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Gefangen

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Der Maschendrahtzaun war einfach da. Aus dem Nichts pflanzte er sich vor Abarron auf. Bei jedem Schwung mit der Schaukel versuchte er, ihn mit den Zehenspitzen zu erreichen. Wenn es ihm nur gelänge, ihn mit den Zehen zu berühren. Dann würde er wie eine Seifenblase zerplatzen und verschwinden. Und nichts wäre mehr zwischen ihm und ihnen. Aber er bemühte sich vergeblich. Schlimmer noch, mit dem Zurückschwingen der Schaukel schwang auch das Drahtgitter zurück.

Vor und zurück – vor und zurück.

Er könnte seine Hand ausstrecken, aber dazu müsste er loslassen und würde von der Schaukel fallen. Auch wenn er hinten am höchsten war, befand sich der Draht nur einen Fingerbreit vor seiner Stirne. Selbst ein abruptes Kopfnicken nach vorne brachte ihn dem Gitter nicht näher. Dieses wich von ihm, sowie er ihm nachschwang. Dabei würde es sich … auflösen, wenn er es nur würde berühren können. Dessen war er sich ganz sicher.

Vor und zurück – vor und zurück.

Abarron konnte das Schaukeln nicht stoppen und hatte riesige Angst, herunterzufallen. Unter ihm lag ein großer Krater. Von dessen Grund starrt eine Totenfratze mit verbrannten Hautfetzen und flammenden Augen unablässig herauf. Nur darauf wartend, dass der Junge die beiden Ketten losließ, um nach dem Zaun zu greifen. Zaun und Schädel hielten den Jungen im Schach. Gelänge es ihm nur, mit einem Schwung von der Schaukel zu springen und vor dem großen Loch auf den Boden zu landen.

Vor und zurück – vor und zurück.

Hinter dem Zaun saßen Vater, Mutter und der jüngere Bruder Eliachim an einem kleinen Tisch und tranken Limonade. Abarron hatte riesigen Durst. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel. Es war Juli und heiß in Aschkelon. Nur das Tischlein war mit einem Sonnenschirm beschattet. Einem wunderschönen Sonnenschirm mit hellblauen und roten Blumen und weißen Wolken. Die Mutter winkte ihm ständig zu.

Komm zu uns, es gibt kalte Limonade.

Aber er war gefangen auf der Schaukel über dem Loch und hinter dem Zaun.

Vor und zurück – vor und zurück.

Die Mutter lächelte und ab und zu blickte auch sein Vater von seinem Glas hoch und strahlte ihn mit seinen dunkelbraunen Augen an. Nur sein Bruder kehrte ihm den Rücken zu und trank endlos aus dem Glas das eiskalte süße Getränk. Sein Mund wurde trockener und trockener, bis er dem ausgetrockneten und gesprungenen Lehmboden unter den Olivenhainen im Sommer glich.

Er hatte Eliachim eine farbige Sandschaufel zum Geburtstag gekauft. Nur noch einpacken und zweimal schlafen, dann konnte er sie ihm schenken. Sie würden sich riesig freuen. Eliachim über die Schaufel für den Sandhaufen, er sich über dessen Freude. Die Plastikschaufel in seiner Tasche drückte ihm bei jedem Schaukelschwung an den Oberschenkel. Sie leuchtete orange.

Aber Eliachim drehte sich nicht um, er blieb unbeweglich am Tisch sitzen. Seine Mutter winkte ihm zu und sein Vater blickte ins Glas. Er wollte ihnen zurufen, aber seine Kehle war vollständig ausgetrocknet. Keinen Laut brachte er über die spröden Lippen. Seine Hände verkrampften sich an den Ketten, an denen die Schaukel befestigt war.

Vor und zurück – vor und zurück.

Bei jedem Schwung wurden sie heißer, bis sie glühten. Die Sonne brannte von oben, von unten flammten die Blicke des halb toten Kopfes empor. Seine Hände begannen zu schmoren. Es roch nach gebratenem Fleisch. Er konnte die Ketten nicht loslassen. Unten brannten seine Fußsohlen an und oben versengte es ihm die Haare. Seine Mutter lächelte ihm zu und winkte. Der Vater hob seinen Blick und strahlte. Nur Eliachim drehte sich nicht um.

Vor und zurück – vor und zurück.

