Читать книгу Big Brother 5.0 - Cornelia Nolte - Страница 5
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ОглавлениеDer große Tag war gekommen. Der Einladung war zu entnehmen, dass es sich bei der Location um eine piekfeine Adresse in einem angesagten Viertel handelte. Es war davon auszugehen, dass sich die Crème de la Crème der Oberschicht einfinden würde. Anders konnte ich mir den mehrstufigen Auswahlprozess nicht erklären. Da war es dann angebracht, sich angemessen herauszuputzen. Extra deshalb hatte ich einen halben Urlaubstag genommen und lief nun, in Unterhose, zwischen Bad und Schlafzimmer hin und her, bis mein Spiegelbild akzeptabel war. Klingt nach einer Frau? Nun, ich war es nicht gewohnt, mich in solchen Kreisen zu bewegen, und wollte auf keinen Fall einen schlechten Eindruck hinterlassen. Und ja: auch Männer können durchaus eitel sein! Als Single in der Großstadt kann gutes Aussehen nicht schaden...
Ich holte also meinen guten Anzug aus dem Schrank, den ich seit der Hochzeit meines Freundes letztes Jahr nicht mehr getragen hatte, und stellte zufrieden fest, dass er noch sehr bequem passte. Ich war sogar beim Frisör gewesen; aber das wäre ohnehin in der nächsten Zeit notwendig geworden. Kurz kämmen, etwas Gel – und die Frage aller Fragen: mit oder ohne Krawatte? Als Gast und mit meiner nicht ganz so hohen Stellung entschied ich mich dagegen. Die Großunternehmer über 50 würden mit Sicherheit eine tragen, da war es vermutlich in Ordnung, wenn ich mich optisch distanzierte.
Um Kleidung und Frisur nicht zu ruinieren, fuhr ich mit Bus und Bahn zur Veranstaltung. Da ich früher dran war als zur Rush Hour, war ich im Verhältnis zu meinen Mitfahrern deutlich zu gut angezogen. In erster Linie waren gerade ältere Schüler und Studenten sowie Rentner und Touristen unterwegs. Mein Empfinden änderte sich allerdings schlagartig, als ich an meiner Station ausstieg und den U-Bahn-Schacht verlassen hatte.
Man könnte meinen, ich sei in einem Bankenviertel gelandet. Wohl aber in einem der betuchteren Bürogebiete, in denen Manager statt Minijobber verkehren. Um mich herum schossen die Glasfassaden in den Himmel. Ihre teils einfallsreiche Architektur zeugte von dem Reichtum und Geschmack der Besitzer und die eingestreuten, aufwändig gepflegten Grünanlagen bedienten eine anspruchsvolle Klientel. Hierhin verirrte sich kein Student. Hier war das Big Business zu Hause.
Das Ziel meiner Reise lag hinter der nächsten Kreuzung. Anscheinend hatte man darauf verzichtet, das zentraler gelegene Messegelände zu buchen, sondern diesem eleganteren Ort den Vorzug gegeben, an dem sich die geladenen Gäste bestimmt heimischer fühlten. Die Location selbst hätte von der Größer her garantiert ebenfalls ein – wenn auch kleineres – Messegelände abgegeben. Aber sie war stilsicher in das Viertel integriert worden und äußerlich nicht sonderlich von den anderen Bürogebäuden zu unterscheiden. Durch die lautlose Drehtür betrat ich den Empfangsbereich.
Der edle Eindruck von außen setzte sich innen nahtlos fort. Von der hohen Decke hing ein beeindruckender Kronleuchter, der so eben nicht überladen wirkte. Boden und Wände zierte glänzender, weiß-grau melierter Marmor. Selbst meine Ledersohlen klackerten hier beim Laufen, so dass sich hundertprozentig niemand hereinschleichen konnte. Es sei denn, man sprang direkt auf den flauschigen Teppich in der Mitte, der die Garderobe rechts von dem linken Service-Tisch trennte. Hinter beiden standen sehr akkurat gekleidete, hübsche Damen und lächelten den Neuankömmlingen zu.
