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Al Manach

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Abdoul fuhr mit Großvater auf das Meer hinaus. Aus Distanz vernahm er das Brummen des Außenbordmotors. Ihm war weder zu kalt noch zu warm. Einzig die Helligkeit irritierte. Waren sie auf dem Weg zurück? Er wollte die Augen öffnen, um die Fischeimer zu sehen, aber es ging nicht. Trotzdem sah er, wie sich Amir über ihn beugte und ihn anlächelte. Aber er war so jung. Statt dem weißen Bart trug er einen schwarzen Schnauz? Eben wollte er danach fragen, als ihm die Szene entglitt.

Dann hörte er Wasser rauschen und aufspritzen. In seinen Händen hielt er eine Muschel, die golden glänzte. Eine derart schöne Muschel hatte er noch nie gesehen. Sie war außen so glatt, dass er sich darin spiegelte. Hinter seinem Spiegelbild stieg eine wunderhübsche Wasserfrau aus dem Meer und über den Bootsrand: Nun hast du sie gefunden. Komm mit mir. Vergiss deinen Kummer und deine Sorgen, sei mein Gast – für immer.

Die Stimme klang verlockend. Abdoul wollte sich zu ihr hindrehen, als sich ihm das Bild neuerlich entzog. Er vermochte sich nicht zu bewegen. Er wollte sprechen, aber der Mund öffnete sich nicht. Gerade als er anfing, sich darüber zu ärgern, wurde es schwarz um ihn herum. Die Muschel wurde kleiner, bis sie nur noch ein leuchtender Goldfleck im Nichts war. Immer noch wunderschön, dann verschlang die Dunkelheit auch diesen.

Schließlich nahm er ein sanftes Schaukeln wahr. Er öffnete die Augenlider und betrachtete den großen Ventilator, der an der Decke rotierte. Wenn er sich im bequemen Bett auf die Seite drehte, konnte er durch ein Bullauge den blauen Himmel erkennen. Offenbar befand er sich auf einem Schiff, das bedächtig hin- und herrollte. Als er sich jedoch aufsetzen wollte, um mehr zu sehen, jagten höllische Schmerzen durch seinen Bauch. Ächzend sank er zurück in das weiche Kissen und schnaufte laut. Er wehrte sich nicht sehr erfolgreich gegen die aufsteigende Benommenheit. Wie lange er so im Dämmerzustand lag, wusste er nicht.

Mit der Zeit kehrte das Bewusstsein zurück, wie ein treuer Freund, der von einer langen Reise heimkehrt. Oder wie ein Bruder, der … Beim Gedanken an Qadim wurde Abdoul schlagartig wach und beklommen zugleich. Es schien ihm, dass er doch auch hier sein musste. Mit einem Verband um den Kopf. Aber er lag alleine in der Kajüte und die schwere Eisentüre blieb zu.

Erneut wollte er aufstehen und fiel er vor Schmerzen ins Bett zurück. Das starke Bauchweh zumindest schien ihn nicht verlassen zu haben. Oder doch? Er tastete sich mit der Hand langsam und ängstlich über die Brust in Richtung Nabel vor. Bis er zu einem festgeklebten Verband kam. Weiter getraute er sich nicht zu fingern. Die Qualen kamen von Bareks Schlägen, soweit erinnerte er sich. Wie bin ich auf das Schiff gekommen und was haben sie mit meinem Bauch gemacht? Hoffentlich nicht etwas davon weggenommen? Er erschrak ob des Einfalls. Im Dorf gab es Gerüchte, dass sich reiche Israeli Ersatzteile für ihre kranken Kinder holten.

»Meine Muschel, wo ist meine Muschel«, hörte er sich selber flüstern. Er besann sich jetzt ganz genau, dass er sie sich um den Hals gehängt hatte, nachdem er sie aus dem Versteck in der Vorratskammer der Schule geholt hatte. Aber da hing sie nicht. Vor Erschöpfung sank er in die Kissen zurück. Ist alles umsonst gewesen? In seiner Verzweiflung rief Abdoul zuerst leise, dann lauter nach dem Bruder und Großvater.

