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MARLENA
Prag, zur selben Zeit

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Schon am zweiten Abend hatte sie das System durchschaut, weil es im Grunde genommen weder verdeckt ablief noch jemanden sonderlich interessierte.

Außer sie, natürlich.

Marlena schlug ihre kurzen Beine übereinander, die in für sie ungewohnten schwarzen Hosen steckten. Normalerweise waren sie nur Jeans oder Cargos gewohnt und flache Schuhe an den Füßen. Doch dort quälte sie jetzt ihr einziges Paar High Heels. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie heute mit Blasen an den Fersen und gefühlsarm gequetschten Zehen nach Hause gehen.

Wenigstens passte ihr das Zeug noch, zugenommen hatte sie also nicht. Auch das ebenfalls schwarze ärmellose Oberteil mit dem enganliegenden Kragen hütete sich davor, unbequem zu sein, und streckte ihre eher stämmige Figur.

Sie nahm einen Schluck von ihrem Wasser, wobei der Lippenstift unschöne Flecken am Glas hinterließ, kratzte sich am Ohr und dachte sehnsüchtig an ihre bequeme Zweitgarderobe in der eleganten Ledertasche zu ihren Füßen. Und dass sie angemalte Lippen hasste.

Ihr Cousin Jani schien nicht zu bemerken, wie unwohl Marlena sich fühlte. Er lungerte in seiner lässigen Freizeitkluft im Polstersessel neben ihr und war ganz in sein Smartphone vertieft. Wieder einmal Fortnite, mutmaßte Marlena. Seit ein paar 17-Jährige die WM gewonnen und Millionen von Dollars kassiert hatten, arbeitete er Tag und Nacht daran, deren Nachfolger zu werden.

Seine ersten paar Kronen würde er sich jedenfalls heute Abend verdienen. Nicht mit Fortnite natürlich. Es gab keine bessere Tarnung als einen desinteressierten, schlampig angezogenen 14-Jährigen, deshalb hatte sie ihn gerne für seine Anwesenheit bezahlt. »Echt jetzt?«, hatte Jani erfreut gemeint. »Es gibt bar Kralle fürs Herumlungern und Gamen? Cool! Kann ich daraus ein Businessmodell machen?«

Sie hatte ihn am Schlafittchen gepackt. »Nein. Und kein Wort zu irgendjemandem, sonst ist die Kohle futsch, verstanden?«

Und da saßen sie nun.

Gestern war sie nur hier gewesen, um das Terrain zu erkunden, aber das hatten ein paar Typen falsch verstanden und sie angequatscht. Weil sie weder Lust auf eine Wiederholung hatte noch auffallen wollte, hockte jetzt Jani neben ihr und machte sie quasi unsichtbar.

Unauffällig ließ sie den Blick schweifen.

Das war in der Tat ein nobler Schuppen. Hypermodern, mit viel grauem Glas und Holz. Der Luftraum über der Lobby zog sich bis unter die Glaskuppel in mindestens 20 Metern Höhe. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie den Abendhimmel sehen.

Die Sessel, in denen Jani und sie Platz genommen hatten, waren aus dunkelgrünem Leder und standen auf einem farblich passenden dezent gemusterten Teppich. Das Ambiente gab sich kühl, aber dennoch ansprechend. Auch viele andere Gäste schienen so zu empfinden und hatten sich – versorgt mit Bier, Wein und anderen Flüssigkeiten – ebenfalls hier niedergelassen. Ein trotz Sommertemperaturen flackernder fünf Meter breiter Kamin mit Gasflammen tat ein Übriges.

Marlenas Blick fiel auf die junge Frau, die ihr schon gestern aufgefallen war. Sie saß sehr aufrecht etwas abseits in einem Stuhl, trug ein enges schwarzes Kleid, das knapp über dem Knie endete, und hohe silberne Schuhe. Das schwarze Haar war aufgesteckt, das Make-up dick, aber unaufdringlich. Seit gut 20 Minuten hatte sie ihr Telefon nicht aus der Hand gelegt und fest umklammert gehalten, während ihr Blick sich im Nichts verlor.

Jetzt ging ein Ruck durch ihren üppigen Körper. Offensichtlich war eine Nachricht eingegangen. Kurz musterte sie das Display, dann stand sie auf und schlenderte zu den Aufzügen.

Dort wartete Marlena schon, lächelte sie unverbindlich an und stieg in den Lift, der innen mit grauem Glas versehen worden war, in dem sich ihre beiden Silhouetten schmeichelhaft spiegelten.

»Wohin?«, fragte die Frau mit leiser Stimme.

