Читать книгу Big Brother 5.0 - Cornelia Nolte - Страница 8
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ОглавлениеWie versprochen saß ich am nächsten Tag im Büro und starrte auf einen blinkenden Cursor am Anfang einer leeren, weißen Seite. Hm, mal sehen – sicher konnte es nicht schaden, wenn ich kurz die Entstehungsgeschichte umriss. Aber dann?
Mir ging es vermutlich wie einem Schriftsteller, der zwar einen groben Plan hat, aber die Details und die Figuren noch zu unscharf sind, als dass er etwas sinnvolles zu Papier bringen könnte. Aber was macht man da? Recherchieren ist bestimmt immer eine gute Idee.
Google weiß Rat. Behauptet Google selbst, und ein Großteil der User gibt ihm recht. Zumindest ist die Semantik derart weit fortgeschritten, dass es für die überwiegende Zahl der Anfragen keine Trefferliste mehr gibt, sondern eine einzige, klare Antwort. Die dann auch gar nicht mehr hinterfragt wird. Was äußerst tückisch ist. Wenn ich es mir recht überlegte, war das ein Wissensmonopol. Ein selbst gewähltes, versteht sich, denn jeder könnte ja nach wie vor auf andere Quellen zurückgreifen. Da siegt dann nur meistens die Faulheit. Aber darüber wollte ich mir ein andermal Gedanken machen. Schließlich war mein Thema komplexer und damit anders geartet.
Das spiegelte sich tatsächlich in meinem Suchergebnis wider, denn wie früher bekam ich noch eine unendlich lange Liste mit möglichen relevanten Treffern. Ich biss also in den sauren Apfel und begann oben.
Die ersten Treffer waren der Spiele-Industrie zuzuordnen. Mal wurden die Produkte alleine beworben, mal das Setup ausführlicher erklärt. Da ich nicht so der Computerspiele-Fan war, übersprang ich nach ein bis zwei Detailseiten entsprechende Links schnell.
Was danach kam, passte in keine Kategorie. Es war eine Mischung aus Pseudo-Wissenschaft, paranoiden Verschwörungstheorien, kleinbürgerlicher Panikmache. Nur ein paar Gruppierungen und Foren machten einen seriösen Eindruck. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen suchte ich jedoch vergeblich. Aber die fanden sich wohl eher in der Bibliothek. Dem wollte ich später nachgehen und klickte und scrollte mich erst einmal weiter durch das bunte World Wide Web.
Schon am frühen Nachmittag schwirrte mir durch die vielen Informationen und Theorien derart der Kopf, dass ich die restliche Zeit bis zum Feierabend freiwillig mit langweiligen Verwaltungsaufgaben überbrückte. Punkt 16.30 Uhr fuhr ich meinen Rechner runter. Es war Zeit für mein Freitagabend-Bier mit Christian.
Es hatte sich vor einer Ewigkeit eingebürgert, als er nach ein paar Jahren im Ausland wieder nach Deutschland kam und alte Kontakte auffrischte. In unserem Bekanntenkreis gab es nicht wenige, die um diese Uhrzeit noch arbeiten mussten, weil es die Dienstleistungsgesellschaft von ihrem Job und somit von ihnen verlangte. Dadurch waren wir meistens zu zweit in unserer Stammkneipe, die dank der vielen Touristen trotzdem immer voll war.
Ich entdeckte Christian weiter hinten am Tresen und setzte mich auf den freien Hocker neben ihm, nachdem ich ihm zu Begrüßung auf die Schulter geklopft hatte. Fast hätte er sich verschluckt, denn er hatte mich nicht kommen sehen. Seine Aufmerksamkeit galt gerade der Sportübertragung auf dem großen Bildschirm über der Bar.
„Servus!“ hustete er.
„Na, alles klar?“
„Jo, geht schon.“
Damit war eigentlich schon alles gesagt, was notwendig war, bevor auch vor mir eine Bierflasche stand und ich mit ihm auf das vor uns liegende Wochenende anstoßen konnte. Wir waren eben ein eingespieltes Team und verstanden uns blind.
Wie bei einem alten Ehepaar fragten wir uns dann aber immer artig nach dem jeweils anderen Arbeitstag. Und wie immer war Christian froh, sich bei mir auskotzen zu können. Anderswo musste er extrem vorsichtig mit seinen Äußerungen sein, da er nie wusste, ob nicht vielleicht jemand mithörte, der ihn verpetzte. Entweder aus Eigennutz, oder aus purer Boshaftigkeit. Das Sprichwort „eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ endet leider in dem Moment, in dem es um wahnsinnig viel Geld geht.