Die Türe zur Kabine öffnete sich quietschend.

Ein kleiner Mann trat ein und sagte: »Salām, ich heiße Ḥusām Ḫalīl und bin der Doktor auf diesem Schiff. Und das ist Jada, sie ist Krankenschwester.« Vertrauensvoll schaute er Abdoul an: »Und wer bist du?«

»Ich bin Abdoul Raḥim« und nach kurzem Zögern ergänzte er, »ibn Amir aus – « Einen Moment später setzte er mit festerer Stimme neu an: »Aus Gan Or. Ṣadafah – Abdoul ibn Amir Ṣadafah Raḥim, das ist mein ganzer Name!«

Ḥusām musterte ihn interessiert. »Ich habe deinen Bauch operiert. Ein kleines Organ, die Milz, war gerissen und ist jetzt wieder zusammengeflickt. Es ist alles in Ordnung da drin. Der Schnitt in der Bauchdecke, den ich machen musste, wird in ein paar Tagen verheilt sein, und dann kannst du das Bett wieder verlassen.«

Der kleine Patient sah Ḥusām mit fragenden Augen an.

»Das war gestern Mittag. Weißt du, wieso dein Bauch weh tat?«

»Nein. Vielleicht weil Barek mich geschlagen hat?«

»Das ist möglich.«

Abdoul musste unwillkürlich an Qadim denken. Seine Augen wurden feucht und er drehte den Kopf in Richtung Fenster weg. Mit gepresster Stimme fragte er: »Wo bin ich?«

»Du bist auf einem Schiff der IWAC, das ist eine Hilfsorganisation. Wir liegen vor der Küste von Gaza.«

Wiederum schaute Abdoul den Doktor fragend an.

Dieser begriff und fügte an: »Das Schiff liegt fest vor Anker und fährt nirgendwo hin. Du wirst also bald wieder nach Hause gehen können. Aber jetzt muss ich einen Blick unter den Verband werfen um zu kontrollieren, ob dort auch alles so ist, wie ich es mir vorstelle.«

Ḥusām machte sich mit Hilfe der jungen Schwester daran, den Verband zu wechseln. Abdoul verzog mehrere Male das Gesicht vor Pein, gab aber keinen Laut von sich.

»Du bist ein tapferer Junge und ich wette, du verlierst nicht oft beim Boxen?«

Ein Lächeln huschte über Abdouls Gesicht. Jada packte die Verbandssachen und verließ die Kabine mit einem aufmunternden Nicken. Der Doktor nahm den Stuhl und setzte sich neben das Bett.

»Ibn Amir Ṣadafah, ein ungewöhnlicher Name.« Dabei zwirbelte er mit der rechten Hand seinen Schnurrbart zurecht.

Abdoul betrachtete ihn prüfend.

»Ibn Ṣadafah, ibn Ṣadafah – «, murmelte der Arzt gedankenverloren. Plötzlich rief er: »Aber natürlich!« Dass er nicht gerade aufsprang, grenzte an ein Wunder. »Die Muschel!« Sogleich kramte er aus der Nachttischschublade die Muschel hervor und streckte sie dem Knaben hin: »Ich habe mich noch gewundert, wieso ein Junge hier das Zeichen der Wasserfrauen um seinen Hals trägt.«

Abdouls hielt den Schatz einen Moment lang in beiden Händen, bevor er sich die Muschel wieder um den Hals hängte.

Verwundert fragte er: »Woher kennst du die Geschichte der Wasserfrauen?«

»Ich kenne die Geschichte nicht, aber bei uns in Ägypten gelten die Muscheln als besondere Geschenke der Wasserfrauen – für die Fischer, sie bringen Glück. Und wie geht deine Geschichte?«

Damit war das Eis gebrochen und der Knabe erzählte von seinem Großvater Amir, dem Fischer, und dass die schönste aller Muscheln, die man in seinem Leben findet, die Menschen zu den Wasserfrauen hinführen würde.

