Читать книгу CONVOCO! Podcast - Corinne Michaela Flick - Страница 8
Оглавление1.
Gemeinwohl und Freiheit in der Balance
Corinne M. Flick im Gespräch mit Timo Meynhardt, Inhaber des Dr. Arend Oetker Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der Handelshochschule Leipzig (HHL) sowie Herausgeber des GemeinwohlAtlas, am 29. März 2020
Corinne Michaela Flick: Herr Meynhardt, Ihr Thema ist das Gemeinwohl. Könnten Sie für uns den Begriff Gemeinwohl kurz definieren?
Timo Meynhardt: Gemeinwohl ist zunächst ein Erfahrungs- und Beziehungsbegriff. Er beschreibt die Qualität von Beziehungen in Familien, Gesellschaften und Gemeinschaften jeweils nach Kontext und historischer Verlaufsentwicklung unterschiedlich. Im Kern geht es immer um die Qualität von Beziehungen zwischen Menschen in einem Sozialverband. Gemeinwohl ist die Erfahrung von positiver Bestimmtheit, beispielsweise von Einstellungen zu Unternehmen oder zur Politik. Diese Erfahrung der Umwelt – als Gemeinwohl beschrieben – ist ganz generell eine Wertung, die sich ausbuchstabieren und messen lässt.
CMF: In der Corona-Krise geht es sehr stark um das Gemeinwohl. Es geht um die Gesundheit unserer Bevölkerung und unserer Mitmenschen, vor allem unserer älteren Generationen. Im Moment ist das Gemeinwohl also zentraler Begriff unseres täglichen Lebens. Viele Eingriffe in unsere Gesellschaft und in unsere Freiheiten werden jetzt mit dem Gemeinwohl begründet. Sollte man nicht achtsam mit dem Begriff Gemeinwohl umgehen?
TM: Achtsamkeit im Umgang mit dem Begriff Gemeinwohl ist das Gebot der Stunde. Nicht alles in der Politik ist mit dem Gemeinwohl zu rechtfertigen. Handlungsspielräume des Einzelnen per se einzuschränken, ist kein gangbarer Weg. Gemeinwohleingriffe sollten in der Wirkung den Einzelnen stärken und nicht schwächen. Wenn man das nicht schafft, wird sich in den nächsten Wochen zeigen, dass sich Menschen diese Freiheitsräume zurückerobern und nicht bereit sind, Einschränkungen dauerhaft in Kauf zu nehmen. Wichtig ist in jedem Fall eine gute Kommunikation, die die Menschen erreicht.
CMF: Wir haben in der Geschichte gesehen, dass es autoritären Missbrauch mit dem Begriff Gemeinwohl gab.
TM: Den hat es immer wieder gegeben und wird es wieder geben. Gerade weil der Begriff umkämpft ist, ist er auch verletzbar und darf nicht benutzt werden, um Partikularinteressen zu rechtfertigen. Schon Dostojewski hat einen der Brüder Karamasow sagen lassen: „Mit Gemeinwohl wurde noch jede Schurkerei gerechtfertigt.“ Carl Schmitt hat uns zugerufen: „Wer bonum commune sagt, will betrügen!“ Immer wieder in der Geistesgeschichte, in der politischen Geschichte, kam das hervor. Gleichzeitig darf uns das jedoch nicht davon abhalten, den Begriff verantwortungsvoll zu nutzen. Wer jetzt nicht beginnt, an das Gemeinwohl zu denken, der wird es nie tun. Andersherum formuliert: Gemeinwohldenken ist das Gebot der Stunde, daran kann sich keiner vorbeistehlen.
CMF: Es gibt das Gemeinwohl und es gibt das Eigenwohl. Beides sind keine Gegenbegriffe. Es kommt auf die Spannung und Abwägung der Begriffe an, richtig?
