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Zu früh

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Carli stand mit seinem schweren Koffer an der Pforte des Aufnahmelagers Gießen. Der Pförtner fragte nach seinem Namen. Carli gab sich also zu erkennen. Der Pförtner notierte die Angaben in seiner Liste. Nichts deutete darauf hin, dass er wusste, mit wem er es zu tun hat. Carli war erstaunt. Es gab hier in der tiefsten Provinz der Bundesrepublik tatsächlich Menschen, die noch nie vom einzigartigen Carli gehört hatten. Carli schüttelte unmerklich den Kopf und dachte: „So hat denn jedes Land sein Tal der Ahnungslosen.“ Ohne mit der Wimper zu zucken machte der Pförtner den sensationellen Carli zu einem x-beliebigen Herrn Carl und schickte ihn zu den Herren Pontius und Pilatus sowie den Genossen Hinz und Kunz. Herr Carl musste drei blaue, zwei grüne, vier rosafarbene und fünf weiße Formulare ausfüllen. Anschließend musste er zwei bleichen Gestalten in grauen Anzügen haarklein erzählen, wieso er als Ostblockbewohner erlaubterweise in die Bundesrepublik hat reisen dürfen, warum er nicht planmäßig in den Ostblock zurückgefahren ist, wie es hinter den Kulissen des Konzerthauses zuging, wie es bei Zumsels unterm Sofa aussah, wer ihm bei seiner Flucht geholfen hatte, welche Gefahren ihm in seinem Heimatland drohten, für wie sicher er die ukrainischen Atomkraftwerke hielt und welche beruflichen, privaten und politischen Pläne er in der Bundesrepublik zu haben glaubte. Die bleichen Herren hatten keine Namen, aber dafür sehr schöne große, verspiegelte Sonnenbrillen. Schließlich bekam Carli Unterkunft, Verpflegung und fünfzehn D-Mark Taschengeld. Außerdem wurde ihm ein Aufnahmeschein ausgestellt, mit dem er einen „Flüchtlingsausweis C“ beantragen sollte. Alles lief erstaunlich glatt, obwohl Carli den bleichen Herren vom Geheimdienst doch etwas Wesentliches verschwiegen hatte: Eigentlich hätte Carli nämlich noch gar nicht da sein sollen, also in der Bundesrepublik. Eigentlich wollte er zu diesem Zeitpunkt schon wieder in seiner Maisonette-Wohnung in Leipzig-Grünau sein. Eigentlich wollte Carli zu diesem Zeitpunkt das fünfzehnte Konzert seines Bachzyklus' vorbereiten. Eigentlich wollte Carli sein Konzerthaus und seine Republik nämlich erst zu Pfingsten verlassen. Aber eigentlich hin oder her, Carli ist eben manchmal sehr unzuverlässig, und so ist es gar kein Wunder, dass er aus heiterem Himmel und ohne die Konzerthausleitung oder gar die Sicherheitsorgane zu informieren umdisponiert hat. Er ist einen Monat vorfristig im Westen geblieben, weil er befürchtet hat, dass Details seiner Fluchtpläne durchgesickert sein könnten. Natürlich hatte er damit Recht. Tatsächlich hatte der Herr IM Schleicher seinem Führungsoffizier, dem Herrn Oberst Schleicher, detaillierte Angaben zu Carlis Fluchtplänen zukommen lassen. Der Herr Oberst wusste also ganz genau, dass Carli die Republik am Pfingstsonntag illegal über Rumänien verlassen wollte. Deshalb war bereits alles veranlasst, um Carli am achtzehnten Mai um 13.45 Uhr in aller Form auf dem Flughafen Bukarest festzunehmen. Der Herr Oberst Schleicher musste diesen Termin, für den er sich bereits ganz exquisite Handschellen zurechtgelegt hatte, nun leider absagen.

PS: Herr Carl hätte nicht sagen können warum, aber er fühlte sich im Aufnahmelager zu Gießen sofort wie zu Hause. Er grübelte hin und her, woran das liegen mochte. Vielleicht waren es die brillant ausgeklügelten bürokratischen Abläufe, die ihn an seine schöne sozialistische Ex-Heimat erinnerten, vielleicht waren es aber auch die schönen verspiegelten Sonnenbrillen. Jedenfalls wusste Herr Carl instinktiv, dass er auf einige liebgewonnene Gepflogenheiten auch in seiner neuen Heimat niemals würde verzichten müssen.

Der unbekannte Herr Carl

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