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Sabine und Monika

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Den mystischen Einfluss von Eigennamen auf das persönliche Wohl und Wehe und auf das ganze Weltgeschehen kann man gar nicht hoch genug einschätzen, denn selbstverständlich sind Eigennamen eine spezifische Form der sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Ob Vorname, Familienname, Flurname oder Ortsname: Der Name jedweden Dinges hat eine spirituelle Botschaft und ist Teil der innersten Weltenseele. Es ist deshalb grob fahrlässig, sich in Orten wie Krätze, Todesfelde oder Deppendorf niederzulassen. Herr Carl wusste das. Deshalb hat er sich nach wenigen Tagen bei Pastor Dietrich einquartiert, denn Dietrich heißt ja „der Mächtige“. Das allein wäre ein gutes Omen gewesen, aber es kam noch besser. Der mächtige Dietrich wohnte zu Herrn Carls großer Freude in einer Stadt, bei der schon der Name eine unübersehbare Offenbarung war: Pastor Dietrich wohnte in Siegen, und so wohnte nun auch Herr Carl in Siegen. Es konnte nichts mehr schiefgehen. Gegen alltägliche Unzulänglichkeiten freilich ist auch ein unbesiegbarer Name wie „Siegen“ machtlos. Herrn Carls Schwester Carlinchen hatte das große Glück, als erste der Carlschen Familie ihren Geburtstag in der neuen, freien Heimat zu feiern. Es gab dünnen Jacobs-Café mit extra viel Kaffeesahne der Sorte Bärenmarke, braune Milkyways und Maoam. Aber es gab eben auch Tränen des Zorns. Carlinchen hat nämlich ein bisschen gebockt. Zu ihrem eigenen Geburtstag! Aber damit hatte sie völlig Recht. Keiner hatte nämlich Carlinchen vor der Reise ohne Wiederkehr gesagt gehabt, dass man im goldenen Westen bleiben würde. Carlinchen war überrumpelt worden. Sie hatte ihre ureigensten Angelegenheiten nicht mehr regeln können. Sehr ärgerlich, denn natürlich hatte Carlinchen ebenso viele persönliche Angelegenheiten zu regeln wie jeder andere Mensch auch. Die Geburtstagsvorbereitungen zum Beispiel. Carlinchen hatte wie gewöhnlich ihre besten Freundinnen, Sabine und Monika, zum Kaffeetrinken eingeladen. Auf halb vier. Wie jedes Jahr. Aber Sabine und Monika waren nicht pünktlich. Sie waren nicht einmal unpünktlich. Sie kamen überhaupt nicht. Sabine und Monika haben Carlinchens Geburtstagsfeier ohne Entschuldigung geschwänzt. Das Geburtstagskind war sehr verärgert, als es die sechsundzwanzig Kerzen auf der Geburtstagstorte ausblies. Natürlich sollte die Feier ursprünglich in der Carlschen Wohnung in Kräha stattfinden. Aber die Ortsänderung war ja völlig belanglos. Carlinchen fand, dass für echte Freundinnen der Katzensprung von Sachsen nach Hessen kein Hinderungsgrund sein konnte.

PS: Wenn Herr Carl die Republik nicht verlassen hätte, wäre Carlinchen der ganze Ärger freilich erspart geblieben. Trotzdem hatte sie allen Grund, ihrem Bruder doch auch ein kleines bisschen dankbar zu sein. Gerade sickerten nämlich erste Informationen durch, dass drei Tage vor Carlinchens Geburtstag ein Reaktor im Kernkraftwerk Tschernobyl explodiert war. Dabei hatten sich blöderweise auch ein paar radioaktive Wölkchen ohne Visum auf eine nicht genehmigte Reise begeben, um nach rund eintausenddreihundert Kilometern auf Kräha herabzuregnen und Carlinchen zu verstrahlen. Nun allerdings hätten sie vierhundert Kilometer weiter reisen müssen. Das war den Strahlen dann Gott sei Dank aber doch zu weit.


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