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Der große Tag war gekommen, auch für Dr. Karsten Reinheimer, Leiter der Entwicklungsabteilungen von Network Solutions. Seit sieben Jahren arbeitete er auf diesen Moment hin, und deshalb musste er perfekt sein.

Schon während seines Studiums hatte ihn die Neuroinformatik fasziniert und ihm war klar, dass für ihn kein anderes Forschungsgebiet in Frage kam. Nach seiner Promotion stellte sich allerdings schnell die Ernüchterung über die Mittel und die Prozesse an der Universität ein. Mehrfach hatte er bei den Professoren seines Fachbereichs, in den zuständigen Ausschüssen, ja sogar bei der präsidialen Leitung selbst für seine Vision geworben. Regelrecht gebettelt, um genau zu sein. Welche Erniedrigung. Er ballte die Faust. Er wurde noch immer wütend, wenn er daran dachte.

Unermüdlich hatte er seine Beweggründe skizziert, Paper und sonstige Unterlagen vorgelegt, die man von ihm verlangt hatte, getrieben von der Hoffnung, dass es diesmal endlich angenommen werden würde. Aber sie hatten ihn zum Narren gehalten. Also hatte er sich der Wirtschaft verschrieben, die wesentlich mehr Interesse an seinen Ideen zeigte. Und um es nicht zu verachten: wesentlich mehr zahlte!

Die Network Solutions AG hatte schon damals eine beeindruckende Firmengeschichte vorzuweisen. Ihren Führungsanspruch eines modernen, innovativen Technologie-Unternehmens untermauerte sie mit einer Reihe von Erfindungen, die als Vorreiter neuer Produktkategorien galten und neue Maßstäbe in ganzen Branchen setzten. Als derartiges Schwergewicht hatte sie Zugang zu quasi unerschöpflichen Geldquellen, sofern es einem gelang, die Investoren zu überzeugen. Meistens genügte allerdings bereits der gute Name und die Versicherung des Geschäftsführers, dass er an ein Projekt glaubte.

Das Wichtigste war aber, dass Network Solutions Karstens Vision sehr ernst nahm und äußerst großzügig seine Arbeiten honorierte. In einem Stadium, das andere sicher belächelt hätten, verstand der Geschäftsführer das Potenzial hinter den nüchternen Fakten des Vortrags und war bereit, in das Projekt zu investieren. Schnell zeichnete sich ab, wo die Reise hingehen könnte, wenn sich aus der Idee ein kommerzielles Produkt entwickeln ließe, und die Tragweite warf selbst Karsten um. Diese Art unternehmerischen Denkens war ihm damals noch fremd, aber er begriff sehr gut, dass er in dieser Firma richtig war.

Nach und nach hatte Karsten Erfolge mit seinen Milestones erzielt und darüber hinaus auch dazu beigetragen, anderen Projekten zum Durchbruch zu verhelfen. Was sollte er sagen, er war halt brillant! So kam es, dass er nebenbei die Karriereleiter hinaufkletterte, ohne dabei sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Selbst wenn er kaum noch Zeit hatte, persönlich an seinem Lieblingsprojekt zu arbeiten, hielt er sich dennoch auf dem Laufenden und genoss es, hier und da einmal mit den Technikern über kleinere Herausforderungen zu diskutieren. Sein Rat war gerne gehört und inzwischen waren auch alle Hindernisse dieses so speziellen Projekts ausgeräumt.

Heute also würde er es ihnen allen beweisen. Sicher, es war noch nicht die große Öffentlichkeit, aber es war ein Anfang. Still grinste er in sich hinein, als er sich die staunenden Gesichter der alten Herren seiner ehemaligen, feinen Universität vorstellte, ihre weit aufgerissenen Augen und die aufgeklappten Münder. Geschah ihnen recht, diesen heuchlerischen Taugenichtsen!

Noch einmal prüfte er die Verkabelung seines „Babys“, ging die Sensoren durch, die ihm einzeln grüne Lichtchen erleuchten ließen, sprach per Funk mit den Mitarbeitern im Saal. Ein paar Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die er sich mit einem Taschentuch abwischte. Himmel, war er auf einmal nervös! Sehnsüchtig hatte er auf diesen Tag gewartet, und jetzt war er kurz davor, es sich selbst zu vermasseln. Er rüttelte an seinem Krawattenknoten, ohne ihn wirklich zu lockern. Vielleicht ginge es doch ohne Krawatte?