Er verspürte höllische Schmerzen. Es stank nach verbranntem Fleisch. Blut rann ihm die Beine hinab und zeichnete dampfend den arabischen Schriftzug ›Unsere Hunde‹. In seinem Inneren kochte es, bis er explodierte. Mit einem heftigen Knall fetzte es ihm sein Fleisch in faustgroßen Stücken weg. Zersplitterte Knochen flogen Projektilen gleich in alle Richtungen. Ein Brei aus Fett, Blut und Innereien spritzte rund um ihn auf den Boden in den feurigen Krater.

Abarron wollte schreien!

Die Mutter lächelte.

Der Vater strahlte.

Die Schaufel drückte.

Eliachim drehte ihm den Rücken zu.

Zuletzt zerriss es ihm das Herz – hinter dem Maschendrahtzaun.

Schweißgebadet wachte er auf. Nur langsam fanden seine Lebensgeister zurück. Draußen war es noch Nacht und die anderen Kinder im Saal schliefen. Er drehte den Kopf zur Seite und blickte aus dem offenen Fenster. Der Mond war schon fast voll und die Grillen zirpten ihren letzten Nachtgesang. Oder war es bereits der erste Morgengruß?

Nachdem seine Eltern und sein Bruder vor vier Jahren beim palästinensischen Selbstmordattentat auf das Café in Aschkelon ums Leben gekommen waren, hatte er diesen Traum schon einmal geträumt. Und zwar am gleichen Abend, als ihn seine Großmutter bei sich zu Hause ins Bett brachte. Völlig durcheinander bat er sie nur, ihm beim Einpacken des Geburtstagsgeschenkes für Eliachim zu helfen. Natürlich im Geheimen, am besten Morgen, wenn Eli draußen beim Spielen ist. Die Großmutter begann zu weinen und brachte kein Wort über die Lippen. Sie drückte ihren Enkel fest an sich und gab ihm einen Gutenachtkuss auf die Stirn.

Seither war dieser Albtraum ausgeblieben. Bis drei Wochen nach ihrem nächtlichen Gang in das Zimmer des Arabischlehrers. Von da an kehrte er regelmäßig an sein Bett zurück.

Für den Anschlag in Aschkelon übernahm eine radikale Islamistengruppe die Verantwortung. Als Antwort flog die israelische Armee kurz darauf einen Angriff auf den Strand in Süd-Gaza. In Israel kamen dreizehn, in Gaza fünfundzwanzig Menschen ums Leben. Die Medien schrien auf, hüben wie drüben, und alles ging seinen gewohnten Lauf.

Abarron verstand lange Zeit nicht, weshalb ein Araber seine Eltern und seinen Bruder getötet hatte. Natürlich wusste er schon damals, dass die Palästinenser böse und gefährliche Nachbarn waren. Ganz zu Schweigen von ihrer Unkultiviertheit. Aber das waren für ihn bis zu jenem Zeitpunkt keine Wirklichkeiten, sondern Geschichten. Als er später verstand, hatte er lange nicht geglaubt, dass Wut und Verzweiflung so oft mit dem Tod Händel treiben. Und als er es dann glaubte, war es für ihn zu spät. Der Hass, der an jenem Tag gesät worden war, trug seine Früchte. Von jenem Augenblick an blieb er Gefangener seiner selbst.

Seither lebte er bei seinen Großeltern in einem der zahllosen Wohnsilos außerhalb von Aschkelon. Mit der Familie ging jedoch auch seine Beziehung zu den Großeltern verloren. Vielleicht die Beziehung zu Menschen überhaupt. Aus diesem Grund fühlte er sich im King-David-Internat eigentlich recht wohl. Hier brauchte er niemanden und niemand wollte etwas von ihm – dachte er.

»Ich sehe, dass du ein hervorragender Schüler bist«, sagte Rishon Weisz am nächsten Tag zu ihm. »Nicht nur deine Noten sind ausgezeichnet, auch dein Betragen ist tadellos.« Weisz hob seinen Blick von seinen Unterlagen auf dem schweren Schreibtisch und schaute dem Schüler direkt in die Augen.

Das geräumige Büro lag im Erdgeschoss des Schulhauses und hatte große, mit engem Drahtgeflecht geschützte Fenster zum Sportplatz hin. Durch das geöffnete Fenster hörte man die schreienden und johlenden Kinder beim Spielen.

»Weißt du, warum du hier bist?«

Abarron schüttelte den Kopf. Die Schmierereien im Zimmer des Arabischlehrers waren es kaum. Zu lange war es her und die Lage hatte sich unterdessen beruhigt. Wenn, dann wären sie früher aufgeflogen. Sonst kannte er den Prorektor nicht, er hatte keine Stunden bei ihm und in der Schule wurde selten über ihn geredet. Da Abarron im Internat sich bisher nichts zuschulden kommen ließ, oder besser gesagt, geschickt genug gewesen war, sich nicht erwischen zu lassen, tappte er völlig im Dunkeln.

