen gewissermaßen das Atom der Zivilrechtswissenschaft präsentiere. Dies ist die Zwei-Personen-Beziehung, der Gläubiger und der Schuldner. Im Prozess ist es der Kläger und der Beklagte. Die gesamte zivilrechtliche Aufarbeitung des Alltags ist bei den Juristen auf Zwei-Personen-Verhältnisse reduziert. Auf der einen Seite haben wir den Gläubiger und auf der anderen Seite den Schuldner. Der Gläubiger ist per se in dieser isolationistischen Betrachtungsweise der Starke. Das schlägt sich in einer Krise wie der jetzigen durch, sodass wir zu Problemen kommen.

Die Reduktion auf diese Zweierbeziehung ist ein Erbe des antiken römischen Rechts. Das sind unsere Lehrmeister, die uns diese Reduktion, die extrem hilfreich ist, präsentiert haben. Das Interessante ist, dass es in der Zeit davor – zur Zeit des Alten Testaments und des Kodex Hammurabi – in dem Areal, das wir heute den Nahen Osten nennen, Regelungen gegeben hat, die wir bis heute noch nicht richtig erreicht haben. Ein Beispiel: Wenn dort ein Schuldner nicht bezahlen konnte, so lesen wir es beispielsweise in Artikel 117 des Kodex Hammurabi, musste der Schuldner vier Jahre für den Gläubiger arbeiten. 1200 Jahre später in Rom kommt es zu der Regelung, dass ein Schuldner, der seine Gläubiger nicht befriedigen kann, von seinen Gläubigern in Stücke zerschnitten werden kann. Das ist ein völlig anderes Konzept. Der Kodex Hammurabi sorgt für einen Ausgleich zwischen Schuldner und Gläubiger, und er will, dass der Schuldner nach einer gewissen Zeit wieder in den Wirtschaftskreislauf eingegliedert wird. Auf der römischen Seite geht das überhaupt nicht. Zur Not wird der Schuldner am Ende umgebracht. Das prägt uns historisch nachvollziehbar bis heute. Wir haben jetzt mit Ach und Krach eine Restschuldbefreiung eingeführt, damit kommen wir in die Nähe dessen, wo vor 4000 Jahren das Mesopotamische Recht gewesen ist.

Wenn wir uns Solidarität für den Einzelnen in der heutigen Krise ansehen – hier spreche ich meine ganz höchstpersönliche Meinung aus –, dann ist es ein Gebot des Umstandes, dass wir es mit einem Virus zu tun haben, das nun einfach einmal in der Welt ist, ohne dass wir typisch juristisch fragen können, wer hat Schuld daran? Die üblichen Schuldzuweisungen wie vor 600 oder 700 Jahren – bei der Pest waren es die Juden, heute sind es die Chinesen, wieder andere sagen, es seien die Amerikaner – spielen in diesem Kontext keine Rolle. Sie führen uns nicht weiter. Wir haben es mit einem Virus zu tun, das gewissermaßen aus dem Off gekommen ist. In Anbetracht dessen ist es mein Petitum, dass das Insolvenzrecht dem Rechnung tragen muss und dass diese Zweierbeziehungen zwischen Schuldner und Gläubiger, die immer zugleich Machtbeziehungen sind, einer Betrachtung weichen müssen, in der ein Ausgleich stattfindet, in dem jeder Einzelne seinen Beitrag leisten muss. Jeder Gläubiger und jeder Schuldner muss im Grunde genommen „bluten“, um seinen Beitrag zu leisten. Dafür muss es eine staatsweite Art von Vergleich geben. Jeder muss von seiner Maximalposition abrücken. Das würde ich unter Solidarität und dem Beitrag, den das Insolvenzrecht dazu leisten kann, verstehen.

CMF: Auch der Staat seinen Bürgern gegenüber?

CP: Wir gefallen uns darin, den Staat nach wie vor als einen Gegenpart anzusehen, als die Obrigkeit. Bis zu einem gewissen Grad ist das natürlich gerechtfertigt, genauso wie Kritik an dem, was der Staat so tut. Der Staat ist aber eben auch Verwalter von all dem, was wir tun. In einer Demokratie sehe ich ihn als denjenigen, der etwas für uns tut. Das will ich gar nicht weiter vertiefen oder staatstheoretisch ausbauen, sondern mir kommt es darauf an, festzuhalten, dass der Staat derjenige ist, der auf dem Topf des Bevölkerungsvermögens in Gestalt von Steuern sitzt. Die Steuern müssen jetzt verteilt werden, was der Staat im Moment auch tut, wenn er von der Notwendigkeit eines Geldzuschusses in Höhe von 1,3 Billionen spricht. Das ist das Gebot der Stunde. Das ist die Solidarität. Dieser Topf muss für alle da sein und im Sinne einer solidarischen Gerechtigkeit verteilt werden.

CMF: Und was bedeutet das alles auf Ebene der Staaten?