Oder war es die Hitze in dem kleinen Regieraum? Vollgestopft mit Elektronik, leise schnurrenden Computern und aneinandergereihten Monitoren war dieses Kabuff prädestiniert für schlechte, abgestandene Luft. Dass noch niemand über die Kabel gefallen war, glich einem Wunder. Der einzige Grund, warum ihm dieser Raum von Anfang an gefallen hatte, war seine Lage. Wie in einem Regieraum im Theater ließ sich von hier das komplette Auditorium überblicken, da sich der Raum auf einer höheren Etage befand und Fenster eingelassen waren. Diese gestatteten zudem direkten Sichtkontakt zum Podium. Von unten, von den Zuschauerrängen, konnte man dagegen nur gesehen werden, wenn sich die Gäste die Hälse verrenkten. Und selbst wenn die Gäste das täten, würden sie doch nur den Tontechniker hinter dem Glas vermuten.

Das war Karsten ganz recht. In gewissem Sinne war diese Vermutung auch gar nicht falsch, schließlich überwachte er tatsächlich den reibungslosen Ablauf dieser Veranstaltung. Lediglich die Beschränkung auf die Tontechnik traf den Kern der Sache nicht ganz. Unten am Rednerpult würde sein Chef seine – ihre – neue Erfindung vorstellen. Hier oben würde Karsten sie in einem größeren Testlauf bereits zum Einsatz bringen!

Getarnt als futuristische Dekoration waren unzählige kleine Sensoren derart auf das ahnungslose Publikum ausgerichtet, dass jeder einzelne Platz überwacht werden konnte. Bei Karsten auf den Monitoren wurden die Daten dann zusammengeführt, so dass er genau sehen konnte, was die Zuschauer dachten. Über verschiedene Farben, die den grundlegenden Emotionen zugeordnet waren, ließ sich so die Stimmung im Saal ziemlich gut abbilden.

Damit nicht genug: er war in der Lage, seinen Chef per Livestream darüber zu informieren, ob seine Rede bei den Gästen ankam oder nicht. Um darauf reagieren zu können, war der Vortrag so gegliedert, dass die Abschnitte in unterschiedlichen Varianten existierten, das heißt mit anderen Beispielen, anderen Betonungen, anderer Sprachlichkeit. Diese Varianten trugen diversen Emotionen Rechnung, und je nach dem, was im Publikum vorherrschte, konnte die Rede live angepasst werden. War das nicht genial?!? Okay, einen Vortrag in so vielen Versionen zu üben war nicht einfach. Aber hey, wenn man hinterher direkter und schneller sein Ziel erreichte, war es die Mühe doch wert.

Als die ersten Gäste eintrafen, durch die Stuhlreihen schlenderten und sich einen Platz suchten, fuhr sich Karsten immer öfter durch die kurzen, halb nassen Haare. Trotz seiner Nervosität würde er die Sensoren erst aktivieren, wenn die Rede begann, damit kein Hin und Her im Zuschauerraum mehr die Messungen störte. Wenn alle saßen, würden durch den gleichzeitigen Start der Messreihe die Ergebnisse vergleichbar sein und grob konnte jeder Sensor einer konkreten Person zugeordnet werden.

Dies war mit ein Grund für das penible Akkreditierungsverfahren im Vorfeld der Vorführung. Ausgewählte, man konnte fast sagen auserwählte, in jedem Fall aber handverlesene Persönlichkeiten gehörten zu dem exklusiven Publikum. Jeder Gast bekleidete eine von vielen Schlüsselpositionen und repräsentierte eine bestimmte Funktion in der Gesellschaft. Es waren Wirtschaftsbosse anwesend (insbesondere Großunternehmer aus diversen Einzelhandelsbranchen), Wissenschaftler, Politiker und natürlich die Presse. Beim Auswahlverfahren wurde im Verborgenen sorgfältig darauf geachtet, dass die Teilnehmer nicht nur strategisch wichtige Stellen besetzten, sondern sie in der Vergangenheit zudem nicht sehr negativ aufgefallen waren, was ihre Einstellung zu moderner Technik betraf. Ein paar Journalisten fielen zwar in die Kategorie der Skeptiker, aber das war vertretbar und beugte einer extrem positiven Berichterstattung vor, was in der öffentlichen Meinung ohnehin unglaubwürdig erschienen wäre.

Das Scannen der Reaktionen hatte darüber hinaus noch ein weiteren Vorteil; es stellte nämlich ein Radar der Befürworter und Gegner des Projekts dar. Auf diese Weise war es im Nachhinein ohne Probleme möglich, gezielt die Gegner zu bearbeiten, um mittel- bis langfristig ausschließlich positive Beurteilungen des Produkts zu erreichen und damit eine reibungslose Markteinführung. Lobbyeismus war noch nie effizienter...

Langsam dimmte der Lichttechniker das Licht, um den Beginn der Veranstaltung sanft anzukündigen. Karsten atmete tief ein. Die Vorstellung konnte beginnen!