Ich verwarf den Gedanken an das Vorgehen eines Einbrechers und steuerte den Service an, da ich nicht wusste, wie das weitere Prozedere aussah. Mit meiner Eintrittskarte überraschte ich die Dame hinter dem Tresen. Es hätte noch gefehlt, dass sie die Nase rümpfte. Wahrscheinlich sah ich nicht aus wie eine wichtige Persönlichkeit. Aber mein Personalausweis war in ihrer Liste registriert und so wies sie mir den Weg.
Zwar war ich relativ früh angekommen (eine halbe Stunde vorher ist für mich definitiv sehr früh), aber es waren bereits sehr viele Leute im Raum. Aufmerksam betrachtete ich diese illustre Gesellschaft. Wo immer ich hinsah, erblickte ich Prominenz aus den unterschiedlichsten Genres der Stadt. Hier hatte sich tatsächlich das Who-is-who der Highsociety versammelt, und ich war mittendrin. Wahnsinn!
Die meisten anderen Gäste kannten sich untereinander schon und führten angeregte Gespräche. Es wurde viel gelacht, aber in dieser höflichen, nicht ganz so herzlichen Art, von der man nie wusste, ob das Lachen nun wirklich echt und nur gesellschaftstauglich gedämpft war oder man sich selbst gerade disqualifiziert hatte. Hier und da schnappte ich Smalltalk auf, während ich durch das Auditorium schlenderte. Nachher würde ich versuchen, mich irgendwo einzuklinken. Wenn alle über den Vortrag sprachen, war das einfacher. Im Moment suchte ich mir lieber einen guten Platz.
Als das Licht langsam heruntergedreht wurde, legte sich das stete Murmeln im Saal. Gemäß Agenda sprach zuerst der Oberbürgermeister ein paar einleitende Worte und würde anschließend an den Geschäftsführer übergeben. Auf die Bühne trat ein Mann um die 50, das Haar zur Hälfte mit Grau durchzogen, in einem ebenso stahlgrauen wie konservativen Anzug. Lediglich seine Krawatte war ein Farbtupfer, und als solcher auf das Logo des Gastgebers abgestimmt. Wollte er sich etwa anbiedern? Wie peinlich!
Meine Vermutung wurde durch die Rede bestätigt. Der Oberbürgermeister überschlug sich in seiner Laudatio, wie der Name schon sagt, voll des Lobes. Wie immer, wenn Politik die Wirtschaft lobt, geht es in erster Linie um die Schlagworte Arbeitsplätze, Zukunftssicherung (durch Innovation), Standort(vorteile). Die prosperierende Wirtschaft sorgt für zufriedene Bürger, die dann hoffentlich als zufriedene Wähler wissen, wem sie ihr Kreuzchen schulden. Soweit die wirtschaftsliberale Theorie. Dass heute immer noch Mensch dieses Märchen vom ewigen Wachstum glauben, sollte den Philanthropen zu denken geben. Politiker tun es jedenfalls noch; war es doch in den letzten Jahrhunderten ein gut funktionierendes Prinzip. Zumal es die Bevölkerung dermaßen verinnerlicht hat, dass es nach wie vor unhinterfragt hingenommen wird und sich daher als Bezugspunkt deutlich besser eignet als die anderen, erklärungsbedürftigen Modelle einer modernen Volksökonomie, die auch der Globalisierung Rechnung tragen. Aber ich schweife ab.
Mit einem Seufzer versuchte ich mich zu konzentrieren und lenkte meine Gedanken wieder auf die Bühne, die nun der Hauptredner des Abends, der Gastgeber und Initiator, unter überschwänglichem Applaus betrat. Jürgen Morler verkörperte durch und durch den Chef eines Konzerns: kerzengerade und mit selbstbewussten Schritten nahm er die Bühne in Besitz, als wäre sie sein Zuhause. (Wobei sie das in Anbetracht seiner Position mit Sicherheit auch war.) Äußerst gepflegt und in tadellos sitzenden Markenklamotten unterstrich der große Mann mit den angegrauten Haaren seine Macht mit dem Habitus jener Leute, die es gewohnt sind zu führen. Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, wer er war, so hätte ich doch intuitiv Respekt vor seiner autoritären Präsenz gehabt.
