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Jenseits

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Zehn Minuten wartete Abarron bereits an der Ecke neben dem Eingang zum Lehrertrakt. Die schmale Mondsichel tauchte das King-David-Internat in Hodaya in ein gespenstisches Licht. Es würde jedoch genügend hell sein, um sich im Inneren zu orientieren. Wenn alles gut gelaufen ist, erscheint Samuel jeden Augenblick mit dem Schlüssel hier.

Der Junge war nicht nervös. Im Kopf ging er den ganzen Plan noch einmal durch. Er bemerkte nach wie vor keinen Fehler; und Unvorhergesehenes bei der Ausführung war auch berücksichtigt. Zwar stand er nur Schmiere und die drei älteren Schüler würden die Hauptarbeit leisten. Aber das Ganze war seine Ausgeburt.

Die Aktion war bis ins letzte Detail ausgetüftelt. Ziel war ein Lehrer, von dem kein Schüler wusste, wofür es ihn hier überhaupt brauchte: Al-Jabiri, der Arabischlehrer. Alle waren sie sich einig, dass diese Sprache unnütz und jede Unterrichtsstunde eine reine Zeitverschwendung darstellte. Wofür sollte ein rechtschaffener Israeli denn Arabisch lernen? Etwa für die arabischen Israeli, von denen es schon viel zu viele im Land gab?

»Wenn sie schon in unserem Land leben dürfen, sollen sie gefälligst auch unsere Sprache reden! Und die jenseits der Mauer, die in unseren Plantagen arbeiten und sich dafür ihr Maul vollstopfen, verstehen auch ohne Worte, worum es geht – oder sie sollen verrecken.«

Eine Antwort auf die Frage hatte nur einer. Ausgerechnet der, der diese nächtliche Attacke ausgeheckt hatte. Abarron wusste genau, wofür er diese Sprache lernen wollte. Aber das hätte er nie offen zugegeben. Dass er in diesem Fach so gut war, weckte bei den anderen Schülern bloß darum keinen Verdacht, weil er in jedem Fach der Beste war. Ein richtiger Streber. Nicht der einzige, aber der einzige, der es verstand, sich bei den Mitschülern beliebt zu machen.

Zum Beispiel dadurch, dass er die Herausforderungen, die das Leben in einem Internat neben der Schule so mit sich brachte, immer wieder mit originellen Einfällen meisterte. Wie etwa diese Nacht, wo es darum ging, der Schulleitung eine klare Botschaft zu übermitteln. Für Abarron war längst klar, dass das Arabische eine Notwendigkeit des israelischen Lebens war. Nicht im Guten, sondern im Schlechten. Man musste den Feind kennen und verstehen, um ihn bekämpfen zu können. Diese Einsicht war in ihm über die letzten Jahre gereift. Woher sie kam, wusste er selber nicht so genau.

Samuel erschien nicht. Etwas ist schief gelaufen!

Aber er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Im nahen Schulhaus, wo der andere den Schlüssel besorgen sollte, waren weder Lärm noch Aufruhr auszumachen. Endlich beschloss er, seinen Posten zu verlassen und nach dem Mitschüler zu sehen. Alle Schlüssel hingen im Büro des Hauswarts im Schrank hinter der Türe fein säuberlich aufgereiht. Die Kunst bestand darin, in dieses Büro zu gelangen, ohne das Schloss aufbrechen zu müssen. Schließlich wollten sie ja unbemerkt bleiben und keine Spuren hinterlassen.

Der Plan war, dass sich Samuel im Besenschrank im Büro versteckte. Vor dem Abendessen veranstalteten David und Jachin deshalb eine Szene, welche das Erscheinen des Hauswarts erforderlich machte. Dies geschah just zu dem Zeitpunkt, als sich Samuel wegen einer anderen Nichtigkeit vom Hauswart die Leviten lesen ließ. Soweit Abarron und die Kumpane beurteilen konnten, funktionierte dieser Teil bestens. Samuel erschien jedenfalls weder zum Abendessen noch im Schlafraum. Das fiel außer ihnen niemandem auf. Sich dann mitten in der Nacht aus dem Internatsgebäude zu schleichen, war für die Jugendlichen reine Routine. Dennoch erschien Samuel nicht wie vorgesehen vor dem Wohnhaus. Schließlich schlich Abarron unter das Fenster des Hauswartbüros. Dieses lag im Parterre und war vergittert.