»Und du erledigst jede Aufgabe zur Zufriedenheit der Lehrer. Vielleicht fragst du dich, warum ich dich rufen ließ?«

Er antwortete nicht, aber seine Gedanken kreisten wie wild um die Frage, was er falsch gemacht haben könnte. Der Prorektor spürte die Unruhe des Jungen und ließ sich Zeit.

»Vielleicht wunderst du dich auch, weshalb du, David, Jachin und Samuel nicht aufgeflogen seid?«

Seine Stimme klang, als ob er über das Wetter schwatzen würde. Etwas stimmte hier nicht. Offenbar wusste der Mann vor ihm mehr, als ihm lieb sein konnte.

»Und vielleicht wundert es dich, wieso ihr ungestraft eine Lehrperson unserer Schule bedrohen und beschämen durftet?«

Mit dem letzten Satz hatte er sich erhoben. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden und seine Stimme zischte. Das schöne Wetter war turmhohen Gewitterwolken gewichen. Der Prorektor war nicht der, für den Abarron ihn gehalten hatte. Er machte plötzlich einen gefährlichen Eindruck.

Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Weiß er etwas? Und woher? Das ist bloß ein Bluff, sonst wäre er schon früher damit herausgerückt … oder ist es ein Spiel?!

Weisz beobachtet den Jungen aus den Augenwinkeln. Es schien, als ob er jede Regung und jeden Gedanken seines Gegenübers lesen könnte.

»Was mich angeht, hätte ich die drei älteren Schüler schon längst von der Schule geschickt, sie taugen zu nichts. Der Grund, wieso ihr vier bis jetzt ungeschoren davongekommen seid, bist du, Abarron Preiss.«

»Aber Herr Prorektor, ich weiß nicht, was Sie meinen – «

»Es reicht, wenn ich es weiß«, unterbrach ihn Weisz ungerührt.

»Bitte, fragen Sie David, oder Samuel, wir haben nichts damit zu tun – «

»Ich glaube dir kein Wort, aber du bist clever und talentiert – wenn auch nicht beim Lügen.«

Abarron wirkte je länger desto unsicherer.

»Ich habe dich beobachtet, seit du in diesem Internat bist. Und glaube mir, ich kenne mich mit Menschen aus. Ich hätte euch in jener Nacht stoppen können, noch bevor ihr in den Lehrertrakt gestiegen seid, aber ich wollte wissen, was und wie ihr es geplant habt. Oder genauer gesagt, was du geplant hast. Die anderen wären vielleicht auf die Idee gekommen, aber ausführen, nein, dazu braucht es schon etwas mehr Gerissenheit.«

Der Junge wusste nicht, worauf der Prorektor hinauswollte. Hatten sie Spuren hinterlassen, die erst jetzt entdeckt worden waren? Vielleicht hatte sich einer der Größeren verplappert? Das sieht David oder Samuel ähnlich, wahrscheinlich, um den Mädchen zu imponieren.

Weisz’ Blick ließ ihn nicht los.

Dieser überlegte fieberhaft, was er am besten tun sollte. Mit der Wahrheit herausrücken und hoffen, dass der Prorektor einen Grund hatte, ihn nicht aus der Schule zu schmeißen. Oder weiterhin schweigen, darauf zählend, dass er nichts gegen sie in der Hand hatte? War das Ganze eine Falle und wenn ja, für wen, und wofür?

»Es ist keine Falle!«

Abarron starrte ihn verblüfft an. Kann er Gedanken lesen? »Ich, ich …«

Weisz sagte nichts.

»Ich meine, ich habe …«, erneut versagte Abarrons Stimme.

Der Prorektor hob nur seine Augenbrauen. Abarron beschlich ein komisches Gefühl. Etwas kroch langsam in ihm hoch. Etwas, was er lange Zeit verdrängt hatte. Und es waren nicht die Bilder aus seinem Traum.

»Ich hasse die verfluchten Araber!«, schoss es endlich aus ihm heraus. »Sie haben meine Familie getötet!« Damit war alles gesagt. Zum ersten Mal überhaupt hatte Abarron seinen Hass offen ausgesprochen. Er bebte unkontrolliert mit dem ganzen Körper und versuchte, die hochsteigenden Tränen zu unterdrücken. »Ich weiß, al-Jabiri ist kein Mörder, aber er ist – Araber«, stammelte er.

