Читать книгу Die Taube auf dem Dach - Dagmar Gaßdorf - Страница 10

Das Studium

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Bei der Wahl des Studiums war Barbara erstaunlich ideenlos. Noch nicht einmal so sehr, was den Ort anging, denn da lag die Ruhr-Universität buchstäblich nahe, und sie genoss, obwohl noch sehr jung, bereits einen recht guten Ruf. Außerdem konnte Barbara mangels reicher Eltern ohnehin nicht wie die Chefarzt-Tochter Marie-Helen verkünden, im Winter werde sie in Freiburg und im Sommer in Kiel studieren, wegen des Skifahrens in der kalten und des Segelns in der warmen Jahreszeit.

Neidisch war Barbara nicht; das gehörte sich nicht. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass es sie doch ein wenig freute, als sie zehn Jahre später beim ersten Klassentreffen nach dem Abitur mit einem Mercedes-Cabrio vorfahren konnte, was sich Marie-Helen, die Lehrerin geworden war, von ihrem Salär nicht hätte leisten können – jedenfalls nicht, solange ihre Eltern noch nicht tot waren und sie noch nicht geerbt hatte.


Die Ruhr-Universität Bochum thronte hoch über dem grünen Lottental. Ihre lang gestreckten Betongebäude, ein merkwürdiger Fremdkörper in einer ausgedehnten Wald- und Wiesenlandschaft, die kein Fremder in dieser Ruhr-Idylle erwartet hätte, trugen solche Namen wie GA, GB und GC – wobei das geistlose G kurioserweise für „Geisteswissenschaften“ stand. Vom Tal aus betrachtet sahen die Gebäude aus wie die Zinken eines Kammes.

Die Uni-Parkplätze waren von Anfang an überfüllt, denn seit den Nachwehen des Wirtschaftswunders ist es in Deutschland Tradition zu bauen, ohne zu überlegen, wie man das neue Ziel denn wohl bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen könnte. Im Ruhrgebiet kann es sogar passieren, dass die Erreichbarkeit selbst dann bescheiden bleibt, wenn sich etwas zu einem Publikumsmagneten entwickelt. Da ist es dann möglich, dass es auch nach Jahrzehnten „internationaler Leitmessen“ immer noch keine direkte Bahnlinie zum nahe gelegenen internationalen Flughafen gibt.

Menschen neigen dazu zu lieben, was ihnen ein historischer Zufall als Heimat beschert hat, und egal, wie diese Heimat aussieht, haben sie das Bedürfnis, stolz auf sie zu sein. Das galt auch für Barbara, hinderte sie aber nicht daran, mit Befremden zu reagieren, als ihr Ruhrgebiet beschloss, sich „Metropole Ruhr“ zu nennen. Für einen Haufen von Städten und Gemeinden, die immer schon klagen, dass noch nicht einmal die Spurbreiten ihrer Straßenbahnen übereinstimmen, ohne an diesem Missstand etwas zu ändern, oder, da ihnen das Geld dazu fehlt, den Aufstand zu proben gegenüber Land und Bund und Abhilfe einzufordern, fand sie das anmaßend und fast peinlich.

Sagen durfte man das nicht; dann wäre man als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet worden. Dabei sprach daraus doch nur der Ärger über das, was Barbara gern die „Frustrationstoleranz der Ruhris“ nannte. Da zahlten hoch verschuldete Kommunen nach der Wende jahrelang Solidarbeiträge Richtung Osten und sagten selbst dann nicht „Jetzt sind wir aber dran!“, als sie Berichte von einer U-Bahn für Leipzig hörten, mit Türen aus Echtholz und mit facettierten Fensterscheiben, und von einem Flughafen für Erfurt, an dem täglich drei Flugzeuge starteten. Denn im Ruhrgebiet ist man nicht neidisch.

Wer Zeitungen las, und das tat Barbara, der wusste, dass ihr Bundesland in der Blütezeit von Kohle und Stahl viele Jahre lang anderen deutschen Ländern beim Durchfüttern solcher Kummerkinder wie Bayerischer Wald und Schwäbische Alb unter die Arme gegriffen hatte. Da war es doch nur angemessen, dass es nach dem Ende der Schwerindustrie auch einmal andersherum ging. Aber dazu hätte man sich ehrlich machen müssen, statt nach dem halbwegs geglückten Strukturwandel von „Metropole Ruhr“ zu reden. Aber der Ruhri hat ein Talent im Schönreden der Dinge – nach dem von einem seiner komischen Talente auf den Punkt gebrachten Motto: „Woanders is auch scheiße.“

Für Barbara gehörte zu einer Metropole zumindest ein schnelles und bequemes Verkehrssystem. Da rechneten sie in einer Art trotziger me-too-Haltung immer wieder vor, dass es nirgendwo auf der Welt eine solche Dichte von Opern-, Konzert- und Schauspielhäusern und Museen aller Art gebe; aber wenn man versuchte, von einer Stadt zur anderen zu gelangen, war man auf das Auto angewiesen und stand im Stau. In einer Art Hassliebe hatten die Eingeborenen die einmal als „Ruhrschnellweg“ gedachte A40 „Ruhrschleichweg“ getauft. Und eine gescheite Sekretärin, die jeden Morgen von Dortmund nach Essen fahren musste, schlief lieber eine halbe Stunde länger und schminkte sich im Auto.