Gleich nachdem Karsten die Sensoren aktiviert und mit einem fachkundigen Blick die Monitore gecheckt hatte, hatte er es gesehen. Ein schwarzer Punkt in Reihe 12, Platz 27. Ein schwarzer Punkt bedeutete keine Daten. Dabei hatte er doch alles zig Mal geprüft, und immer hatte alles einwandfrei funktioniert!

„Verfluchter Mist!“ schimpfte Karsten leise vor sich hin, als er sich erneut daran machte, diesen einen widerspenstigen Sensor zum Laufen zu bringen.

Zuerst startete er den Sensor neu. Gleiches Ergebnis. Er gab den Befehl zum Mitschreiben der Logfiles und rebootete wiederholt. Keine Fehlermeldung. Aber nach wie vor ein schwarzer Punkt! Er gab verschiedene Befehle in die Kommandozeile ein. Der betroffene Sensor reagierte prompt, ließ sich also ansteuern. In der Einzelansicht des Sensors bildeten sich die Veränderungen auf dem Monitor ab. Die Kommunikation der Geräte schien zu funktionieren; die Verkabelung war unangetastet. Stimmte etwas mit den Rezeptoren nicht? Testweise bewegte Karsten den Sensor ein wenig. Wie durch ein Wunder erhielt er ein Signal, als der Sensor in den Einzugsbereich der nächsten Person einschwenkte. Karsten stockte. Unmöglich!

Nachdem er den Test mit weiteren Sensoren wiederholt hatte, kam er zu keinem anderen Schluss, als dass zwar alle Sensoren tadellos ihre Arbeit verrichteten, aber nicht fähig waren, diesen einen Gast dort unten zu „lesen“. Einer von 250. Bei derart komplexen Analysen an sich eine Fehlerquote im Toleranzbereich, nur dass es für diesen Fehler keine logische Erklärung gab. Die menschliche Anatomie war ohne große Abweichungen und den menschlichen Gehirnen lagen alle dieselben biochemischen Prozesse zugrunde, deren sich die Sensoren bedienten. Karsten kam zu keinem anderen Ergebnis, als dass es eigentlich unmöglich war.

Der Fehler bestand zudem nicht in falschen Daten, sondern in schlicht nicht vorhandenen Daten. Das war ein riesiger Unterschied, und ein äußerst fataler noch hinzu. Gab es ein Schlupfloch, sich dem Scannen zu verweigern? Wenn dem so war, hätte dies weitreichende Konsequenzen. Erst recht, wenn der Ausweg einfach herauszufinden sein sollte. Seine Geldgeber würden nicht begeistert sein.

Mit der Kamera über der Leinwand zoomte Karsten in den Zuschauerraum auf den entsprechenden Platz. Es war zwar relativ dunkel, aber die Kameraausstattung war erstklassig, und so konnte er selbst in diesem diffusen Licht das Gesicht des Mannes, der dort saß, klar erkennen. Kein Gesicht, das Karsten bekannt war. Deshalb ließ er die Gesichtserkennungssoftware einen Abgleich mit den Personaldaten des Akkreditierungsverfahrens erstellen. Es gab einen Treffer für Steffen Hartwig, Soziologe. Bei diesem Namen klingelte bei Karsten ebenfalls – nichts. Ein Wissenschaftler, eingestuft als neutrale Person. Wie konnte das sein?

„Wer zum Kuckuck bist Du?“ fragte Karsten irritiert, während er aus dem Fenster hinunter auf jenen Mann in Reihe 12, Platz 27, starrte, der ihm das Rätsel des Tages aufgab.

Auf der Party im Anschluss an die Präsentation war Karsten nicht hundertprozentig zum Feiern zumute. Dabei hätte das sein Augenblick des Triumphs sein sollen! Immer wieder kreisten seine Gedanken um den geheimnisvollen Kerl, der es schaffte, sich dem Scannen zu entziehen. Hin und wieder schweifte sein Blick durch den Saal und klebte an dem Mann, der sich völlig normal gab und vielleicht gar keine Ahnung hatte, was für ein Mysterium er aktuell darstellte.

Wie gerne hätte Karsten den Mann an Ort und Stelle befragt, aber das ging aus zweierlei Gründen nicht. Erstens: Karsten konnte sich nicht in aller Öffentlichkeit mit einem drittklassigen Wissenschaftler abgeben, den niemand kannte, ohne Skepsis und unangenehme Fragen heraufzubeschwören. Viel schwerwiegender war jedoch, zweitens, dass die Gäste von dem Scannen nichts wussten und er mit dem Fremden deshalb nicht darüber sprechen konnte, ohne dieses Geheimnis Preis zu geben. Karsten würde sich gedulden müssen.

