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Die freiheitliche Grundordnung unter Druck: Die Corona-Krise als Bewährungsprobe?
Corinne M. Flick im Gespräch mit Peter M. Huber, Richter des Bundesverfassungsgerichts im Zweiten Senat, am 5. April 2020
Corinne Michaela Flick: Im Moment erleben wir, dass unsere Freiheits- und Partizipationsrechte, die wichtigsten Errungenschaften unserer Zivilisation, in Reaktion auf die Corona-Pandemie eingeschränkt werden. Das ist die drastischste Einschränkung der Grundrechte in der Geschichte der Bundesrepublik. Kann man das so sagen?
Peter M. Huber: Das kann man ohne Weiteres so sagen. Das, was wir jetzt erleben, haben wir noch nie in vergleichbarer Weise seit 1949 erlebt. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass nur der Staat die Grundrechte garantieren kann. Der Staat hat a priori erst einmal die Aufgabe, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Er muss seine Bürger davor schützen, dass sie nicht von außen angegriffen werden, dass im Inneren keine Unruhen entstehen und natürlich auch, dass sie Krankheiten nicht zum Opfer fallen. Das ist in gewisser Weise die Voraussetzung dafür, dass man Freiheitsrechte überhaupt in Anspruch nehmen und ausüben kann. Wenn der Staat diesen Zweck verfehlt und hier krass versagen würde, wäre er vermutlich auch nicht in der Lage, auf Dauer unsere Freiheitsrechte zu garantieren.
CMF: Wird denn im Moment den rechtlich-normativen Fragen genug Aufmerksamkeit geschenkt?
PMH: Die Krise ist die Stunde der Exekutive. Dabei macht unser politisches Personal im Großen und Ganzen eine gute Figur. Dass man da nicht in erster Linie mit der abwägenden Waage eines Richters und eines Juristen herangeht, liegt in der Natur der Sache. Zunächst einmal muss gehandelt werden. Das bedeutet aber nicht, dass dabei keine Fehler passieren können. Nicht alles, was jetzt gemacht wird, ist über jeden rechtlichen Zweifel erhaben. Darüber wird man diskutieren und die Gerichte letztlich entscheiden müssen. Eine umfassende Bewertung wird erst im Laufe der Zeit möglich sein, vermutlich erst, wenn die akute Gefahr einmal gebannt ist. Die Diskussion findet schon heute statt: In der Frankfurter Allgemeine gab es Ende März einen Artikel von Christoph Möllers und Florian Meinel, die kritische Fragen an die Interpretation des Infektionsschutzgesetzes gestellt haben.1 Es gibt auch Gegenpositionen, aber die haben natürlich nicht dieselbe Präsenz wie in ruhigen Zeiten. Steile Thesen und Kritik ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich als eine behutsame Abwägung. Wie dem auch sei, eine rechtliche Debatte ist im Gange, aber die Aufarbeitung wird Jahre dauern. Jetzt muss der Staat erst einmal seine Ressourcen und Instrumente in die Hand nehmen, um unser aller Gesundheit und Leben zu schützen. Wenn er das nicht schafft, brauchen wir ihn nicht.
CMF: Sind wir vielleicht zu sehr an unsere Freiheitsrechte gewöhnt?
PMH: Wir haben beide das Glück gehabt, nie etwas anderes als diese Ordnung erlebt zu haben. Und diese Ordnung schreibt die Freiheit ganz groß, sie hat es vor der Corona-Krise getan, sie wird es nach der Corona-Krise tun und selbst in der Corona-Krise kann man sehen, wie Politiker darum ringen, wie viele Beschränkungen sie den Bürgern abverlangen können. Anders als in Frankreich oder in totalitären Staaten hat man nicht sofort rigorose Ausgangssperren verhängt, sondern erst mildere Mittel versucht. Je weniger diese gefruchtet haben, umso härter wurden dann die Maßnahmen. Dass sie teilweise wenig gefruchtet haben, liegt zum einen sicher daran, dass wir unsere individuelle – mitunter auch reichlich spießige – Selbstverwirklichung überziehen und verabsolutieren, zum anderen aber auch daran, dass man in ruhigen Zeiten aus dem Auge verliert, dass wir auf ein sozial verträgliches Zusammenleben angewiesen sind. Vielleicht ist das etwas, das man aus dieser Krise langfristig lernen kann: Die Freiheit ist zwar ein überragendes Gut, man darf sie jedoch nicht verabsolutieren, vor allem wenn es „nur“ verhältnismäßig schwache Positionen wie die Freiheit, ins Ausland zu reisen, betrifft. Die Verfassung macht das nicht; sie sieht – von der Menschenwürde abgesehen – jede Menge Beschränkungsmöglichkeiten vor. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes, die den Krieg hinter sich hatten, war klar, dass Freiheit nicht alles sein kann.
