Читать книгу Das Gaza Projekt - Cyrill Delvin - Страница 5
Der Plan
Оглавление»Es sind Zeiten, in denen die Kinder im Schoße des Krieges geboren werden. Sie werden in den Armen der Gewalt groß. Sie leben ständig am Abgrund. Am Ende sterben sie, bevor der Krieg beendet ist. Es sind solche Zeiten, wo nirgends Hoffnung ist, aber überall Ohnmacht. Wo Hass nicht blind macht, sondern den Weg weist. Solche Zeiten vergehen nie und brechen doch ständig von Neuem an.«
Charles nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das vor ihm auf dem opulenten Holztisch stand.
»Wir sitzen hier zusammen, weil es an der Zeit ist, etwas zu tun. Wir können etwas unternehmen. Wir werden den Lauf der Geschichte verändern. Nicht global, sondern lokal. Dafür an einem Ort, wo es brennt, in Gaza. Gemeinsam, mit viel Ausdauer und etwas Glück, werden wir es in die Geschichtsbücher schaffen. Ich für meinen Teil hätte nichts dagegen.«
Die Anwesenden kannten den schlanken Fünfzigjährigen inzwischen gut genug, um nichts zu sagen. Überhaupt waren die hochrangigen Gäste heute nicht versammelt, um miteinander zu diskutieren, sondern um einen Entscheid zu fällen. Gemeinsam. Und doch jeder für sich.
Mit einer wegwerfenden Handbewegung fuhr er fort: »Wie auch immer, wir werden uns heute darüber einigen, dass die IWAC in den Gazastreifen gelangt, ohne in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen.«
Rechterhand saß ungerührt der groß gewachsene israelische Ministerpräsident Eizenburg. Links von ihm wirkte der schmächtige Šarīf wie ein kleiner Junge. Vor Kurzem gab er den Posten als Chef der Fatḥ auf, um die palästinensische Brüderpartei zu gründen. Das Ziel, die zerstrittenen palästinischen Parteien zusammenzuführen, setzte ihn enorm unter Druck. Die amerikanische Außenministerin Whiteford rundete den illustren Kreis ab.
Der Salon war mit edlen Möbeln derart beliebig bestückt, dass ein stilloser, beinahe kitschiger Eindruck entstand, der bestens zum Besitzer passte. Das Herrschaftshaus lag auf dem abseits gelegenen französischen Landsitz Trois-Ruisselets hoch über der Bucht von Marseille im Osten der Stadt. Charles, der einige Zeit amerikanischer Botschafter in Paris gewesen war, hatte das Grundstück vor einigen Jahren erworben und in Stand stellen lassen.
Mit Vorliebe hielt er die inoffiziellen Treffen in dieser quasineutralen Zone ab. Selbstredend verfügte das Anwesen über einen eigenen Hubschrauber-Landeplatz und war für gewöhnlich durch die französische Polizei bewacht. An diesem Nachmittag war es zusätzlich durch die französischen, amerikanischen und israelischen Geheimdienste gesichert.
Der Klub, wie er die versammelte Runde gegenüber seinen engsten Vertrauten spöttisch, aber liebevoll bezeichnete, tagte zum dritten Mal. Dank seiner verschiedenen politischen Tätigkeiten hatte Charles über die Jahre hinweg zu allen maßgeblichen politischen Persönlichkeiten und Organisationen enge Beziehungen geknüpft. Dass es ihm gelungen war, die seit Jahrzehnten verfeindeten Lager in einem Raum zusammenzubringen, grenzte an ein Wunder. Dass sich die Politiker darüber hinaus auf eine gemeinsame Haltung für die Pläne des Amerikaners hatten einigen konnten, war ein Wunder.
Absolute Geheimhaltung war Bedingung und Schlüssel zum Erfolg zugleich. Der Handel war einfach: Jeder Politiker konnte im Erfolgsfall von sich behaupten, die treibende Kraft hinter der Veränderung gewesen zu sein. Umgekehrt musste sich keiner der Gesprächspartner öffentlich exponieren und auf politisch vernichtende Diskussionen einlassen. Allen war der Wille gemeinsam, die Probleme an der levantinischen Küste sachpolitisch zu lösen. Es war seine Aufgabe, die einzelnen Schritte, die am Ende zu einem Frieden im Nahen Osten führen sollten, unspektakulär zu gestalten. Dermaßen unspektakulär, dass sie ohne Aufsehen realisierbar wurden.
Die Pläne der IWAC reichten jedoch weit über den Vorderen Orient hinaus. Wenn Charles alleine vor dem prächtigen Kamin des Landsitzes saß, kam er deswegen oft ins Grübeln.
Was gibt mir das Recht, dermaßen in den Weltenlauf einzugreifen? Oder verpflichten mich meine Macht und meine Mittel nicht erst recht dazu, etwas zu tun?
