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Die absolute Freiheit

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Während Herr Carl mit seiner Abwesenheit in der alten Heimat für heftigen Aufruhr und ein emsiges Treiben an den Schaltzentralen der Macht sorgte, kümmerte seine Anwesenheit in der neuen Heimat sprichwörtlich keine Sau. Herr Carl hatte deshalb nun endlich etwas, das er seit Jahren entbehrte: Frei verfügbare Zeit. Herr Carl hatte so viel frei verfügbare Zeit, dass er sich im Arbeitsamt mit dem Alltag einer Bevölkerungsschicht vertraut machen konnte, zu der er selbst niemals gehören würde: Den Arbeitssuchenden, den Arbeitsunwilligen, den Arbeitslosen, den Nichtsnutzen, den Verlierern der Gesellschaft. Natürlich war auch Herr Carl für den Moment arbeitslos, aber er wusste, dass sich das sehr schnell ändern würde. Nach drei geschlagenen Stunden, die Herr Carl auf einem sehr unbequemen Stuhl im Flur des Arbeitsamtes hin und her gerutscht war, wurde er zur zuständigen Sachbearbeiterin Hilde Rümpf gerufen. Frau Rümpf hob die rechte Augenbraue, als Herr Carl seinen Beruf mit „Musiker“ angab. Als Herr Carl sie mit Details zu seiner künstlerischen Laufbahn vertraut machen wollte, winkte sie desinteressiert ab und fragte stoisch: „Letztes Gehalt?“ Natürlich war das Lohnniveau in Herrn Carls alter Heimat nicht ganz mit jenem in der Bundesrepublik zu vergleichen. Aber immerhin war er in der schönen sozialistischen Republik als Konzerthausorganist beinahe so fürstlich entlohnt worden wie in der BRD ein Berufseinsteiger, der als ungelernte Hilfskraft Bahnhofstoiletten putzt. Deshalb wurden Herrn Carl stolze dreiundsechzig Prozent seines letzten Nettolohnes, also unglaubliche sechshundertzwanzig D-Mark Arbeitslosenunterstützung pro Monat gewährt. Herr Carl wusste vor Freude nicht ein noch aus. Doch Herr Carl ist keiner, der sich wegen unerwarteten Reichtums einfach auf die faule Haut legt. Stattdessen setzte er alle Hebel in Bewegung, um seinen Kalender wieder mit Konzertterminen zu füllen. Es war kaum ein Monat ins Land gegangen, als Herr Carl sich wieder für einen großen Auftritt auf die Orgelbank schwingen konnte. Am elften Mai spielte er sein erstes Konzert als Bundesbürger in der katholischen Pfarrkirche Sankt Matthias in Niederschelderhütte-Birken. Auf dem Programm standen Bach, Buxtehude und Mendelssohn. Und natürlich war das Konzert mit Stücken wie „Schmücke dich, o liebe Seele“ und „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ das pure Hohelied auf die Freiheit des Individuums. Nur selten in seinem Leben hatte sich Herr Carl so unendlich frei gefühlt wie an jenem Sonntag, dem Muttertag des Jahres 1986, wo er als freier Mensch in einem freien Land bei freiem Eintritt vor vielen frei gebliebenen Kirchenbänken spielen durfte.

Der unbekannte Herr Carl

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