CMF: Die heutige technologische Entwicklung – denken wir beispielsweise an digitales Tracking oder die Überwachung durch Drohnen – forciert die Überwachung durch den Staat. Beunruhigt sie das?
PMH: Das ist auf jeden Fall etwas, worauf man achten muss. Sie haben sicher die Diskussionen um die Corona-Tracking-App mitbekommen, die auch im Parlament geführt wurde. Diese Debatte zeigt ein sehr verantwortungsvolles und maßvolles Ringen darum, dass die Einschränkungen der Freiheit nicht weiter gehen dürfen als unbedingt nötig. Dass damit Risiken verbunden sind, auch für den Datenschutz, sehen wir in China und auch in den Staaten, die sich dem gefährlichen Weg verschrieben haben, den Rechtsstaat abzubauen. Dieses Risiko gibt es auch in Demokratien; insofern muss man wachsam sein. Mein Eindruck ist aber, dass diese Wachsamkeit sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft vorhanden ist. Zudem darf man nicht alles verteufeln, was unternommen wird, weil es sonst keine Möglichkeiten gibt, die Situation in den Griff zu bekommen.
CMF: Wenden wir uns einmal von den Freiheitsrechten ab und schauen auf die Eigentumsrechte. Da geht es an ganz grundsätzliche Prinzipien unserer Rechtsordnung, zum Beispiel um „pacta sunt servanda“.
PMH: Zum einen gilt „pacta sunt servanda“ immer noch. Auch durch die Änderungen, die der Bundestag letzte Woche verabschiedet hat, sind Mietverträge nicht aufgehoben worden. Es ist nicht angeordnet worden, dass keine Mietzahlungen mehr zu leisten sind, sondern es sind für die Dauer der Beschränkungsmaßnahmen Härtefallregelungen, wie das Verbot einer Kündigung wegen Zahlungsverzugs, erlassen worden. Die Mietzahlung bleibt aber nach wie vor fällig und muss auch später verzinst werden. Ich habe nicht den Eindruck, dass unsere Eigentumsordnung durch die Corona-Krise und die in ihrem Zusammenhang getroffenen Maßnahmen über den Haufen geworfen wird. Der Gesetzgeber hat bisher keine vermögenswerten Rechte abgeschafft. Er hat den Ausgleich zwischen Vermietern und Mietern leicht modifiziert und an die Krisensituation angepasst. Das wird nach der Krise wieder in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden. Insofern besteht für das Eigentum, soweit es als Grundrecht gegenüber dem Staat geschützt ist, kein größeres Risiko als für unsere Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder andere Grundrechte. Ein anderes Problem ist, dass uns diese Beschränkungsmaßnahmen eine Rezession bescheren werden und wir wahrscheinlich sehr viele Arbeitsplätze verlieren werden. Das ist ein ökonomisches, vielleicht auch ein moralisches und soziales Problem, aber weniger ein juristisches Problem.
CMF: Der Einfluss des Staates wird dadurch stärker. Bekommen wir einen starken Staat oder glauben Sie, dass sich der Staat nach der Krise wieder zurücknehmen wird?
PMH: Die Welt wird nach der Krise nicht mehr dieselbe sein wie vorher. Die Krise kann uns aber lehren, dass man die Ideologie der Thatcher- und Reagan-Jahre, wonach die Wirtschaft alles und der Staat nichts kann, in der man den Staat und seine Einrichtungen, etwa die Daseinsvorsorge im Gesundheitswesen, auch auf ökonomische Effizienz trimmen wollte, in einem anderen Licht betrachten muss. Wenn wir erkennen, dass traditionelle Staatsaufgaben nicht nur nach ökonomischen Kriterien behandelt werden können und dass Rentabilitätserwägungen ohnehin einen eher zu großen Raum einnehmen, haben wir etwas gelernt. Das wäre aus meiner Sicht eine Rückkehr in die Zeit der 1980er-Jahre oder früher, als der Turbo-Kapitalismus mit dem Modell des „rheinischen“ Kapitalismus sozial domestiziert war. Man wird sicher auch lernen, dass die Globalisierung und die globalen Lieferketten nicht stets der Weisheit letzter Schluss sind. Gewisse Backup-Kapazitäten muss man vor Ort halten. Ich habe aber nicht die Angst, dass wir in einer Planwirtschaft landen werden. Vorübergehend wird der Staat bei Unternehmensbeteiligungen etc. aber eine größere Rolle spielen, um seine soziale Verantwortung für das Überleben wichtiger Unternehmenszweige wahrzunehmen.