Sein Kunde ging ihm mächtig auf die Nerven, weil dieser beratungsresistent war, zumal die unterschiedlichen involvierten Abteilungen auch gegeneinander arbeiteten, und dadurch sehr viel unnützen Aufwand produzierten. Was natürlich kein Aufwand war, den man dem Kunden gut in Rechnung stellen konnte. Was wiederum den Chef erzürnte. Aber, soweit ich es beurteilen konnte, gelang Christian der Spagat zwischen Serviceorientierung beim Kunden auf der einen und Wirtschaftlichkeit auf der anderen Seite grundsätzlich ganz gut.
Zur Abwechslung konnte ich diesmal auch mit einem Highlight glänzen und erzählte statt wie sonst von unreifen Studenten oder langweiliger Uni-Lektüre von der Veranstaltung. Christian hatte nichts von der Ankündigung in den Nachrichten damals mitbekommen und war deshalb ganz Ohr.
„Gedankenlesen, echt jetzt?“
„Naja, nicht einen konkreten, ausformulierten Gedanken, aber zum Beispiel, ob Du gerade einen guten oder schlechten Gedanken hast. Ob Du fröhlich oder traurig bist. Sowas halt“, versuchte ich das Gelernte in einfachen Worten widerzugeben.
„Pfff, was ist daran so innovativ? Das kann man doch an den Gesichtern ablesen!“
„Aber nicht, wenn Dir jemand was vorspielt.“
„Also ob meine Freundin wirklich Migräne hat?“ Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen zwinkerte er mir zu.
„Du hast doch gar keine“, scherzte ich mit. „Aber im Ernst, anscheinend schon.“
„Trotzdem ist das nicht viel. Ich kann sogar schon bei meiner Spielekonsole Spiele über Gedanken steuern.“
„Du hast sowas zu Hause???“
„Klar. Ist total praktisch für First-Person-Shooter, weil die Reaktionszeiten so ultraschnell sind.“
„Ich habe vorhin das erste Mal davon gelesen, kann mir das aber irgendwie gar nicht vorstellen. Wie ist das so?“
„Was hältst Du davon, wenn ich es Dir zeige?“
Christians Wohnung war so unaufgeräumt wie immer. Zwar waren es nicht die klischeehaften Socken, die den Boden schmückten, aber Sportgeräte, Zeitschriften, Versandhandel-Kartons und gelegentlich Kekskrümel konnte man dort finden. Ich fragte mich, nicht zum ersten Mal, wie lange er wohl zum Putzen einplante, wenn er ein Date hatte und für den Fall der Fälle vorbereitet sein wollte.
Als sein heutiges „Date“ sah ich großzügig darüber hinweg. Auf mich musste er keinen guten Eindruck mehr machen. Ich wusste, dass Menschen mit absoluter seelischer Ordnung die chaotischsten Schreibtische beziehungsweise Wohnungen hatten. Chris war in jeder Beziehung schwer in Ordnung, und so verkniff ich mir auch jeden Kommentar. Unsere Freundschaft war schon längst über solch oberflächliche Sticheleien hinaus.
Ohne Worte steuerte ich den Wohnbereich seiner 2-Zimmer-Wohnung an und ließ mich auf der Couch nieder, während Christian aus der Küche noch zwei Bier und was zu knabbern mitbrachte. Außerdem kramte er zielsicher aus einem der Kartons die „Gedankensteuerung“ der Spielekonsole hervor.
Ich hatte einen robusten Helm erwartet, vollgestopft mit Elektronik, aber diese Zeiten waren offensichtlich lange vorbei. Christian drückte mir einen schlanken Reif in die Hand, der fast ein Haarreif hätte sein können, wenn nicht noch ein im rechten Winkel dazu verlaufender zweiter Reif für den Halt am Kopf vorgesehen gewesen wäre. Die Technik war also inzwischen soweit vorangeschritten, dass für großen Hokus-Pokus kleinste Platinen (und was sonst noch so dazugehört) ausreichten.
Wenn ich nicht gewusst hätte, was es sein sollte, ich hätte es für einen futuristischen Brillenhalter oder Ähnliches gehalten. Nie hätte ich daran gedacht, es als eine Bedienung oder einen „Gedankenspion“ zu betrachten. Fasziniert begutachtete ich den Reif von allen Seiten, auch wenn ich nichts Neues entdeckte, bis Christian mit dem restlichen technischen Setup fertig war.