»Das ist eine besonders schöne Muschel. Glaubst du, dass es schon die schönste ist?«

»Ich weiß nicht …?«

»Mmmh. Ich denke, es ist für dich nicht die Zeit, zu den Wasserfrauen zu gehen, noch nicht.« Nach einer kurzen Pause schien Ḥusām der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, die entscheidende Frage zu stellen. Er hatte vorhin sehr wohl bemerkt, wie der Junge beim Erwähnen von Barek betrübt auf die Seite geschaut hatte. »Du hast gesagt, du kämest aus Gan Or, wie kommt es, dass du alleine und verletzt in Gaza bist?«

Der fröhliche Gesichtsausdruck verschwand. Abdoul wollte sich bereits wieder abwenden, aber er unterdrückte den Reflex. Zum ersten Mal seit langer Zeit schien ihm jemand vertrauenswürdig zu sein. Vielleicht lag es an der Erscheinung des Doktors? Er war klein und rund, trug einen großen Schnurrbart und hatte fast die ganze Zeit über Lachfalten in den Augenwinkeln. Zudem nahm er sich Zeit für ihn. Vor allem aber konnte er zuhören und nichts sagen. Darin erinnerte er ihn sehr an seinen Großvater. Statt ein Fischfänger war der Mann ein Menschenfänger.

Einmal entschieden, sprudelte er los. Angefangen von der Muschel in der Vorratskammer der Koranschule, über seinen Bruder Qadim im Innenhof, zurück nach Gan Or, wo alles begonnen hatte. Ḥusām hörte zu und unterbrach ihn nur, wenn er etwas nicht richtig verstanden hatte. Der Anfang war offensichtlich – die Granaten – hier endete der Wortschwall abrupt.

Als Arzt betete Ḥusām jedes Mal inständig zu Allah, dass seine körperliche Hilfe auch zu einer Verbesserung des seelischen Zustandes der Patienten führte. Aber Narben blieben immer zurück. Auch bei ihm selber, als seine Frau vor über zehn Jahren nach einem Attentat in Luxor ums Leben kam. Er hatte Glück gehabt, war er doch zu dieser Zeit im Dienst auf der chirurgischen Station im Ortsspital gewesen. Er hatte Pech gehabt, weil er dort seiner Frau und dem ungeborenen Sohn nicht mehr hatte helfen können. Wut stieg in ihm hoch wie schon lange nicht mehr. Die Radikalen ließen ihm ausrichten, dass seine Frau mit dem Ungeborenen als Märtyrerin ins Paradies eingehen würde. Kollateralschaden? Er verstand jeden, der in dieser Situation selber zur Waffe griff, gegen wen auch immer gerichtet.

»Nein«, presste er unwillkürlich hervor.

Abdoul blickte zu Ḥusām, der inzwischen vor dem Fenster stand. Was mochte in ihm vorgehen?

»Wieso hast du den Jungen hierher gebracht?«, stellte Ted den Arzt nach der Operation zur Rede. »Du hättest ihn in Gaza ins Spital bringen sollen.«

»Dann hätte ich gleich liegen lassen können. Du weißt so gut wie ich, dass sie im Spital nur behandeln können, was sie sehen. Sie haben nicht die gleichen Möglichkeiten wie wir.«

»Wir können nicht jedes Einzelschicksal reparieren. Noch nicht! Bis wir soweit sind, dass Gaza ein einigermaßen funktionierendes Gesundheitswesen auf einem akzeptablen Niveau hat, werden noch Jahre vergehen. Wer weiß das besser als du? Wir sind nicht die barmherzigen Brüder und das hier ist kein Lazarettschiff.« Ted war wirklich wütend.