CMF: Es ist beruhigend zu hören, dass Sie positiv gegenüber den ganzen Eingriffen eingestellt sind.
PMH: Mein Eindruck ist, dass der Staat sich bewährt und in einer existenziellen Herausforderung das Richtige tut. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Verantwortlichen den Bürgern mehr Beschränkungen als unbedingt nötig auferlegen wollen. Unsere Institutionen funktionieren. Ich weiß zwar nicht, ob alle wissenschaftlichen Ratgeber immer vollkommen richtig liegen, aber immerhin hören unsere Politiker auf die Wissenschaft. Deshalb habe ich ein relativ großes Zutrauen in unser System und in die Institutionen unseres Landes.
CMF: Das gilt wahrscheinlich auch für die anderen europäischen Länder.
PMH: Nicht im selben Maße. Die Österreicher haben das ähnlich gut im Griff. Ob das in allen anderen Ländern der Fall ist, weiß ich nicht. Die katastrophalen Situationen in Spanien, Italien und auch in Frankreich zeigen jedenfalls, dass diese drei Länder nicht genügend vorbereitet waren und dass ihre Infrastruktur möglicherweise zu große Defizite aufweist. Das ist auch Politikversagen. Wenn ich mir Großbritannien anschaue und den Premierminister Boris Johnson, der das Ganze im Vorfeld bagatellisiert hat, bin ich zwar optimistisch, dass das Vereinigte Königreich auch diese Krise schafft. Die Frage ist aber, zu welchem Preis? Ich hatte lange Zeit nicht den Eindruck, dass der Premierminister, der es sonst mit der Wahrheit auch nicht so genau nimmt und oft einen unernsten Eindruck macht, begriffen hatte, was die Stunde wirklich geschlagen hat. Allerdings bietet die Krise für uns alle die Chance, zu lernen.
CMF: Was ist Ihre größte Befürchtung bezüglich der weiteren Entwicklung unserer Gesellschaft? Was ist Ihre größte Hoffnung?
PMH: Meine größte Befürchtung ist, dass der Staat nicht in der Lage sein könnte, das Schutzversprechen wirklich einzulösen und die Bürger die Geduld mit ihm und mit den Maßnahmen verlieren. Dann wird es schwierig, die Kontaktsperren oder Kontaktreduzierungen dauerhaft durchzusetzen. Ich habe auch Angst, dass das Vertrauen in die Institutionen verloren gehen könnte. Ein bisschen hängt das davon ab, wie sich die Krise weiterentwickeln wird, und wie die Verantwortlichen darauf reagieren. Das ist noch nicht ausgemacht. Ich bin gleichwohl optimistisch. Wenn Sie mich aber nach meiner größten Befürchtung fragen, dann ist es die, dass die Akzeptanz staatlicher Entscheidungen in dieser Krise in eine eigenständige Krise gerät. Meine größte Hoffnung ist, dass wir uns wieder klarer darüber werden, was wir an einem funktionierenden Staat haben, dass wir die Verabsolutierung vor allem manch trivialer Selbstverwirklichung (Mallorca) ein Stück weit hinterfragen und dass wir vielleicht auch merken, dass so eine Zwangsruhepause, so belastend sie ist, auch positive Effekte hat. Ich hoffe, dass das soziale Miteinander durch die große Solidarität in der Gesellschaft gestärkt wird und der Glaube an die allein selig machende Kraft ökonomischer Rationalitäten ein bisschen abgeschwächt wird.
Zu diesem Thema:
Gespräch 1: Timo Meynhardt
Gespräch 7: Ingolf Pernice
Gespräch 8: Herbert Reitsamer
Gespräch 28: Udo Di Fabio
Anmerkung
1 Florian Meinel und Christoph Möllers, Eine Pandemie ist kein Krieg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.03.2020, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/eine-pandemie-ein-ausnahmezustand-aber-kein-krieg-16686801.html, abgerufen am 15.03.2020.