TM: Ja, vielleicht hilft eine Differenzierung in der Gestalt eines Bildes. Wir müssen mehrere Schichten des Gemeinwohls unterscheiden. Im Sinne eines Aggregatzustands sollten wir von einer festen, flüssigen und gasförmigen Form des Gemeinwohls sprechen. Die Metapher sagt, dass es flüchtige Elemente gibt, die wir schnell verhandeln können, sowie Dinge, die wir über Dekaden verhandeln, und Dinge, die vielleicht gar nicht verhandelbar sind, außer um den Preis der eigenen Existenz. Im Moment geht es um diese festen, soliden Formen des Gemeinwohls, an denen wir erkennen, dass die Abhängigkeit voneinander so hoch ist, dass das Gemeinwohl keine normative Frage ist, sondern eher eine Frage des Überlebens der Gesellschaft. Wenn man diese drei Aggregatzustände betrachtet, gibt es Bereiche, die wir nicht ohne Freiheitsverlust einschränken können. Allerdings bringt das ein Risiko, dass es Gegenbewegungen gibt – Gegenbewegungen im Netz und im Entstehen neuer öffentlicher Räume, die neue, auch ungewollte Entwicklungen auslösen können. Insofern ist das, was unsere Kanzlerin in ihrer Rede gesagt hat, richtig: Die Einschränkung der Freiheit im Namen des Gemeinwohls darf nicht zu hoch sein. Da ist, wie Sie sagen, die Spannung das entscheidende Element. Es ist allen Führungskräften und Politikern zu empfehlen, diese Spannung zu erhalten und nie einseitig abzuwägen. Dann gibt es eine Chance, dass wir gemeinsam aus dieser Situation herauskommen, ohne die Freiheit mit Füßen zu treten. Jene Denker, die einen liberalen Gemeinwohlbegriff verfolgen, sind gerade jetzt gefordert, das liberale Gemeinwohl hochzuhalten. Wer die Freiheit liebt, darf das Gemeinwohl nicht verachten und umgekehrt, die Gemeinwohl-Freunde dürfen nicht vergessen, dass die Freiheit ein hohes Gut ist, das wir uns über Jahrhunderte erarbeitet haben und im Sinne der Aufklärung nicht preisgeben sollten.
CMF: Dann ist das jetzt ein sehr wichtiger Zeitpunkt für den Begriff des Gemeinwohls.
TM: Wir könnten das als Chance betrachten, den Begriff für das 21. Jahrhundert produktiv zu machen. Auch andere Krisen haben Chancen eröffnet, das Gemeinwohl neu zu denken. Als großen Punkt der europäischen Geistesgeschichte würde ich das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 nennen. Daraufhin beschäftigten sich die Philosophen der Aufklärung mit dem Theodizee-Problem: „Wie kann uns Gott, der uns eigentlich Gutes will, so etwas antun?“ Könnte auch das „Virusbeben“ dazu führen, dass wir neue Formen des Gemeinwohls denken lernen und damit dem Begriff seine normative Schwere nehmen, ihn für uns produktiv machen und erkennen, wo Gemeinwohlbelange berührt sind? Können wir diese Erfahrungen auch für neue Theorien nutzen und damit dem philosophischen Denken neuen Schub verleihen, das dann wieder über Generationen hinweg die Praxis beeinflussen kann? Man darf von der Wissenschaft aber nicht zu schnelle Schritte erwarten. Es ist zu früh, heute wie ein Sanitäter durch die Reihen zu gehen und Tipps und Tricks zu verraten, wie die Krise zu bewältigen ist. Dafür ist es zu früh, die Einordnung steht erst noch an. Ob der Vergleich zum Erdbeben von Lissabon hinkt, wird sich zeigen, aber in diesen Dimensionen sollten wir in Europa denken und damit die europäische Idee des Gemeinwohls nach vorne tragen. Diese Idee ist nicht veraltet, sondern sehr modern.
CMF: Die Krise erfordert eine tiefe Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft. Welche Rolle fällt den Unternehmen zu?