Nicht weniger aufgebracht konterte Ḥusām: »Was tun wir denn überhaupt, wenn wir nicht dem Einzelnen helfen können? Es ist ein Kind und hätte keine Überlebenschance gehabt …«

Obwohl beide am gleichen Strick zogen und sich gut verstanden, waren sie nicht immer einer Meinung. Ḥusām fehlte die Geduld und Distanz, die Ted aufbringen konnte. Als Verantwortlicher für die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung im Gazastreifen war er mehr mit Dringlichkeiten als mit strategischen Entwicklungen konfrontiert. Zudem war es seine Pflicht, die IWAC auf Lücken und Möglichkeiten in der Gesundheitsversorgung hinzuweisen. Jetzt schrieben sie das Jahr zwei ihrer Aktivität in Palästina. Erst zwei Jahre und Ḥusām konnte kaum mehr warten. Seine Hand ballte sich zur Faust: »Ich würde ihn wieder mitnehmen!«

»Das ist mir schon klar und ich bin froh, dass wir unseren schwimmenden Operationssaal so wenig für uns selber benötigen. Ich hoffe wirklich, dass der Junge wieder gesund wird!«

Erst als Abdoul sich räusperte, drehte sich Ḥusām um.

»Wann darf ich aufstehen und nach draußen gehen?«

Ḥusām musste lächeln, die Ungeduld schien im Moment in dieser Kabine zu hausen.

»Dein Bauch braucht noch Ruhe und du musst im Bett liegen bleiben, bis ich es dir sage. Jada bringt dir etwas zum Trinken und zum Essen – damit du schnell wieder gesund wirst.« Bevor er die Türe schloss, fügte er an: »Und sie wird einen Spiegel an die Wand hängen, so dass du besser hinausschauen kannst.«

Die Stimmungen des Meeres blieben das Einzige, was Abdoul während der mehrtägigen Bettruhe studieren konnte. Stundenlang starrte er auf das Wasser und schwebte zwischen Traum und Wirklichkeit. Mit der Zeit tauchte er durch den Spiegel in eine ihm fremde Welt ein.

In seiner Fantasie bevölkerte er die See nicht nur mit den verheißungsvollen Wasserfrauen und den Fischen, die er schon kannte. Aus dem Nichts hervorgezauberte Medusen, Muscheln, Algen, Krebse, Tintenfische gesellten sich dazu. Von unten stellte er sich vor, wie die Fischerboote auf der Wasseroberfläche tanzten. Manchmal verhedderte er sich in einem der Netze, das von oben herabsank. Aber er konnte sich jedes Mal wieder befreien.

Am Mittag drangen die Sonnenstrahlen tief hinab und Quallen schwebten Feen gleich an ihm vorbei. Die Muscheln am Grund hatten ihren Mund weit geöffnet und mehr als einmal fand er große Perlen, die im letzten kupfernen Abendlicht irisierend leuchteten.

In der Nacht bemerkte er weit unter sich im tiefen Schwarz des Ozeans gruselige Augen, die emporblickten. Große, grün flackernde Augen, kleine rötlich schimmernde oder bläuliche, die verstohlen blinkten. Es waren die Augen der Kraken und anderer großer und kleiner Seeungeheuer. Sternen gleich zogen sie ihre Bahn und glitzerten bis in den frühen Morgen hinein. Erst in der Dämmerung erschienen alle Fische grau und starr, wie Zinnsoldaten, bevor sie angemalt wurden.

Ḥusām nahm sich für den Patienten so viel Zeit, wie er konnte. Am meisten interessierten den kleinen Palästinenser das Meer und seine Bewohner. Darüber konnte er nicht genug erfahren. Selbst sein Großvater wusste nicht so viel über das Meeresgetier zu berichten wie der Doktor. Etwa am dritten Tag brachte Ḥusām etwas Besonderes mit: »Das habe ich in der Schiffsbibliothek gefunden. Es ist ein alter Almanach für Sportsegler im Mittelmeer. Du kannst ihn haben, der Kapitän braucht ihn nicht mehr.«

Beim Durchblättern des schweren Buches wurden seine Augen größer und größer. Im Almanach war alles Mögliche über Segelschiffe und das Segeln zu finden. Auch gab es jede Menge Karten und riesige, unverständliche Tabellen. Am meisten faszinierten ihn gleichwohl die zahlreichen Abbildungen und Fotografien der Meeresbewohner. Sie waren wunderbarer als die Kreaturen aus seinen Tagträumereien. Hunderte von Fischarten, Säugetieren, Vögeln, Schnecken, Algen und Meerespflanzen waren aufgelistet.