Wer war Senator Charles William Reeds, dieser sorglos wirkende Amerikaner? Ein naiver Geist, größenwahnsinnig – oder ein Genie? Die Verantwortung, die er sich mit der Umsetzung seiner Ideen auferlegte, lastete schwer auf ihm.
In Gedanken versunken, begannen die beiden in Löwenpfoten auslaufenden gusseisernen Halter links und rechts vom Feuer einen wilden Tanz aufzuführen. Die Tatzen sprangen hin und her, und mit ihnen die imaginären Löwenköpfe. Im gleichen Maß, wie sich Licht und Schatten des prasselnden Feuers immer wilder gebärdeten, steigerte sich das Schnurren und Knurren der Raubkatzen zum Raum füllenden Tosen. Die verzweifelten Schreie des schwarzen Jungen Johnny mischten sich unter das Gebrüll. Charles hielt sich die Ohren zu. Zum Glück hatte er selten Zeit, vor dem Kaminfeuer in Trois-Ruisselets zu sinnieren.
»In einem ersten Schritt beginnt die IWAC damit, über das Meer Hilfsgüter nach Gaza zu bringen und unter der Bevölkerung zu verteilen. Wir beschaffen die Lebensmittel und Güter für die medizinische Grundversorgung soweit möglich aus den umliegenden Regionen und beschriften alles neutral. Nicht einmal das Emblem der IWAC wird zu sehen sein. Wir führen Beschaffung, Logistik und Transport bis in Küstennähe durch. Für die Feinverteilung binden wir Leute in Gaza ein. Alle Hilfskräfte, soweit sie nicht Palästinenser sind, werden wiederum aus den Nachbarländern rekrutiert. Mit Ausnahme von Israel.«
Er schaute zu Eizenburg, der unmerklich nickte. Für diese Zusammenkunft in der Trois-Ruisselets hatte sich Charles besonders hartnäckig einsetzen müssen. Am Ende war die Zusammenkunft nur deshalb möglich geworden, weil bereits im Vorfeld alle Details mit den Parteien einzeln ausgehandelt worden waren. Wortmeldungen waren nicht erwünscht. Erst unter dieser Voraussetzung waren die Machthaber bereit gewesen, an diesem Treffen teilzunehmen. Dass das Klima frostig bleiben würde, war klar. Der Amerikaner war jedoch überzeugt, dass diese Sitzung als Ausdruck einer gemeinsamen Haltung für das Vorwärtskommen der Pläne sehr wichtig war.
»Israel lockert die Seeblockade für die IWAC. Die Israeli haben natürlich das uneingeschränkte Recht, unsere Schiffe jederzeit zu inspizieren. Umgekehrt treiben sie den Bau der Mauer um den Gazastreifen vorwärts, auch südlich gegen Ägypten. Damit lässt sich die israelische Bevölkerung effektiv schützen. Die Aufgabe der palästinensischen Übergangsregierung ist es, in dem von ihr kontrollierten Gebiet innerparteiliche Grabenkämpfe im Zaum zu halten. Terroristische Aktivitäten gegenüber Israel und innerhalb des Gazastreifens sind um jeden Preis zu unterbinden. Dafür wird Präsident Šarīf alles in seiner Macht Stehende tun.«
Dieser wollte gerade einwenden: Israel ist eine Besatzungsmacht und die Palästinenser sind keine Terroristen sondern Freiheitskämpfer! Aber Charles ließ ihn nicht soweit kommen: »Der israelische Ministerpräsident kann und will allfällige Vergeltungsmaßnahmen nicht einschränken! Darüber müssen wir uns im Klaren sein.«
Šarīf schaute einem geschlagenen Hund gleich drein. Der IWAC-Vorsitzende verstand nur zu gut, was im Palästinenser vorging. Unter allen Anwesenden hatte er am wenigsten Macht über das politische Umfeld und die Menschen, die er repräsentierte. Und doch kam seinem Einfluss in dieser kritischen ersten Phase eine Schlüsselrolle zu.
Mit Israel waren die Verhandlungen in dieser Beziehung einfacher zu führen. Dafür sorgten nicht nur die amerikanische Außenministerin am Tisch, sondern auch die nicht anwesenden hochrangigen Eingeweihten aus Russland und China.