CP: Da wird es außerordentlich spannend. Erlauben Sie mir, so zu beginnen: Die Diskussion über die überfüllten Krankenhäuser steht jetzt noch im Vordergrund. Wir werden vermutlich binnen ein bis zwei Wochen immer stärker in die ökonomischen Auswirkungen der Krise, also in die Insolvenzen, hineinrutschen. Diese Insolvenzen sollen durch Darlehen und Kredite gemindert werden, das ist Teil des Hilfspakets. Das führt dazu, dass kurzfristig Geld bereitsteht, langfristig aber wieder eine Darlehensbeziehung entstanden ist. Der Schuldner muss irgendwann das Geld zurückzahlen. Dadurch kommen wir zu einer Krise der Banken, weil die notleidenden Kredite, die sogenannten „Non-Performing-Loans“ (NPLs), wachsen, von denen wir in Europa ohnedies momentan viel zu viele haben. Alleine in Europa hat es innerhalb der letzten anderthalb Jahre drei Gesetzgebungsvorhaben gegeben, um diese NPLs zu reduzieren. Niemand kann davon ein besseres Lied singen als die Italiener. Bei denen sind in den letzten zwei bis drei Jahren vier Banken zugrunde gegangen, weil sie zu viele NPLs hatten.

Bankinsolvenzen, die in diesem Szenario drohen, sind deswegen so gefährlich, weil sie, praktisch als Zwillingsgeschwister, die Insolvenz eines Staates mit sich bringen. Mit Zypern, mit Irland, mit Portugal, mit Italien und als Drohszenario mit Frankreich und Deutschland wurde dieser Konnex erkennbar. Wenn Banken pleitegehen, gehen Staaten ebenfalls pleite. Bleiben wir bei Italien. Italien ist im Moment der große gefährdete Kandidat, der mit einer schlechten Ausgangsbedingung – einem Schuldenstand von 130 Prozent gegenüber dem BIP – in eine Situation kommt, wo das Gesundheitssystem unendlich viel Geld auffrisst, sodass neues Geld zugeschossen werden muss. Ich will nicht pessimistisch sein, aber jede Woche, die diese Krise länger dauert, rückt Italien näher an den Zusammenbruch seines Systems. Das hat zur Folge, dass nach meinem Dafürhalten das Staateninsolvenzrecht im Moment wieder dramatisch an Bedeutung zunimmt. Wir haben keinen Mechanismus dafür. Das heißt, es bricht das reine Chaos aus, ohne dass ein geordnetes Verfahren zur Verfügung steht. Das ist unglaublich nachlässig.

Darüber hinaus müssen wir uns als Europa Gedanken machen, wie wir uns zu einem Fall wie Italien verhalten. Auf globalpolitischer Ebene sehen wir beispielsweise, dass China sich hier sehr schlau zeigt. Von den italienischen Medien publikumswirksam dargestellt, wurden die ersten Hilfsgüter von China über Flugzeugkolonnen nach Italien verfrachtet. Die chinesischen Delegationen wurden auf dem Flughafen teilweise vor laufenden Kameras empfangen. Dann kommen wir mit einer erstaunlichen Verzögerung und bringen ein paar Betten, Matratzen und Masken über die Alpen. Das reicht natürlich hinten und vorne nicht. Eine weitere Folge ist, dass jetzt meiner Meinung nach eigentlich die Zeit ist, in der man sich gerade im Finanzministerium intensiv Gedanken darüber machen sollte, ob wir nicht ein geordnetes Verfahren in die Wege leiten, gerne im Kontext des European Stability Mechanismus, das zumindest im Bereich der EU Anwendung findet.

CMF: Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie ein solches Konzept im Grunde schon lange erarbeitet.

CP: Ja.

CMF: Also müsste man jetzt dieses Konzept hervorholen und endlich implementieren.

CP: Es liegt in der Schublade, und zwar nicht nur in meiner, sondern auch in der des Bundesfinanzministeriums. Es ist abrufbar.

CMF: Wie wird sich unsere Gesellschaft durch die gegenwärtige Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung, und was ist Ihre größte Hoffnung?

CP: Meine Befürchtung ist, dass all das, was jetzt immer wieder gesagt wird, „wir lernen aus der Krise!“, „Solidarität!“ etc., ­ungefähr ein, zwei Monate oder ein Jahr nach Ende der Krise wieder verloren sein wird. Das ist nicht einmal eine Befürchtung von mir, sondern das ist Erfahrung. Dass wir aus der Geschichte nichts lernen, ist die größte Befürchtung.

Meine größte Hoffnung ist, dass es diesmal vielleicht klappt, dass wir zumindest jetzt in dieser Phase, in der uns die Fragilität unseres ganzen Lebenskonstrukts bewusst wird, etwas lernen. Wir merken jetzt, auf was für einem schwankenden Untergrund unser tägliches Leben aufgebaut ist. Es bedarf eines winzig kleinen Virus’, das von irgendeinem Teil der Welt kommt, um alles zusammenbrechen zu lassen. Solange wir diese Erfahrung noch in den Knochen haben, hoffe ich, dass wir ein paar Dinge vorantreiben für künftige Krisen, die natürlich kommen werden – vielleicht nicht in Gestalt eines Virus, vielleicht nicht in Gestalt einer Flutwelle, vielleicht nicht in Gestalt einer Derivate-Krise, vielleicht in Form von etwas völlig anderem. Meine Hoffnung ist, dass wir uns bereits jetzt schon hinreichend für diese Krisen wappnen, so dass wir dann nicht so sehr auf dem falschen Fuß erwischt werden, sondern in die Schublade greifen können, um zumindest Lösungsansätze zu haben. Die konkreteste dieser Hoffnungen ist die, dass wir endlich ein Staateninsolvenzrecht in die Wege leiten.

Zu diesem Thema:

Gespräch 19: Heinz Bude

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