Weisz blickte ihn ohne mit der Wimper zu zucken an. Er war auf einmal unsicher, ob er sich nicht doch in dem Jungen getäuscht hatte: Er ist ja noch ein Kind und wird lernen, mit seinen Gefühlen klarzukommen.

»Woher willst du das wissen?«

»Was?«

»Dass al-Jabiri kein Mörder ist?«

»Aber …«, er senkte seinen Kopf.

»Ich sehe die Wut und den Hass in dir, und ich verstehe beides. Aber ich gebe dir einen guten Rat, den du dir hinter die Ohren schreiben sollst. Mit Wut reagierst du auf die Umstände, denen du ausgeliefert bist. Den Umstand, dass ein Araber deine Familie getötet hat. Wut macht blind. Hass hingegen, Hass ist eine Entscheidung, die du für dich alleine treffen musst. Überlege dir gut, wie du dich entscheidest – geh jetzt«, beendete der Prorektor das Gespräch unvermittelt und wies ihm mit einer Handbewegung die Türe.

Abarron verließ das Büro zitternd und einem flauen Gefühl in der Magengegend.

Er ist bald soweit – oder nie. Waise, Familie bei einem Selbstmordattentat verloren, genau die richtige Ausgangslage. Zudem war er intelligent veranlagt. Die ideale Kombination, um später wertvolle Dienste für den israelischen Staat leisten zu können. Aber eine solche Förderung setzte ein stabiles Umfeld und, vor allem, eine klare Bezugsperson voraus. Er würde ihm beides geben.

In den folgenden Wochen veränderte sich der Junge. Er wirkte bedrückt und zog sich noch mehr in sich selber zurück als sonst. Seine Kameraden bemerkten nichts davon. Seit der Sache mit dem Arabischlehrer verabredeten sie sich kaum mehr. Es wäre ihm auch nicht in den Sinn gekommen, David oder Samuel etwas vom Gespräch mit dem Prorektor zu erzählen. Die drei älteren Schüler waren genügend mit sich selber beschäftigt. Das Ende des Semesters stand bevor und da war es für sie jeweils wichtiger, mit dem Schulabschluss und den Schülerinnen klarzukommen, als neue Streiche auszuhecken.

Im Unterricht konnte er sich kaum konzentrieren. Immer wieder stiegen die Bilder jenes schrecklichen Tages herauf, als er vom Spielplatz aus hatte zusehen müssen, wie seine Familie in die Luft gejagt wurde. Er war außerstande, das Gesehene zu unterdrücken. Und wenn er versuchte, an etwas anderes zu denken, kamen ihm nur die mit dem eigenen Blut auf sein Bein geschriebenen arabischen Worte in den Sinn.

Eines Nachts träumte er jedoch, alleine in der Wüste zu verschmachten. Ein Wolf, einsam und abgemagert, schlich in immer kleiner werdenden Kreisen um ihn herum. Vor Schwäche war er außerstande, zu fliehen. Der Wolf kam näher und näher. Abarron Preiss, wo bleibst du denn, grinste er bedrohlich und milde zugleich. Bis er vor ihm stand und das Maul aufriss. Aus dem Schlund, der sich öffnete, lachte ihm die schauerliche Fratze unter der Schaukel zu. Fratze, Wolf und das Gesicht des Prorektors verschmolzen zu einem einzigen Ungeheuer: Komm zu mir …

Als er aufwachte, wagte er zunächst nicht, seine Augen zu öffnen. Er war unterdessen dankbar für jede traumlose Nacht. Wut macht blind, Hass ist eine Entscheidung. Der Sinn der Worte des Prorektors blieb ihm nach wie vor verschlossen. Aber er begann zu ahnen, dass das etwas mit seiner Zukunft zu tun hatte. Soll ich nun die Palästinenser nicht dafür hassen, dass sie Eli umgebracht haben? Muss ich den Arabern verzeihen? Hat er das gemeint? Es war doch nicht etwas, was er einfach so entscheiden konnte; so wie er sich entschied, welches T-Shirt er am Morgen anziehen sollte. Dies fiel ihm nicht sonderlich schwer, weil er immer dasjenige nahm, das zuoberst auf dem Stapel im Kleiderschrank lag. Er war intelligent genug zu merken, dass es um etwas anderes ging. Aber worum?

Vor Schulschluss nahm er allen Mut zusammen, um Weisz zu fragen. Die Bürotür war nur angelehnt und er wollte gerade anklopfen, als er dessen Stimme vernahm.

