Читать книгу Der unbekannte Herr Carl - Cristina Zehrfeld - Страница 6
Voodoo
ОглавлениеDer beliebteste und sicherste Ort, um seinem Herzen ordentlich Luft zu machen, ist immer noch hinter dem Rücken eines Menschen. Nachdem nun Maestro Carl der schönen Republik den Rücken gekehrt hatte, fanden daher viele Freunde und Bekannte in seiner Heimat Gelegenheit und Mut, ihre Meinung offen und ehrlich zu sagen. In der gebotenen Zurückhaltung wies zum Beispiel die Flötistin Schwarz die Sicherheitsbehörden behutsam darauf hin, dass Carli seit jeher ein ganz mieser Charakter gewesen sei, dem man alles in den Hintern geblasen hätte, von der Nutzung des Konzerthauses, seiner Maisonette-Wohnung in Grünau, seinen Auslandsaufenthalten bis hin zu seiner persönlichen Entwicklung. Der Kontrabassist Weiß bestätigte diese dezidierte Einschätzung und ergänzte sie um seine Hoffnung, dass Carli in der BRD sang- und klanglos untergehen möge und nie wieder in die schöne Republik zurückgelassen werde. Es kamen viele bis dahin nie erwähnte Details ans Licht. Frau Chriselta, eine enge Vertraute Carlis, bekannte verschämt, dass Carli zuletzt doch sehr eigenartig und exzentrisch aufgetreten sei, dass er sich die Haare blondieren, Kaltwelle legen und schminken ließ. Frau Chriselta fand, dass eine derartige Extravaganz einer sozialistischen Persönlichkeit nicht gut zu Gesicht stand. Sogar der Scheue Horst, seines Zeichens Konzertmeister in Carlis einstigem Konzerthaus, bekannte mit bebender Stimme, dass Carli ein völlig überschätzter Allerweltsmusiker, ein totaler Blindgänger, ein perverser Alkoholiker und ein nichtswürdiges Arschloch sei. Auch wenn alles das auf den ersten Blick etwas schäbig wirkt, muss man doch gerechterweise bekennen: Das alles war selbstverständlich keine Niedertracht, kein Neid, keine Missgunst und schon gar keine Boshaftigkeit, sondern nur eine längst nötige Relativierung, nachdem Carli doch jahrelang immer nur als größter Organist aller Zeiten gefeiert worden war. Natürlich gab es auch Menschen, welche die Grenzen des guten Geschmacks um einen Hauch überschritten haben. Dazu gehört leider auch die Bratschistin Helgunda Liebreizker. Helgunda hatte schon immer ein besonderes Faible für spirituelle Praktiken gehabt. Sie kannte sich hervorragend auf den Gebieten des satanistischen Gebets, der ekstatischen Meditation, der pharmazeutischen Bewusstseinserweiterung, der parapsychologischen Energieerweckung, der Schwarzen Magie und der religiösen Selbstkasteiung aus. Aus Helgundas Mund kam kein schlechtes Wort über Carli. Dafür verehrte sie ihn zu sehr. Allerdings setzte sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein, um Carli für die Missetat seiner Republikflucht auf gottgefällige Weise zu strafen. Es waren dies übersinnliche Mittel, welche einen normalen Menschen zweifellos in kürzester Zeit dahingerafft hätten: Helgunda bastelte eine Voodoo-Puppe aus zwei Handvoll Stroh, einem Bündel Bastfasern, einer Rolle Effektzwirn, dem linken Bein eines alten Schlafanzuges, drei Perlmuttknöpfen, einem guten Dutzend Perlen und einem etwas unscharfen Foto von Carli, welches sie bei der letzten Konzerthausfeier aufgenommen hatte. Helgunda hatte die Figur exakt im Maßstab eins zu vier hergestellt und sie in einer Wolke aus Weihrauch auf den Namen „Herr Carl“ getauft. Fünf Wochen lang peinigte Helgunda die Figur. Sie stieß Nadeln durch Hände, Herz und Haupt und murmelte dazu das Vaterunser rückwärts. Sie band, knebelte und kreuzigte den Voodoo-Carli. Sie trennte ihm schließlich das Strohköpfchen und beide Arme und Beine mit einem scharfen Messer ab und verbrannte sämtliche Körperteile im Kamin. Helgunda ist es bis heute ein Rätsel, wie Carli das überlebt hat.