»Samuel?«

»Abarron, bist du das?«, flüsterte eine Stimme durch das halb offene Fenster.

»Ja, was ist los, wieso kommst du nicht?«

»Die Bürotür ist verschlossen – und ich kann den Schlüssel nirgends finden.«

»Du kannst den Schlüssel nicht finden …?« Er begriff das Problem sofort. Offenbar war im Büro selber kein Reserveschlüssel für das Büro vorhanden. »Verflixt!«

»Was soll ich tun?«

»Du bleibst im Büro, während wir die Sache im Lehrertrakt erledigen. Ich bringe dir den Schlüssel nachher zurück.«

»Ja, und dann?« Der Anflug von Verzweiflung war nicht zu überhören.

»Du wirst wohl oder übel die ganze Nacht hinter Gittern verbringen müssen. Wir holen dich morgen früh raus.«

»Wie denn, wenn mich der Hauswart erwischt, bin ich erledigt.«

»Mach dir mal keine Sorgen, mir wird schon etwas einfallen. Gib mir jetzt den Schlüssel.«

»Nur wenn du mir versprichst, mich nicht hängenzulassen.«

»Klar doch, wir hängen ja mit drin.«

Samuel warf den Schlüssel durch das Fenster. Beim Aufheben nahm Abarron aus den Augenwinkeln ein schwaches Aufblitzen aus Richtung des Wohngebäudes neben dem Schulhaus wahr. Erschrocken duckte er sich zu Boden und drehte sich um. Aber das Gebäude lag ruhig da, als würde es schlafen. Das Mondlicht spiegelte sich in den Fenstern. Das ist es, ich habe mich getäuscht.

Erleichtert schlich er zu David und Jachin zurück, die nervös auf der Schattenseite des Wohnhauses warteten.

»Wo warst du denn so lange und wo ist Samuel?«, fragte David.

»Er hat den Büroschlüssel nicht gefunden und ist eingesperrt.«

»Oh, nein!«

»Wir müssen ihn da befreien, sonst – «

»Psst«, unterbrach ihn Abarron, »wir werden ihn befreien, aber nicht jetzt. Hier ist der Schlüssel.« Obwohl sie nicht in die gleiche Klasse gingen, hatten sie schon einige Streiche miteinander durchgezogen. Immer war es der Jüngere, der das Vorgehen ausheckte. Eigentlich lief dann auch immer alles nach Plan. Im Vergleich dazu ging heute schon recht viel schief.

Umso mehr erstaunte es David, dass der Junge dermaßen einen kühlen Kopf behielt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die Sache bereits abgeblasen. Irgendwie schien diese Aktion mit dem Arabischlehrer anders zu sein als die früheren Streifzüge. Ernster, wichtiger. Der Kleine war und blieb ein Sonderling.

Zu Jachin gewandt sagte David: »Du stehst statt Abarron vor dem Eingang Schmiere. Und du kommst mit mir.«

»Ab – «

»Lass uns gehen«, schnitt ihm David das Wort ab. Er vertraute Abarron in dieser Situation mehr als seinem Klassenkameraden.

Dass er sich nun mit David in das Zimmer des Arabischlehrers schleichen sollte, behagte Abarron nicht sonderlich. Nicht, dass er Angst gehabt hätte. Wahrscheinlich hatte er am wenigsten Angst von allen. Aber er war sich darüber im Klaren, dass sie diesmal weiter gehen würden als je zuvor. Es waren nicht Hemmungen, sondern nur ein komisches Gefühl, das erste Mal. Auf dieses Gespür für das Überschreiten von Grenzen konnte er sich verlassen. Es sollte mit der Zeit eine seiner Stärken werden.