»23, bitte«, sagte Marlena und nannte das oberste Stockwerk mit der Rooftop-Bar. Die Frau würde damit jedenfalls früher aussteigen.

Sie drückte auf den Knopf mit der 17.

Ein leises Ping zeigte das richtige Stockwerk an.

Die Frau straffte sich erneut, trat aus dem Lift und wandte sich suchend nach links. Marlena folgte ihr mit etwas Abstand. Auch hier war alles in Grau und Grün gehalten, dazu Holztüren mit dezent angebrachten Nummern. Eine davon wurde eben geöffnet.

Marlena beeilte sich. Im Vorbeigehen fiel ihr Blick auf einen dünnen Mann in Anzughose und offenem Hemd, der der Schwarzhaarigen ein Glas Sekt anbot und sie gierig anlächelte. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Bestätigt fuhr Marlena zurück in die Lobby und setzte sich wieder zu Jani, der ihre kurze Abwesenheit kaum bemerkt zu haben schien. »Okay, Bro, das war’s für dich!«, sagte sie leise. »Dein Geld hast du ja schon bekommen, jetzt zisch ab!«

»Das war’s schon?«, wunderte sich ihr Cousin, trollte sich aber ohne Widerstand.

Eine Stunde später war die junge Frau wieder da. Mittlerweile zeigte die Uhr fast Mitternacht. Ohne nach links oder rechts zu schauen, ging sie zum Empfang, wo mittlerweile die Nachtschicht übernommen hatte – in Form eines dicklichen Mittvierzigers mit schütterem Haar. Ungerührt nahm er das Kuvert, das sie ihm zuschob, und ließ es verschwinden. Die ganze Aktion hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Danach wandte sich die Frau ab und machte sich auf den Weg nach draußen.

Marlena folgte ihr unauffällig. Ihre hohen Schuhe hatte sie vorhin gegen Sneakers eingetauscht und dazu George Michaels »Freedom« gesummt. Nach ein paar Metern tat die Schwarzhaarige es ihr gleich, schlüpfte in flache Gesundheitstreter. Mit dem Schuhwechsel sackte sie in sich zusammen, zog frierend eine schwarze Strickjacke über die Schultern und näherte sich einer Haltestelle. Als der Bus kam, stieg Marlena hinten ein, die Frau ganz vorne.

Zehn Minuten später verließ sie ihn wieder, mitten im ehemaligen Arbeiterbezirk Zizkov, der sich in den letzten Jahren immer mehr zum Künstlerviertel gemausert hatte und – aus der Ferne betrachtet – fast ein wenig so aussah wie Paris.

Langsam ging die junge Frau die Slavíkova-Straße entlang. Vor einer Bar stand ein Pulk junger Menschen mit Getränken. Durch die großen vergitterten Fenster fiel buntes Licht, Musik wummerte. Das »Big Lebowski« war eines von Marlenas Lieblingslokalen, wenn sie in der Stadt war.

Die Schwarzhaarige drängelte sich wortlos vorbei und bog kurz darauf in eine schmale Seitengasse ein. Mit einem Mal war die Schickeria verschwunden und hatte einem dunklen Durchgang Platz gemacht, in dem es nach Urin und Erbrochenem stank. Nach ein paar Metern begann die junge Frau in ihrer Handtasche zu kramen und blieb schließlich vor einer abgeschabten Eingangstür stehen.

»Entschuldigen Sie bitte!«, rief Marlena leise, um sie nicht zu erschrecken.

Die Frau fuhr herum, ein Klappmesser in der Hand. Hastig wich Marlena zurück.

»Hau ab, aber schnell!«, sagte die Verfolgte böse. »Lass mich in Ruhe, šlapka!«

Na, die Nutte bist ja wohl eher du, dachte Marlena, ohne beleidigt zu sein.

»Bitte, ich will Ihnen nichts tun, nur ein paar Fragen stellen! Es wird nicht lange dauern, versprochen!«

Die Augen der jungen Frau blieben misstrauisch. »Dir helfen? Wozu?«

Marlena kam näher. »Ich suche jemanden und habe schon alles probiert. Sie sind meine letzte Hoffnung!«, übertrieb sie.

»Warum ich?« Ihre Neugierde schien geweckt zu sein.

»Bitte, darf ich Sie zu einem Getränk ins ›Big Lebowski‹ einladen? Dann erzähle ich Ihnen alles!«

Die junge Frau verzog das Gesicht. »Ich bin müde. Verzieh dich!« Sie wandte sich ab, machte Anstalten, die verkratzte Tür aufzusperren.