Als das letzte Kabel in der passenden Buchse steckte, demonstrierte mir Christian in einem Selbstversuch das Prozedere:
„So, man setzt hier diesen Reif auf“ - er korrigierte kurz den Sitz, bis der Reif exakt waagrecht über seine Stirn lief - „schaltet ihn ein“ - er betätigte einen unscheinbaren Knopf an der Seite - „geht bei der Konsole in den 'Kopfsteuermodus', und los geht’s!“
Da er mit der Steuerung bereits vertraut war, führte er mir mit schlafwandlerischer Sicherheit vor, wie man erstaunlich effizient eine Figur durch dieses Spiel führen konnte. Aber zuzuschauen, ohne zu sehen, was genau vor sich geht, ist natürlich extrem langweilig und mehr mit Filmgucken vergleichbar als mit einer Erklärung.
„Willst Du auch mal?“
„Ich dachte, Du fragst nie!“
Christian reichte mir den leichten Reif. Ich spürte ihn kaum, als ich ihn mir auf den Kopf setzte. In der Zwischenzeit legte Christian einen Gast-Zugang für mich an, so dass ich im Testmodus anfangen konnte, um mich an die Steuerung zu gewöhnen.
„Komisch, die Konsole sagt, sie kriegt keine Daten. Hast Du das Ding richtig auf?“ Er prüfte kritisch den Sitz, als ich meinen Kopf nach allen Seiten drehte, um es ihm leichter zu machen.
„Angeschaltet?“
Ich nickte und betätigte zur Bestätigung den Knopf. Aus – die Konsole meldete, kein Gerät finden zu können. An – sie konnte keine Daten empfangen.
„Was sagt denn die Bedienungsanleitung zur Problembehebung?“
„Gute Frage“, murmelte Christian und griff in den Karton hinter sich, um ein unerwartet dünnes Heft zu Tage zu fördern. Eine Weile blätterte er schweigend darin, dann las er mir vor:
„'Wenn keine Daten empfangen werden, stellen Sie sicher, dass das Gerät direkt auf dem Kopf aufliegt und keine Gegenstände den Empfang behindern.'“ Er schaute kurz zu mir auf. „Mütze oder so können wir ausschließen. … 'Der Empfang kann bereits durch eine starke Haarpracht oder dicke Schädelknochen beeinträchtigt werden.'“ Christian ließ das Heft ratlos sinken.
„Aaah, weißt Du was – meine Metallplatte!“ Fast hätte ich mir ob der Erkenntnis mit der Hand gegen die Stirn geschlagen, konnte mich aber noch rechtzeitig bremsen, um den Reif nicht zu beschädigen.
„Na toll, das hätte uns aber auch früher einfallen können! Tja schade, tut mir echt leid.“
„Macht nix. Aber dann wissen wir wenigstens Bescheid.“ Obwohl ich natürlich enttäuscht war, wollte ich mir das nicht eingestehen.
„Hey, weißt Du was? Vielleicht bist Du damit der einzige Mensch, der nicht von dieser neuen Erfindung ausgeforscht werden kann.“
„Naja, jeder kann sich doch dann eine Mütze aufziehen“, wehrte ich ab.
„Aber überleg' doch mal!“ Chris war auf einmal Feuer und Flamme. Er setzte sich in den Schneidersitz und untermalte mit seinen Händen seine Ausführungen. „'Ne Mütze im Sommer, wer will das? Oder wenn man seine mal vergisst? Du hingegen müsstest gar nicht darüber nachdenken. Du hättest Deine quasi immer dabei.“
„Hmmm, da ist was dran...“
„Und stell' Dir mal die Gesichter von den Leuten vor, wenn die Dich durchleuchten wollen und nichts passiert. Bestimmt ein Bild für die Götter!“
„Ich könnte mich als Agent überall einschleusen und niemand könnte mich enttarnen.“
„Ja, das ist voll cool. So richtiger Undercover-Spionage-Scheiß. Epic, Alter!“
Oh man, damals gefiel mir die Vorstellung. Wenn ich gewusst hätte, wie nah das später der Realität kommen sollte, ich hätte mich ins hinterste Loch verkrochen und wäre nicht mehr herausgekommen... In diesem Moment allerdings dachte ich nicht groß ernsthaft nach, als ich mit Christian noch eine Weile herumalberte, bevor wir uns einen Film reinzogen und uns schließlich nach dem (jeweils) dritten Bier verabschiedeten.
Am nächsten Morgen war Tag zwei des blinkenden Cursors. Mein Ausflug in die Spiele-Industrie zuvor war zwar etwas unwissenschaftlich, beflügelte mich aber dennoch. Auch wenn ich, wie ich feststellen musste, etwas gehandikapt war, weil ich die Erfahrung nicht selbst machen und nur beobachten konnte. Trotzdem ist die Beobachtung, unter der richtigen Anwendung, eine valide wissenschaftliche Methode zum Erkenntnisgewinn, tröstete ich mich.