Äußerlich ließ er sich seine innere Unruhe nicht anmerken. Pflichtbewusst tingelte er mit seinem Chef durch die Reihen der wichtigen Leute, schüttelte Hände und lächelte sein Siegerlächeln, das den Investoren die Selbstsicherheit gab, auf das richtige Pferd gesetzt zu haben.

Endlich war auch der letzte Gast freundlich hinauskomplementiert worden, und Karsten konnte sich mit seinem Chef und seinen engsten Vertrauten an die Analyse machen. Es war Karsten sichtlich peinlich, die Hochstimmung seiner Kollegen dämpfen zu müssen, aber um den heißen Brei herumzureden war keine Option. Sie hatten offensichtlich ein Problem, und es galt es zu lösen.

Nachdem Karsten von seiner Entdeckung berichtet hatte, wurde es ganz still im Raum. Er schilderte seine Tests, die Analysen, die er gefahren hatte, und dass das im Grunde nur einen Schluss zuließ: ihr Prototyp hatte eine Achillesferse. Die gute Laune war verflogen und wich ernsten Gesichtern.

„Ist doch ein klarer Fall: wenn die Sensoren und alles funktionieren, muss es an ihm liegen“, resümierte der Chefingenieur mit einem Seitenblick auf den Neurowissenschaftler des Teams.

Der verstand das als Angriff und konterte spitz: „Wir hatten uns doch intensiv mit den Medizinern ausgetauscht; Jeder Mensch produziert Hirnströme und es gibt keinen biologischen Mechanismus, um die zu unterdrücken, denn das würde bedeuten, dass Du nicht mehr denkst. Dann wärst Du tot, aber wie Du siehst, ist der Kerl quicklebendig.“

„Leute, beruhigt Euch. Es war ein langer Tag für alle.“ Selbst wenn dies keine guten Nachrichten waren und er am liebsten an die Decke gehen würde, durfte Jürgen Morler nicht zulassen, dass sich sein Team zerstritt. Nichts war in solchen Situationen wichtiger, als die Ruhe zu bewahren und an einem Strang zu ziehen.

„Das heißt biologische Gründe können definitiv ausgeschlossen werden, ja?“ bohrte der Ingenieur nach.

„100-protzentig, aber da wiederhole ich mich“, seufzte der Neurowissenschaftler matt.

Fahrig strich sich Karsten durch die Haare. Sie mussten das Problem unbedingt strukturierter angehen. „Also,“ dachte er laut, „die Ursache ist nicht technisch und nicht biologisch... Was ist mit mechanisch?“

Ungläubige Gesichter starrten ihn an, bis die Erkenntnis durchsickerte. Mit einem Mal waren alle wieder hellwach.

„Du meinst, er blockiert uns mit irgendwas?“

„Was soll das denn sein? Guck' ihn Dir doch an,“ erwiderte der Ingenieur, während er mit dem Arm vor Steffen Hartwigs Standbild herumfuchtelte, „da ist nichts!“

„Weiß ich doch auch nicht, aber hast Du eine bessere Idee?!?“ Mühsam beherrschte Karsten sich. Das ging echt an seine Substanz. Er sollte sich weniger stressen lassen, aber nach seiner Entdeckung würde daraus vermutlich erst einmal nichts werden. Er atmete hörbar aus.

„Nehmen wir mal an, Du hast recht, was bedeutet das dann? Dass jeder Idiot – und sooo helle sieht er ja nun wirklich nicht aus – jeder Idiot in der Lage ist, unsere Sensoren auszusperren?“

„Himmel, die Investoren werden nicht begeistert sein...“

„Auf keinen Fall werden wir denen etwas sagen, bevor wir nichts Genaueres wissen!“ Morler war mit verschränkten Armen und fixem Blick seinen eigenen Gedanken gefolgt, aber nun schaltete er sich wieder ein.

„Willst Du sie denn belügen?“

„Es ist doch keine Lüge. Ich wüsste ja nicht einmal, was ich ihnen sagen soll, weil wir noch gar nicht wissen, womit genau wir es zu tun haben. Nach dem großen Testlauf arbeiten wir jetzt am Finetuning, das ist doch ganz normal. Solange keine gravierenden Fehler auftreten, müssen wir sie nicht damit beunruhigen. Und bis die Investoren die Geräte selbst in die Hand bekommen, haben wir noch genug Zeit, diese Unstimmigkeit aufzuklären.“ Da war Morler ganz der aalglatte Geschäftsmann. Die externe Kommunikation musste unter Kontrolle bleiben.

„Schön, aber wie gehen wir nun intern damit um?“

Als der Morgen dämmerte, saßen die Männer noch immer zusammen und diskutierten. Eine Stunde später fielen sie schließlich erschöpft in ihre Betten. Ihr Plan stand fest.

Big Brother 5.0

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