»Ich bin gerne bereit, für Ihre Informationen zu bezahlen!« Marlena hatte mit Widerstand gerechnet und war vorbereitet. Schlagartig hatte sie die Aufmerksamkeit der Schwarzhaarigen wieder.

»Bezahlen? Wie viel?«

»500 Kronen und das Getränk!«

Jetzt kam das Verhandlungsgeschick der jungen Frau durch.

»1500!«

»Tausend. Keine Krone mehr!«

Die dunklen Augen der Frau blitzten auf. Ein netter Extrahappen nach dem langen Tag. »Also gut, gehen wir, aber nur kurz.«

15 Minuten später stand Marlena wieder auf der Straße und ließ das Gespräch Revue passieren.

Sie hatten sich an einen Ecktisch gequetscht. Tereza, so der Name der Prostituierten, hatte Marlena sofort wiedererkannt, aber nur die Schultern gezuckt und müde an ihrem Bier genippt, woraufhin Marlena mit der Tür ins Haus gefallen war. »Dir sagt doch der Name Jana Jelinek etwas, oder?«

»Jana? Aber die ist doch schon seit Jahren tot! Bist du von der Polizei?«

»Blödsinn, ich arbeite privat! Aber ihr wart sozusagen Kolleginnen im selben Hotel, und ich hoffe, du weißt, ob sie Verwandte hatte. Es geht um ein Erbe.«

Tereza hatte mit einem Schnauben reagiert. »Ich kannte sie wirklich nicht sehr gut. Sie hat, so wie ich, allein angeschafft. Keine Zuhälter. Wir bestechen die Leute am Empfang und sie lassen die Bullen außen vor. Ist sicherer als auf der Straße und die Kunden sind besser. Mittlerweile habe ich viele, die immer wiederkommen.«

Es gab unter Garantie genügend Geschäftsreisende und Touristen, die auf diesen Typ standen: klein, jung, üppig, professionell, mit großem Busen, gefärbten Haaren, aufgeklebten Fingernägeln und dichten Wimpern.

»Hattest du Zweifel, dass es ein Unfall war?«

»Nein, gar nicht. Unfall mit Todesfolge, hieß es.«

»Weißt du denn jetzt, ob Jana Familie hatte?«

»Ja, eine Schwester, ganz sicher«, war genau die Antwort gekommen, auf die Marlena gehofft hatte. »Jelena hieß sie, glaube ich. Die stammten alle aus der Gegend um Krumau. Von dort ist Jana aber weg. Keine Ahnung, wo sie hier in Prag gelebt hat und ob die Schwester noch dort ist. Du wirst wohl hinfahren müssen. Ach ja, ich glaube, sie ist Krankenschwester, wenn dir das hilft!«

Danach war Tereza aufgesprungen. »Genug jetzt, ich verschwinde. Die Nachbarin kann nicht länger auf meine kleine Tochter aufpassen und ich muss für meinen Schulabschluss lernen, damit es bald besser wird!« Die Hoffnung hinter diesen Sätzen war nicht zu überhören gewesen.

Seufzend hatte Marlena ihr das Geld in die Hand gedrückt und die Rechnung bezahlt.

Krumau, das tschechische Česky Krumlov, lag etwa 25 Kilometer nördlich der österreichischen Grenze in Südböhmen an einer Flussschleife. Wegen seiner Lage trug es den Beinamen »Venedig an der Moldau«. Die malerische Altstadt beherbergte viele Lokale und Galerien und über allem prangte das mächtige Schloss, das angeblich genau 365 Räume besaß und UNESCO Weltkulturerbe war.

Marlena kam am späten Vormittag an. Seltsamerweise war sie in ihrem Leben schon in Australien, Bolivien oder Kambodscha gewesen, aber noch nie hier. Sofort war sie bezaubert vom Charme der alten Häuser und Gassen. Sie ließ ihr Auto auf einem der großen Parkplätze stehen, denn sie wollte die Gelegenheit nutzen, die Stadt zu Fuß zu erkunden.

Soeben war sie auf den Hauptplatz, den Námestí Svornosti, eingebogen und hielt erstaunt inne. Sie stand vor einer Flut grellbunter Yogamatten, auf denen sich Dutzende Menschen verrenkten. Japanische Touristen fotografierten in hellem Entzücken jede Pose, während einige rotwangige Schirmkäppi-Träger in kurzen Hosen mit Bier auf die Show anstießen. Der Anblick war so bizarr, dass ihr ein »Das gibt’s doch nicht!« entfuhr.