TM: Zum einen fällt den Unternehmen die Rolle zu, die Grundversorgung in allen Bereichen der kritischen Infrastruktur, von Lebensmitteln bis Gesundheit, sicherzustellen und das öffentliche Leben nach Kräften aufrechtzuerhalten. Jetzt, wo harte wirtschaftliche Einschnitte folgen werden, fällt ihnen auch die Rolle zu, langfristig das Gemeinwohl im Blick zu behalten. Das Unternehmenswohl sollte nicht gegen das Gemeinwohl ausgespielt werden, sondern es gilt, Brücken zu schlagen, um eine sozialverträgliche Lösung zu finden. Damit sichern die Unternehmen ihre Akzeptanz für die Zeit nach der Krise. Fachkräftemangel, Digitalisierung und Globalisierung werden nicht deshalb weggehen, weil wir uns im Moment im Krisenmodus befinden. Unternehmen sollten schon heute ins Gemeinwohl investieren, um nach der Krise besser aufgestellt zu sein. Es darf nicht dazu kommen, dass ökonomische Belange gegen andere Belange gehandelt werden. Für das 21. Jahrhundert kann man sagen: Es gibt keinen Zweck, der die Mittel heiligt. Das unselige Denken „Der Zweck heiligt die Mittel“ ist etwas, das in der Krise nach vorne kommen wird. Vor dem warne ich aber. Es würde uns allen im Nachhinein zu Schaden gereichen, wenn die Wirtschaft zu stark auf Eigeninteresse pocht. Jetzt sind Unternehmer gefragt, die für die Gesellschaft mitdenken.
CMF: Hier besteht eine Chance für die Bewusstseinserweiterung von Unternehmern und Managern.
TM: Eine Bewusstseinserweiterung und ein Lernschritt auf allen Seiten. Man kann jetzt zeigen, dass vieles, was uns in der saturierten Welt selbstverständlich geworden ist – die Milch im Supermarkt, das Brot, das Handy –, Leistungen sind, die Wertschätzung erfahren sollten. Unternehmen haben die unglaubliche Chance, ihren Beitrag zum Gemeinwohl sichtbar zu machen und zu verdeutlichen, dass unser Wettbewerbssystem Vorteile besitzt. Insofern ist das auch für die Marktwirtschaft eine Möglichkeit zu demonstrieren, was das kapitalistische Wettbewerbsprinzip zu leisten vermag, um uns aus der Krise herauszuführen.
CMF: Einerseits Wettbewerb, andererseits aber auch ein neues Verständnis von Individualität und eigenem Streben. Was Freiheit bedeutet, wird anders definiert werden. Das kann auch zu einer besseren Gesellschaft führen.
TM: Peter Drucker hat es so formuliert: Ob nun eine bessere oder schlechtere, es geht um eine erträgliche Gesellschaft – „a bearable society“ –, in der der Einzelne in seinem Sozialverband überleben kann. Wir haben neue Chancen, eine andere, erträglichere Gesellschaft zu bauen, die erkennt, dass Kleinräumigkeit, kleinere Lebenskreise und weniger Reichweite etwas sind, was uns Vorteile verschafft. Die Integration der Wertschöpfungsketten, die Synergieeffekte über Kontinente hinweg, wird in Frage gestellt werden müssen. Die „Circular-Economy“ wird nach vorne rücken. Das große Thema wird ein Vorwärts durch Mäßigung sein – Wachstum in sozialen Qualitäten. Der Gedanke des Postwachstums wird an Bedeutung gewinnen, weil wir gesehen haben, dass die Verbreitung des Virus stark mit den Wirtschaftsprozessen zusammenhängt. Neue Versorgungsketten, die in der Region verankert sind, müssen aufgebaut werden. Wir werden auch ein neues Verhältnis zur Diskussion um den Klimawandel und andere Umweltthemen bekommen, da wir erkennen, dass das Rückgrat unseres Wohlstandes in einer funktionierenden Wirtschaft besteht. Die Klimadiskussion wird nicht mehr alles dominieren, sondern sie wird im Rahmen der Gemeinwohlbelange neben wirtschaftlicher Solidität und der Sicherung von Arbeitsplätzen in ein Spektrum gesetzt werden. Das wird zu einer Refokussierung der Klimadiskussion führen, an der die Unternehmen verantwortungsvoll teilnehmen sollten und die sie nicht allein der Politik überlassen dürfen.
CMF: Einerseits wollen wir uns jetzt wieder mehr auf das Regionale konzentrieren, andererseits wollen wir es aber auch schaffen, dass die Welt insgesamt mehr zusammenwächst, ein Einverständnis über Werte entwickelt und eine Art universale Zivilisation bildet.