»Jawohl, General Markowitz – jawohl – ich werde das entsprechende Team zusammenstellen – wem werde ich rapportieren? – Jawohl!«

Weisz klappte das Mobiltelefon zu und schloss für einen Moment seine Augen, als er Abarron vor der Türe gewahr wurde. »Komm herein«, sagte Weisz unwirsch, verärgert darüber, dass er die Türe offenbar nicht geschlossen hatte. »Was hast du?«

»Herr Prorektor, Sie haben gesagt, dass ich mich entscheiden muss, ob ich die Araber hasse oder nicht. Wie soll ich das tun?« Nach kurzer Pause fügte er an: »Wieso sollte ich die Araber nicht hassen?«

Weisz Miene entspannte sich: »Wut ist wie ein Gefängnis. Sie engt dich ein und macht, dass du die Welt nicht mehr so sehen kannst, wie sie ist. Damit bestimmt sie alles, was du denkst und tust. Du wirst zum Gefangenen deiner Wut.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Blind vor Wut Parolen an die Wand schmieren, mit den Fäusten dreinschlagen, mit Gewehren schießen ist einfach. Es ändert nichts daran, dass die Araber hier sind.« Der Prorektor ließ seinen Worten Zeit, bevor er fortfuhr: »Wenn du wirklich etwas gegen die Araber in unserem Land unternehmen willst, die deine Familie ermordet haben, dann brauchst du einen klaren Kopf – dann musst du frei sein, zum Denken und zum Handeln. Das bist du nur, wenn du deinen Hass beherrschst, und nicht, wenn du dich von deiner Wut und deinen Gefühlen leiten lässt.« Er trat einen Schritt auf Abarron zu: »Du musst dich nicht dafür entscheiden, ob du die Araber hassen sollst oder nicht. Sie haben dir die Menschen weggenommen, die du geliebt hast. Die Frage ist, was du mit deinem Hass anfangen willst. Willst du in blinder Wut Steine werfen und später in einer Armee dienen, die zum Nichtstun verdammt ist. Oder willst du dafür sorgen, dass keinem Israeli je wieder seine Liebsten getötet werden? Genau dafür musst du dich entscheiden.«

Abarrons fing an zu verstehen.

Weisz hatte sich in dem Jungen nicht getäuscht. Sein Gift begann zu wirken. Der Prorektor des Internats war in Tat und Wahrheit ein aktiver Colonel der israelischen Armee. In jener Nacht hatte er von seinem Schlafzimmerfenster aus die Jungen auf dem Gelände beobachtet. Durch das Fernglas mit integriertem Restlichtverstärker erhielt er ein recht klares Bild davon, was vor sich ging. Normalerweise hätte er eingegriffen, als er hörte, wie sich die Haupttüre öffnete. Nachdem er jedoch Abarron erkannt hatte, ließ er den Dingen ihren Lauf.

Die Rekrutierung von Nachwuchskräften war die Aufgabe, von der im Internat niemand etwas wissen musste. Der Colonel war der Sohn von General Baruch Weisz, zusammen mit General Kemuel Markowitz der Begründer der israelischen Mauer-Strategie. Und er kannte sich mit Menschen extrem gut aus. Seine Schüler brachten es jeweils weit in der militärischen Organisation dieses Landes.

Die Sommerferien verbrachte Abarron wie gewöhnlich bei den Großeltern. Er mochte sie, aber er suchte keine Geborgenheit bei ihnen. Schweigsamer und abweisender als sonst verkroch er sich lieber irgendwo in der eintönigen Siedlung oder hinter seinen Büchern, anstatt mit den anderen Kindern draußen zu spielen. Mit der Zeit dämmerte ihm, was der Prorektor gemeint hatte. Und er wusste, dass er sich längst schon entschieden hatte: Für den Hass und gegen die Araber. Das andere, was sich tief in seinem Inneren regte, verlor mehr und mehr an Kraft. Sein Gewissen gaukelte ihm vor, dass diese Entscheidung nicht gut war – oder mindestens nicht so einfach. Er verdrängte alle Gefühle, so gut es ging. Und es gelang ihm, je älter er wurde, desto besser.

Die Großeltern bemerkten sehr wohl, wie sich der Junge hinter einer undurchdringbaren Mauer zurückzog. Sie nahmen auch die wachsende Kälte in ihm wahr. Ohne zu verstehen, weshalb, erhofften sie sich insgeheim, dass ihr Enkel eines Tages Gerechtigkeit in das Unrecht jenes Frühlingsmorgens vor vier Jahren bringen würde.

Das Gaza Projekt

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