Die Jungen waren noch nie in diesem Gebäude gewesen. Während der Schulzeit wohnten hier die sieben auswärtigen Lehrer und Lehrerinnen. Sie wussten aber schon, wo sie den Wohnraum von al-Jabiri finden würden. Das entsprechende Fenster lag im zweiten Obergeschoss und war das zweitletzte auf der Südseite gegenüber dem Eingang. Das hieß, dass sie praktisch das ganze Gebäude durchqueren mussten. Wie es da drin aussah, wusste keiner von ihnen.

Tatsächlich gestaltete sich die Suche nach der passenden Türe schwieriger als gedacht. Das begann damit, dass sie im Gang nach der Eingangstüre keine Treppe fanden, sondern nur eine Reihe geschlossener Türen. Abarron konnte sich jedoch rasch orientieren. Im Vorfeld hatten sie die Räume im Erdgeschoss soweit wie möglich von außen ausgekundschaftet. Sie wussten also, wo die Küche mit angrenzendem Essraum und gegenüberliegend der Vorratsraum lag. An den Essraum grenzten zwei Aufenthaltsräume. Das ergab insgesamt vier Räume auf der Südseite, rechts vom Eingang. Die entsprechenden vier Türen waren leicht zu erkennen.

Weiter wussten sie, dass auf der Nordseite neben dem Vorratsraum ein Waschraum, Toiletten und zwei Schlafzimmer lagen. Das Treppenhaus besaß offensichtlich kein eigenes Fenster, sonst hätten sie es sehen müssen. Folglich gab es nur einen Ort, wo genügend Platz für eine Treppe sein konnte: zwischen dem Vorratsraum und dem Waschraum. Das hieß also, die zweite Türe links. Alle diese Überlegungen spielten sich innert Sekundenbruchteilen in seinem Kopf ab.

David war am Eingang stehen geblieben. Der Vorstellung, sie könnten fälschlicherweise eine Tür zu einem Schlafzimmer öffnen, beunruhigte ihn. Nicht auszudenken, was dann passierte. Gerade wollte er sich zu Abarron wenden, als dieser ohne zu zögern auf die zweite Türe links zulief. Er hatte die Türe bereits geöffnet und begann, die ersten Stufen hochzusteigen, als sie hörten, dass sich im Gang eine Türe öffnete.

Wie angewurzelt blieb David stehen: Es ist vorbei!

Abarron jedoch packte ihn geistesgewärtig am Ärmel und zog ihn zu sich ins Treppenhaus. Das Licht im Flur ging an. Ohne die Türe zu schließen, bugsierte er David möglichst geräuschlos zum ersten Podest hoch. Schon hörten sie den Lehrer den Flur entlangschlurfen. Wenn er auf die Toilette musste, würde er nicht an der Türe zum Treppenhaus vorbeikommen. Aber der Lehrer ging nicht auf die Toilette, sondern blieb vor der offenen Türe stehen. Hatte er sie bemerkt? Erst jetzt wurde auch Abarron kribblig. Sie schmiegten sich so gut sie konnten an die Wand.

Nach Sekunden des Bangens wurde die Türe unten geschlossen und die Treppe versank in absoluter Dunkelheit. Danach wurde die Vorratskammer geöffnet, offenbar war der Lehrer auf der Suche nach Naschereien. Die beiden Eindringlinge bewegten sich erst wieder, als sie sicher waren, dass der Lehrer in seinen Wohnraum zurückgekehrt war. Zum Glück, denn die zweitletzte Holzstufe knarrte so laut, dass sie erneut wie zu Salzsäulen erstarrt verharrten. Aber nichts regte sich im Haus.

Auf dem oberen Gang blieben sie vor der Türe zum Arabischlehrer stehen. David kramte Pinsel und Farbe aus seinen Taschen hervor. Zum Zeichen, dass sie bereit waren, nickten sie sich gegenseitig zu. Mit schweißnassen Händen griff David zur Klinke, drückte sie und wollte die Türe aufstoßen. Aber sie ging nicht auf.

