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In eine große Zukunft muss investiert werden

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Wenige Tage später hielt Herr Carl das ans ZDF-Magazin gerichtete Schreiben von Hansgeorg Jesudas in den Händen. Er überlegte, ob er darauf reagieren sollte. Immerhin stand in diesem Brief, dass Jesudas ihm (Herrn Carl) einige interessante Konzerte in der Bundesrepublik vermitteln wollte. Das fand Herr Carl sehr löblich. Er überlegte hin und her und her und hin. Er hatte keine Lust, seine neu gewonnene Freiheit an einen Manager abzugeben. Andererseits klang „Manager“ doch viel besser als „Künstleragentur“. Fünf Minuten lang starrte Herr Carl auf seinen Kalender, in dem keinerlei Termine standen. Dann schrieb er Herrn Jesudas einen netten Brief, und das war gut so, denn wie sich schnell herausstellte, war Jesudas ein Mann von höchsten Qualitäten. Er machte nicht viel Federlesens, sondern versprach, dass er Herrn Carl binnen weniger Wochen mit sämtlichen Koryphäen der klassischen Musikszene bekannt machen wird. Jesudas versprach Herrn Carl, dass er ihn den Chefs sämtlicher Opernhäuser, allen möglichen Festivaldirektoren, Programmverantwortlichen sämtlicher Fernsehsender, Theaterintendanten, Landeskirchenmusikdirektoren, Varietee-Betreibern und Nachtclubbesitzern vorstellen werde. Umgehend wurde ein erster Termin vereinbart. Natürlich konnte Herr Carl nicht wie ein Bittsteller, wie ein dahergelaufener Landstreicher zu solch einem Termin erscheinen. Zwar hatte er sich in der Kürze der Zeit noch keinen Hofstaat aufbauen können, aber umso wichtiger war eine angemessene Sänfte. Leider waren Zeit und Geld knapp bemessen, zu knapp für eine sorgsame Auswahl. Und so kaufte Herr Carl in aller Eile einen Gebrauchtwagen von einem seriösen älteren Herren. Es war ein Opel Senator, der laut Tacho erst schlappe fünfzigtausend Kilometer auf dem Buckel hatte und den der seriöse Herr ihm für unglaublich günstige fünfzehntausend Deutsche Mark überließ. Dies mit der eidesstattlichen Versicherung, dass dieses Auto seinen Besitzer, wenn nötig, in den nächsten hundert Jahren zuverlässig zu allen Zielen zwischen Nordpol und Äquator bringen wird. Zunächst wollte Carli allerdings nur nach Weilburg an der Lahn. Beim dortigen Schlosskonzert traf er Herrn Jesudas. Die Investition in den Opel Senator hatte sich bereits nach dieser winzigen 70-Kilometer-Fahrt völlig rentiert: Carli hatte Jesudas mit seinem weltmännischen Auftreten nachhaltig beeindruckt. Jesudas setzte sofort alle Hebel in Bewegung, um schnellstmöglich Carlis Manager zu werden.

PS: Wenn Herr Carl die Republik nicht verlassen hätte, wäre so ein Autokauf für ihn nicht ganz so flott über die Bühne gegangen. Gängige Modelle wie der legendäre Trabant de Luxe waren derartig begehrt, dass die Bestellzeiten um die siebzehn Jahre betrugen. Davon konnte die Firma Opel nur träumen. Anstatt also seine Zeit mit Autokäufen zu vertrödeln, hätte Herr Carl sich mit den wirklich wichtigen Dingen beschäftigt. Sprich: Er wäre am achten Juni gleich um acht Uhr morgens ins Wahllokal Nummer neunzehn (Garskestraße 17b, Hintereingang) gegangen und hätte dort die Volkskammer, also das höchste Verfassungsorgan seiner sozialistischen Republik, gewählt. Dabei hätte er seine Stimme sehr wahrscheinlich den Kandidaten der Nationalen Front gegeben. Die waren im Volk extrem beliebt. Deshalb haben sie stets reichlich einhundertzehn Prozent der Stimmen bekommen.


Der unbekannte Herr Carl

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