»Diese Vollidioten!«, lamentierte ein verbraucht wirkender Tscheche, der vor einem Laden mit alten Blechschildern stand und fassungslos den Kopf schüttelte. »Wir verkommen immer mehr zu einem Irrenhaus. Die UNESCO schützt die Gebäude, aber wer schützt uns?«

Marlena sah sich um und musterte die bunte Ansammlung von Souvenirläden, Bierlokalen und Menschenmassen. Sie hatte sich auf der Fahrt schlaugemacht und ungläubig gelesen, dass fast zwei Millionen Touristen aus aller Welt jährlich über die knapp 13.000 Einwohner herfielen, was pro Kopf mehr war, als zum Beispiel Venedig ertragen musste.

Auf einer pinken Yogamatte streckte gerade eine grauhaarige Mittsechzigerin wenig elegant ihren Popo in die Höhe. Der Mann im Hauseingang verzog angewidert das Gesicht und wetterte weiter. »Das sind doch keine Touristen, das sind Terroristen! Wir sind noch mehr am Arsch als diese blöde Kuh da!«

Marlena hoffte grinsend, dass die Dame kein Tschechisch verstand.

Die Lust auf Sightseeing war ihr gründlich vergangen. Rasch öffnete sie eine App und suchte sich den Weg zum Krankenhaus.

Die Poliklinik lag nahe dem Stadtzentrum, ein mehrgeschossiger Zweckbau in Grau, Grün und Gelb. »Du wirst wohl nie Kulturerbe«, murmelte Marlena bei dessen Anblick und betrat das Foyer. Zu ihrem Glück war das Spital nicht besonders groß.

Sie schob einen riesigen Blumenstrauß vor sich her, den sie auf dem Weg billig an einer Tankstelle erstanden hatte, und wandte sich zur Information. Dahinter thronte ein glatzköpfiger Portier mit Schnauzbart und sah ihr freundlich entgegen.

»Guten Tag! Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Schwester Jelena finde. Ich meine Jelena Jelinek. Ich muss mich unbedingt bei ihr bedanken!«

Ein unergründlicher Blick aus wachen Augen traf sie. »Und wie kann ich Ihnen bei diesem zweifelsohne löblichen Vorhaben helfen?«

Marlena zögerte, unsicher, wie sie den Mann einschätzen sollte. Dann fuhr sie gespielt schüchtern fort. »Wissen Sie, meine Oma ist kürzlich verstorben. Aber sie war oft hier in Behandlung und hat mir immer von Schwester Jelena erzählt, wie dankbar sie ihrem ›Engel in Schwesterntracht‹ sei.«

Der Portier musterte die vielen Blumen und die traurig wirkende junge Blondine im schwarzen Kleid, sagte aber kein Wort.

»Und jetzt bin ich hier und … nun ja … Könnten Sie mir bitte sagen, auf welcher Station sie arbeitet?«

Wieder ein langer Blick, dann zog er langsam das Telefonverzeichnis zu sich her. »Dann sehen wir mal nach.« Bedächtig grub er sich durch die Zeilen. »Tut mir leid. Ich finde hier keine Krankenschwester dieses Namens.« Etwas an seinem Ton irritierte Marlena. Wollte er ihr etwas mitteilen, ohne zu viel zu sagen?

Sie gab sich naiv und machte große Augen. »Aber sie muss hier sein! Ich habe doch etwas für sie!«

Der Pförtner sah sie mitleidig an und blickte dann kurz nach links und rechts. »Hören Sie, Mädchen, ich darf das eigentlich nicht, aber … eine Schwester Jelena hat mal hier gearbeitet, allerdings tut sie das seit einigen Monaten nicht mehr. Tut mir leid!« In dem kleinen Krankenhaus schien der Mann über alles und jeden Bescheid zu wissen.

»Aber was mache ich denn jetzt?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen blätterte der Mann durch das abgenützte Telefonverzeichnis ganz nach hinten, schob es zu ihr hin, tippte mit dem Zeigefinger auf einige Zahlen und wandte sich ab. »Ich muss schnell etwas von dort hinten holen. Wenn Sie mich entschuldigen?« Schnell prägte sich Marlena eine der mit der Hand gekritzelten Nummern ein und schenkte ihm einen dankbaren Blick, den er mit einem winzigen Zucken der Mundwinkel quittierte.

Samt ihren Blumen machte sie sich auf den Weg. Kein Wunder, dass Jelena bislang unauffindbar gewesen war! Doch nun war Marlena auf der richtigen Spur, die allerdings weiter wegführte als gedacht.

Schöner sterben in Wien

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