»Alle in diesem Raum sind davon überzeugt, dass Israel und Palästina nur dann friedlich nebeneinander existieren können, wenn es beiden wirtschaftlich gut geht. Wir glauben an einen Ausgleich der Interessen und nicht an einen Ausgleich der Mächte. Deswegen sitzen wir hier zusammen. Die IWAC ist gewillt, die Grundlagen für einen solchen Ausgleich im Gazastreifen zu schaffen. Wir wollen, dass die Menschen die Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Für uns gibt keine militärische Lösung im Nahostkonflikt. So ist es Aufgabe jedes Einzelnen unter uns, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Im Geheimen, ohne dass die Weltpresse davon erfährt. Offiziell bezieht die IWAC keinerlei Stellung zur Konfliktsituation. Wir unterstützen ein humanitäres Programm zum Wiederaufbau des Gazastreifens wie viele andere nicht staatliche Organisationen auch.«
Am späten Nachmittag war Trois-Ruisselets wieder im alleinigen Besitz des Hausherrn. Mit den Politikern waren auch die zusätzlichen Sicherheitsleute und die französische Polizei abgezogen. Zwei Gäste jedoch, die nicht an der Besprechung teilgenommen hatten, verblieben im Haus. Françoise, die operative Chefin der IWAC, und Ted, zuständig für die Tätigkeiten im Gazastreifen. Nach dem gemeinsamen Abendessen saßen sie im Kaminzimmer zusammen.
»Ich kann es immer noch nicht glauben. In zwei Jahren hast du erreicht, wofür andere eine Karriere lang umsonst kämpften«, erhob Françoise das Glas, »auf dich und die IWAC!«
»Danke, Françoise. Die Verantwortlichen an den Tisch zu kriegen, war nicht einfach, aber ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was uns bevorsteht. Was unsere Arbeit wert ist, zeigt sich dann, wenn wir tatsächlich in Gaza aktiv werden. Die richtigen Herausforderungen stehen uns erst noch bevor.«
»Etwas Spannung bei der Arbeit kann nicht schaden.«
»Ja, wir packen den Stier bei den Hörnern. Aber wenn’s brenzlig wird, wird ihn niemand ablenken wie beim Bull Riding in Texas, Ted! Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen und Absprachen, der Gazastreifen ist und bleibt ein Pulverfass!«
»Du kennst mich ja. Mit meinen saloppen Sprüchen will ich nur bei den Frauen punkten.«
Niemand trat darauf ein.
»Vorhin hat sich Professor Liu Cheng von der Polytechnischen Universität Peking gemeldet, er nimmt die Stelle als Forschungs- und Entwicklungsleiter an.«
»Das ist nicht wahr!«, sagte Françoise, »dann haben wir ja schon halb gewonnen.«
»Haben wir? Er wird nächste Woche zu dir nach Paris kommen und ab Herbst dann die Arbeiten in Zypern aufnehmen.«
»Wunderbar – du bist ein wahrer Magier.«
In diesem Moment klopfte es an der Tür und der Privatsekretär trat ein. »Entschuldigen Sie, Sir, ein Anruf vom israelischen Ministerpräsidenten.«
»Danke, stellen Sie ihn durch, Brad.«
»Jawohl, Sir.«
»Liron, wo steckst du? Aha …«
Die anderen vernahmen nur eine aufgeregte Stimme aus dem Telefonhörer.
»Ja, aber …« Charles verstummte. »Danke, Liron. Ja, wir bleiben trotzdem auf Kurs. Guten Flug, Liron.«
Er drehte sich langsam zu den anderen um: »Während unserer Sitzung am Nachmittag haben israelische Kampfflieger Stellungen der Ḥamās an der Küste im Süden des Gazastreifens beschossen. Es war der Vergeltungsschlag für das Selbstmordattentat in Jerusalem vor drei Wochen. Unter den Palästinensern gab es eine beträchtliche Anzahl ziviler Opfer.«
Die Flammen schienen daraufhin besonders intensiv aus dem Kamin hervorzuzüngeln.
»Verdammt!«, entfuhr es Ted aus der Tiefe des Fauteuils. »Diesen Berserkern ist nicht zu trauen, auf keiner Seite – sitzen hier und führen irgendeine Show auf. Wenn man nur eine Mauer bauen könnte, die bis hinauf zu Jahwe und Allah reicht! Dann gäbe es auch kein Kampfjet-und-Menschenbomben-Ping-Pong mehr.«
»Hat Eizenburg davon gewusst? Können wir ihm trauen?«
»Das eigentliche Problem ist, dass Liron nicht involviert war.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Françoise.
»Ja. Das heißt aber, dass er nicht der Herr im Hause ist, der er sein möchte – oder sein müsste. So oder so, ich muss jetzt ein paar Telefonate machen und Wogen glätten.«
Zu Ted sagte er: »Wir treffen uns wie vereinbart am Sonntag in Washington mit den Logistikern. Und, Ted, wir werden eine Mauer bauen. Eine Mauer, die man nicht sehen kann. Sie zu durchbrechen, wird Israel am Ende Geld kosten, zu viel Geld.«
Bevor er aus dem Kaminzimmer eilte, umarmte er Françoise: »Ich habe ja gesagt, dass wir erst am Anfang stehen. Es wird schon werden. Und halte mir Cheng warm, wir brauchen ihn.«