TM: Auch hier gilt es, die Spannung aufrechtzuerhalten. Im Moment ist eine Wiederaufwertung des Regionalen unvermeidbar. Gleichzeitig kann es keinen Rückzug in Burgen und Festungen geben. Der Prozess der Globalisierung ist zu weit fortgeschritten, als dass man einfach Mauern hochziehen kann – weder um Flüchtlingsströme aufzuhalten noch um gewonnene Freiheiten zu beschneiden. Ein neues Maß zu finden, das wird die Herausforderung. Bald sprechen wir nicht nur von „Human Rights“, sondern auch von „Common Good Rights“, also Gemeinwohl-Rechten und -Pflichten. Inwieweit es gelingt, globale Institutionen zu bauen, bleibt abzuwarten. Vielleicht ist der aktuelle Druck dafür gut, um solche Schritte schneller zu gehen. Gleichzeitig würde ich immer wieder auf diesen einen Punkt zurückkommen, den wir uns in Europa so hart durch die Aufklärung erkämpft haben: Das Individuum in seiner Würde sollte im Mittelpunkt stehen, allerdings ohne es zu einer Selbstanmaßung und Hybris zu überhöhen. Raum für Individualismus ist nur möglich, solange es eine funktionierende Gemeinschaft gibt. Also: „Ohne Gemeinwohl keine Freiheit.“ Das so auszutarieren wird Globalisierungsprozesse nicht stoppen, aber zumindest in ein neues Licht rücken. Ich sehe die Chance, dass uns die Virus-Pandemie neuen Denkraum ermöglicht und die Einsicht wachsen lässt, dass wir es mit Systemen zu tun haben, die keiner mechanisch steuern kann, die sich wie die Evolution selbst organisieren und teilweise chaotisch entwickeln. Die Frage wird sein, wo die Eingriffspunkte sind, um eben nicht etwas autoritär mit Zwangsmaßnahmen durchzusteuern, sondern im Sinne einer neuen Form von „Softpower“, die es uns ermöglicht, in Frieden auf diesem Planeten weiter zusammenzuleben. Da stehen wir erst am Anfang der Überlegungen.
CMF: Der Aufstieg Europas und die Ausbreitung der abendländischen Zivilisation, die Sie mit der Aufklärung angesprochen haben, war eine jahrhundertelange Entwicklung. Stehen wir heute vor einem Wendepunkt?
TM: Ich möchte dafür werben, dass es keinen Wendepunkt gibt und dass wir die Stärken, die wir in Europa entwickelt haben, nicht einfach opfern dürfen. Stattdessen sollten wir versuchen, diese Stärken weiterzuentwickeln, und zwar unabhängig davon, dass Europa als Raum im globalen Wettbewerb zusammenstehen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. In Europa sind kulturelle Kräfte vorhanden, die sonst nirgendwo auf dem Planeten so sichtbar geworden sind. Ohne Zivilisationen gegeneinander aufzuwiegen, ist ein Europa der Vielfalt – geprägt von Entscheidungsprozessen, von Kriegs- und Demokratieerfahrungen – entstanden, welches einen Lernschatz beinhaltet, der durchaus zukunftsfähig ist. Mehr denn je hat die europäische Idee für mich Zukunft, wenn wir sie denn verantwortungsvoll weitertragen und uns nicht nehmen lassen, was schon erreicht wurde.
CMF: Wie wird sich unsere Gesellschaft durch die Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung, und was Ihre größte Hoffnung?
TM: Meine größte Befürchtung ist, dass die Corona-Krise Entsolidarisierungseffekte zwischen den Generationen einleitet. Meine größte Hoffnung ist, dass es eine Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft geben wird und damit verbunden auch eine gewisse Entschleunigung, ein Überdenken unserer Lebensformen und einen Umbau unserer Gesellschaft, bei dem die überleben, die wirklich zur Überlebensfähigkeit der Gesellschaft beitragen. Ich hoffe, dass wir vielleicht auch manch Unsinniges im Alltag, was Konsum und das Anhäufen von Gütern betrifft, aufgeben – hin zu einer besseren Lebensqualität, die verträglicher mit der Umwelt umgeht. Das wäre meine größte Hoffnung: mehr Lebensqualität durch Mäßigung.
Zu diesem Thema:
Gespräch 2: Peter M. Huber
Gespräch 5: Monika Schnitzer
Gespräch 28: Udo Di Fabio