»Könnte ich das doch nur lesen«, klagte er eines Abends.

»Nun, du kannst die Sprache ja lernen.«

»Kennst du sie?«

»Ja, ich habe sie während dem Studium gelernt. Es ist englisch und die Namen der Tiere und Pflanzen sind zudem auf Lateinisch geschrieben.«

Am darauffolgenden Tag durfte Abdoul aufstehen. Er freute sich sehr und erkundete die Krankenstation. Ḥusām zeigte ihm einmal auch den Operationssaal und erklärte die vielen schauerlichen Instrumente. Am liebsten hätte er das ganze Schiff inspiziert, aber das war nicht gestattet. So ging er wenn immer möglich auf das angrenzende Achterdeck. Dort saß oder lag er stundenlang mit seinem Almanach am Boden herum.

Von Jada, die im Gegensatz zu Ḥusām sehr verschwiegen war, erhielt er ein altes Krankenjournal und Farbstifte. Auf den leeren Rückseiten zeichnete Abdoul ein Tier nach dem anderen ab. Auch malte er Wasserfrauen, wie sie mit den Fischen Schabernack trieben und diese in die Fischernetze jagten. Sorgfältig kopierte er auch die lateinischen Namen. Wenn er wusste, wie der Fisch hieß, fügte er den Namen in Arabisch hinzu, sonst verlieh er ihm einen wohlklingenden Fantasienamen.

Ḥusām war beeindruckt und ein paarmal nahm er sich die Zeit, über besonders kniffliges Meeresgetier und Namen zu diskutieren. Nur etwas konnten sie nicht herausfinden, was für eine Muschel Abdoul um den Hals trug. Sie war im Almanach nicht aufzufinden. Auch in den anderen Büchern an Bord war kein vergleichbares Exemplar beschrieben.

»Vielleicht ist es eine ganz seltene Art oder ein Einzelgänger, der komplett anders aussieht als seine Eltern.«

Die Idee, dass die Muschel ein Einzelgänger sein könnte, gefiel dem Knaben. Sie musste etwas mit ihm selber zu tun haben. Die See und seine Lebewesen zogen ihn dermaßen in ihren Bann, dass alles um ihn herum nur verschwommen durchdrang. Der Bauch war nicht mehr so wichtig, er heilte so oder so von alleine. Nur nachts besuchten ihn manchmal dunkle Gedanken und Erinnerungen an Qadim und die Koranschule. Selten genug sah er die Raketen am Strand von Gan Or einschlagen und vermisste seine Familie.

Er fühlte sich auf dem Schiff bald mehr geborgen als sonst irgendwo. Er wunderte sich kaum, weshalb er außer Ḥusām und Jada niemanden antraf. Auch die israelischen Patrouillenboote, die regelmäßig und nahe an der Malta III vorbeizogen, erregten seine Aufmerksamkeit nicht. Und so wurde er von Tag zu Tag gesünder.