Ganz und gar unspektakulär holte er sein Publikum mit einer kleinen Vorstellung von sich und seiner Firma ab. 56 Jahre war er alt, und 22 davon waren seinem Baby gewidmet: Network Solutions. Begonnen als Start-up, hatte er das Unternehmen mit dem richtigen Näschen fürs Geschäft an die Spitze der deutschen Wirtschaft gebracht. Der Name Network Solutions stand für beständigen Fortschritt und Innovation im Technologie-Zeitalter. Effektiv träumte er den Traum einer Hightech-Welt, in der er mit seinen Erfindungen das Leben aller Menschen verbessert. Als hätte ich das nicht schon hundertmal gehört… Dennoch, der Werdegang war beeindruckend.
Was folgte war die AIDA-Formel in ihrer schönsten Ausprägung. Unsere Aufmerksamkeit hatte er längst, trotzdem lenkte er den Blick auf die Herausforderungen des modernen und hoch-digitalen Lebens, auf den Einzelhandel, je nach dem bedroht oder unterstützt durch Onlineshops, auf den überforderten und zugespammten Kunden. Das Bedürfnis war klar umrissen: Qualität statt Quantität, auf beiden Seiten. Stärkere Kundenbeziehungen durch Vertrauen, besserer, maßgeschneiderter Service. Auch das war kein neues Rezept.
Die Lösung ließ nicht lange auf sich warten: „imachine“. Die Wortschöpfung war als Verschmelzung von „imagine“ und „machine“ wenig kreativ, dafür aber eingängig und lehnte sich an den Klang alter Apple-Zeiten an, auch wenn man aus Vorsicht auf Markenrechte darauf verzichtet hatte, das M in der Mitte groß zu schreiben.
Mit einer Kombination aus Zoom und ultrasensiblen Mini-Messgeräten war es Network Solutions gelungen, bei der Messung von Hirnströmen auf Kontakt und Elektroden verzichten zu können. Man wolle uns nicht mit technischen Details langweilen, (zumal mehr dann ohnehin unter das Betriebsgeheimnis fiele, aber das sagte er natürlich nicht), daher nur soviel: Die Frequenz der Hirnströme ließe sich mit der technischen Ausstattung von Network Solutions aus den Alltagsgeräuschen gut herausfiltern und in den Testreihen den Probanden auch korrekt zuordnen. Somit sei die Zuverlässigkeit der Methode bewiesen und Marktreife erreicht.
Um eine flächendeckende, vernetzte Nutzung zu ermöglichen, sollte es zu der kontaktfreien Anwendung zusätzlich die Option der Einbindung in Datenbrillen geben. Die aktuellen Nachfolger von Google Glas wären dann in der Lage, die Augmented Reality-Angebote oder auch Beacon-Einspielungen der emotionalen Verfassung der Träger anzupassen.
Win-win, wohin man schaute. Das Auditorium war begeistert und honorierte die Darbietung mit Standing Ovations. Versprach dieses Produkt doch vielen unter ihnen neue Absatzmöglichkeiten und damit steigenden Umsatz. Was mich betraf, so würde ich als Verbraucher nur noch das angeboten bekommen, was ich wirklich brauchte. Und wirklich nur das.
Trotzdem blieb ich skeptisch. Ich würde darüber schlafen und mich später mit den Folgen für das gesellschaftliche Gefüge im Allgemeinen und dem einzelnen Menschen im Speziellen auseinandersetzen. Schließlich war ich auch in meiner Funktion als Wissenschaftler hier und schuldete meinem Chef ein Paper zur Veröffentlichung in den Fachzeitschriften, wenn mein Ausflug hierher als Arbeitszeit durchgehen sollte.
Was ich noch nicht wusste, war, dass ich schon zu diesem Zeitpunkt die Führungsriege des Produktmanagements in helle Aufregung versetzt hatte und mich von nun an in ihrem Fadenkreuz befand. Absolut ahnungslos und unbekümmert setzte ich daher die nächsten Tage mein Leben fort.