Vom Titel einer „Kulturhauptstadt“ war das Ruhrgebiet in den frühen Jahren der Ruhr-Universität noch Lichtjahre entfernt. Der „Wandel durch Kultur“ musste erst noch stattfinden. Auf die impertinent kreative Idee, den Metropolen-Charakter eines durch keine politische Grenze und noch nicht einmal durch ein gemeinsames Bistum definierten Konglomerats von Gemeinden durch ein Satellitenfoto unter Beweis zu stellen, wäre damals noch niemand gekommen: Dort, wo die vermeintliche „Metropole“ Ruhr ist, zeigt es einen besonders hellen, weil lichtverschmutzten, Fleck.


Von den Studenten und auch vom Lehrkörper wohnte kaum jemand in Uni-Nähe; es waren fast alles Fahrstudenten und Fahrdozenten. Barbara kannte auch nur ein einziges Studentenwohnheim, und das auch nur deshalb, weil einer seiner Bewohner, ein hübscher Junge mit dem schönen Namen Rainer Maria, sie mit selbst gekochtem Vanillepudding zu sich zu locken versuchte, nachdem sie auf Angebote, Tennis spielen oder segeln zu lernen, nicht angesprochen hatte. Barbara war schlank und sah „sportlich“ aus; aber sportbegeistert war sie keineswegs. Zwar hatte man möglichst auch im Fach Sport keine schlechtere Zeugnisnote als zwei zu haben; aber Sport im Sinne von Reiten, Tennis, Segeln und dergleichen gehörte in ihrer Familie in die Kategorie „unnötiger Luxus“.


Eigentlich waren Studenten im Ruhrgebiet von Anfang an Außenseiter. Wo es eine akademische Tradition gegeben hatte wie in Duisburg, war sie der Industrialisierung zum Opfer gefallen. Die Kette des Kanzlers der Mercator Universität war nach Bonn abhanden gekommen, und die neuzeitliche Konstruktion Universität Duisburg-Essen war von Anfang an ein zweigeteilter Fremdkörper in Städten ohne studentisches Flair. Als Barbara von ihrem späteren Mann hörte, er habe seine Doktorarbeit in Köln in einer Kneipe geschrieben und er und seine Kommilitonen hätten das Lokal immer erst verlassen, wenn der Wirt dicht machte, kam Barbara das vor wie ein Bericht von einem anderen Stern.

Selbst der Rektor der Bochumer Universität, von den Studenten so kurz wie ruppig RUB genannt, war auf seine Art ein Außenseiter – als nicht nur für seine eigene Partei, sondern für die politischen Parteien jener Tage insgesamt, viel zu eigenständiger Kopf. Ausgestattet mit dem seltenen Talent der Selbstironie scherzte er über sein späteres Intermezzo als Industrie-Vorstand, er sei der teuerste Lehrling, den das Unternehmen je hatte.

„Schuld an allem sind doch nur die 68er.“ So lautete eine der Lieblingssentenzen eines wesentlich älteren Mannes aus der Generation dieses Rektors, den Barbara später heiraten sollte. Das war halb ernst und halb wohlwollend gemeint, ließ sie aber stets an ihren Studienbeginn an der RUB denken. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund lag da bereits in den letzten Zügen. Aber Barbara hätte sich ohnehin weder von ihm noch gar vom Spartacus einfangen lassen, aber ebenso wenig vom Ring Christlich-Demokratischer Studenten.

Einmal, ermuntert durch ihre Kommilitonin Uta, die sie schon aus der Schule kannte und die nach dem Germanistik-Studium Dramaturgin werden wollte, war Barbara bei einer „linken“ Versammlung gewesen. Uta holte sich dort offensichtlich das ideologische Rüstzeug für ihre spätere Theater-Tätigkeit; aber Barbara fand die gestanzten Phrasen nur lächerlich.

Sie wunderte sich dann nicht zu hören, dass die Bauarbeiter unten im Lottental, zu denen die Linken zogen, um sich mit ihnen gegen Gott und die Welt zu verbünden, es vorzogen, die Studenten vom RUB-Hügel zu verprügeln.

Die Taube auf dem Dach

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