»So ein – «

»Psst!«

»Was sollen wir tun? Ich schreibe den Spruch an die Türe …«

»Nein, warte, das wäre ja nach allem nur die halbe Miete. Ich werde die Türe öffnen.«

Ohne sich umdrehen zu müssen, sah er David mit offenem Mund dastehen. Aber für Erklärungen blieb keine Zeit. Er zog einen starken, vorne gekrümmten und abgeflachten Draht aus der Hosentasche. Die Kunst lag darin, den Schlüssel, wenn er auf der Innenseite steckte, nicht aus dem Schloss zu schieben. Lautlos machte er sich mit dem Dietrich zu schaffen. Das Handwerk hatte er in den endlosen Kellern der Plattenbauten, wo er während den Semesterferien bei den Großeltern wohnte, aus Langeweile zur Genüge geübt. Mit einem leisen ›Klack‹ schnappte die Türe auf.

Durch den Spalt hörten sie den Arabischlehrer regelmäßig atmen, er schlief fest. Sonst blieb es mäuschenstill. Vorsichtig schob David die Türe auf und begann, sich in Richtung des Schnaufens vorwärtszutasten. Abarron blieb draußen auf dem Gang und hielt Wache. Zwei-, dreimal hörte er ein leises Stolpern von David, aber nichts weckte den Lehrer auf. Der Mond brachte nur wenig Licht in das Zimmer. Gerade genug, um ans Werk zu gehen. Das sanfte Streichen des Pinsels an der Wand war auf dem Flur zu hören.

Wenn ihn bloß der stechende Geruch der Farbe nicht weckt.

Al-Jabiri erwachte nicht. Als David aus dem Zimmer geschlichen war, wollte er möglichst schnell das Haus verlassen.

Abarron hielt ihn zurück: »Ich verschließe die Tür wieder.«

»Muss das sein?«

Alles ging gut und kurz darauf standen sie vor dem Lehrertrakt und drehten den Schlüssel. Draußen hatte sich nichts verändert und Jachin winkte den beiden von der Gebäudeecke her zu.

»Was machen wir mit Samuel?«, fragte David, nachdem sie tief durchgeatmet hatten.

»Ich bringe den Schlüssel zurück und werde morgen früh den Hauswart vor dem Büro abfangen. Sobald er das Büro aufgeschlossen hat, bitte ich ihn um WC-Papier, welches im Schrank gegenüber unter der Treppe lagert. In dieser Zeit sollte Samuel unbemerkt aus dem Büro entwischen können.«

David war einmal mehr erstaunt, wie flink Abarron in diesen Sachen war. Er selber war vierzehn, Abarron neun Jahre alt. Kurze Zeit später waren sie in ihren Schlafräumen zurück und lagen im Bett.

Im obersten Stock des Wohngebäudes legte sich der Prorektor gleichermaßen zur Ruhe.

Der Arabischlehrer erschien am kommenden Morgen nicht zum Unterricht. Er war ziemlich durcheinander. Ihn beunruhigte weniger die Schmiererei an der Wand. Vielmehr bekümmerte ihn die Tatsache, dass jemand unbemerkt in sein Zimmer hatte eindringen können, während er schlief. Als Jugendlicher hatte er zu Hause in Jerusalem schon einmal miterleben müssen, was es hieß, in den eigenen vier Wänden nicht sicher zu sein. Als der israelische Geheimdienst sie mitten in der Nacht aus der Wohnung holte. Niemand hatte das Eindringen der Agenten in das Schlafzimmer bemerkt. Auf einmal standen sie neben dem Bett und erst das klickende Entschärfen der Waffen riss ihn, seine Eltern und die Geschwister aus dem Schlaf.

Vater und Mutter, beides arabischstämmige Israeli, kehrten nach drei Tagen nach Hause zurück. Sie waren nicht mehr die Gleichen. Von diesen drei Tagen erzählten sie nie etwas. Nur eines machten sie ihren Kindern immer wieder klar: Dass arabische Israeli auf keinen Fall Staatsbürger, sondern höchstens geduldete Fremde seien.

›Israel ist unser Land und die Araber sind unsere Hunde‹ stand in blutroten arabischen Buchstaben auf der Mauer über seinem Bett.

Das Gaza Projekt

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