Eines Abends jedoch wurde er aus diesem Märchen geweckt: »Ich denke, du kannst nächste Woche zurück nach Gaza. Dein Bauch ist gesund.«

»Muss ich wirklich zurück?«

»Ja, du kannst nicht auf dem Schiff bleiben.« Ḥusām bemerkte Abdouls langes Gesicht: »Freust du dich denn gar nicht?«

»Worauf? Wohin soll ich gehen?«

»Wir haben doch schon darüber gesprochen, dass du in der Siedlung bleiben kannst. Haīkal wird sich um dich kümmern und du kannst mir im Lager helfen.«

»Ja – nur …«

»Was?«

Ḥusām wusste genau, worauf der Knabe hinauswollte. Er hatte ihn derweil in sein Herz geschlossen. Ohne eine Familie brauchte er unbedingt ein Zuhause, das ihm Ḥusām so nicht geben konnte. »Du wirst in al-Qubāʾ neue Freunde finden. Du bist ein großer Junge und weißt dir zu helfen.«

Beide schauten schweigend dem orange- und kupferfarbigen Wiegenlied der Abenddämmerung auf dem Wasser zu.

Abdoul nahm all seinen Mut zusammen: »Du hast doch gesagt, dass es bald eine Schule geben wird … kann ich englisch und die andere Sprache lernen, in der die Namen der Fische im Almanach geschrieben sind?«

»Wozu möchtest du das denn lernen?«

»Ich will alle Tiere im Meer kennen und dann werde ich später ein großer Fischer.«

»Mmmh, ich spreche mit dem Schulleiter darüber.«

»Versprochen?«

»Versprochen!«

Ḥusām hielt ihm die Hand hin, in die er freudig einschlug.

Drei Tage später war es soweit. In einem Beiboot fuhren sie in Richtung Küste. Abdoul hatte sich ganz vorne hingesetzt. Wie bei Großvaters Ausfahrten lehnte er sich über den Bug und guckte, wie sich das Schiff seinen Weg durch das Wasser pflügte. Die Muschel, die um seinen Hals hing, rutschte wie von selbst aus dem Hemd und wurde nun von der Schnur wie an einer Fangleine über das Wasser gezogen.

Als er nach einiger Zeit zum großen Schiff zurückblickte, sah er auf dem obersten Deck ein Licht aufblitzen. Er meinte, einen Mann zu erkennen, der ihnen durch ein Fernglas nachschaute. Ein komisches Gefühl beschlich ihn. Während der ganzen Zeit auf dem Schiff hatte er nur den Doktor und die Krankenschwester kennen gelernt. Zwar huschte ab und zu der Schatten einer Person über das hintere Deck, wo die Krankenstation lag. Manchmal hatte er weiter vorne auf dem Schiff auch einen Matrosen ausmachen können, wie er an die Reling lehnte. Aber nie war ihm jemand nahe genug gekommen, um ihn anzusprechen. Umso merkwürdiger war der Mann, der ihnen nachspähte.

Ḥusām sah ihn prüfend an: »Es ist nicht so, dass auf dem Schiff komische Dinge vor sich gehen. Das heißt, es ist schon so, aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet – ich meine, es ist gut so.« Nach einer Weile brummelte er: »Es wird gut werden. Dafür sind wir da.«

Abdoul verstand nicht, was er meinte, und wollte eben nachfragen, als dieser weiterfuhr: »Wir sind gleich am Strand. Dort kannst du Haīkal helfen, das Boot zu entladen, und anschließend mit ihm nach al-Qubāʾ gehen. Ich gehe zur Visite ins Lager.«

Der Junge nickte.

»Und vergiss nicht, dein Bauch ist zwar zusammengewachsen, aber es dauert noch eine Weile, bis da drinnen alles wieder so stark ist wie vorher. Also keine schweren Sachen hochheben und – keine Raufereien!«

Der Junge streckte seine Hand in das warme Wasser. Die Bugwelle, welche sie verursachte, war größer als die der Muschel und kleiner als diejenige des Bootes. Aber sie gehörte ganz alleine ihm. Unwillkürlich dachte er an Qadim, seine Geschwister, seine Eltern und an seinen Großvater. Aber auch an die Geborgenheit, die er jetzt verlassen musste. Zum ersten Mal seit Langem rollte eine Träne über seine Wange und tropfte in das Wasser, wo sie sich in nichts auflöste.

Das Gaza Projekt

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