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LILLY
Wien, ein paar Tage später

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Es war so weit.

Ferdl hatte sich gemeldet.

»Das Stierln hat’s gebracht, Lilly! Ich weiß was!«

Wir verabredeten uns am Würstelstand bei der Albertina, mitten im ersten Bezirk. Ferdl hatte dort einen Dreh und wie immer danach Hunger. Als ich kam, kaute er schon vergnügt eine vor Fett triefende Käsekrainer. Weil ich ihn kannte, holte ich ihm gleich noch eine.

»Und nimm bitte an Schoafn zur Eitrigen, Lilly!«, rief er dankbar und meinte damit scharfen Senf zu seiner Wurst in spe. Sollte er tatsächlich Erfolg gehabt haben, würde ich ihm eine Monatsration schenken. Ich selbst bestellte nur Mineralwasser und trug meine Schätze an Ferdls Hochtisch.

Stirnrunzelnd musterte ich die Menschenmassen auf der breiten Stiege der Albertina. Die ehemalige Habsburgerresidenz zählte zu den Besuchermagneten der Stadt. Dann wandte ich mich wieder meinem Lieblingskameramann zu. Der biss gerade genussvoll in seine Käsekrainer. Ich ließ ihm sein Vergnügen, obwohl ich vor Neugierde brannte. Doch wenn es ums Essen ging, war Ferdl kompromisslos.

Währenddessen wanderte mein Blick von den Touristen zum Würstelstand, dem vielleicht einzigen seiner Art, der je für einen Staatspreis für Design nominiert worden war. Es war ein dunkelbrauner Kasten mit einem weit überkragenden Dach, großen Fenstern und geschickter Beleuchtung.

Endlich schluckte Ferdl mit einem zufriedenen Brummen den letzten Bissen hinunter und spülte mit Bier nach. Wortlos harrte ich der Dinge, weil ich wusste, dass er erst dann loslegen würde, wenn es ihm passte.

»Also, Lilly. Ich erspar’ dir die Details. Es hat gedauert, warum, musst du nicht wissen. Aber stell dir vor, diese Jana hatte tatsächlich eine ältere Schwester. Jelena. Jelena Jelinek. Komischer Name, nicht?«

»Okay«, sagte ich eine Oktave höher als gewöhnlich.

»Wir haben sie gefunden.«

Ich verkniff mir die Frage nach dem »wir«. Irgendwann hatte Ferdl von einem Verwandten erzählt, der einmal bei der Polizei gearbeitet und sich danach selbstständig gemacht hatte.

»Und?«

»Und das war gar nicht so leicht!«

Ich lächelte. »Ferdl, du bist wirklich ein Schlingel! Jetzt hör schon auf, mich so auf die Folter zu spannen! Du weißt doch ganz genau, wie neugierig ich bin!«

Zur Strafe trank Ferdl sein Bier in einem Zug aus, ging zurück zum Cholesterinparadies und bestellte sich noch eines. Erst als er die Dose geöffnet, mir zugeprostet und einen weiteren Schluck genommen hatte, fuhr er fort. »Es war a brada Weg, ein Hin und Her, kreuz und quer durch meine schöne Ex-Heimat. Und weißt, wo wir die Jelena dann g’funden haben?«

Stirnrunzelnd lauerte ich auf die Antwort.

»Hier, in unserem schönen Wien!«

»Nein!«

»Doch! Die Marlena ist schon eine. An den Postkarten hat’s das erkannt!«

»Marlena?«

Ferdl nickte. Aber ehe er ins Detail gehen konnte, wurden wir von einer Gruppe Touristen in die Zange genommen, die nur ein Ziel zu haben schien: Würstel! Und wir blockierten die Einflugschneise.

»Öha, du Rotzmensch, pass doch auf!«, schimpfte Ferdl, als ihn ein Ellenbogen im Kreuz traf. Statt einer Entschuldigung hielt ihm eine dünne Japanerin mit weißem Schlapphut ihr Smartphone vor die Nase und deutete auf ihre drei Begleiterinnen. Sein gutes Herz schlug durch. Ergeben nickte er und machte Fotos, während ich einem Bierbauch in einem T-Shirt mit der Aufschrift »Leer gut, voll besser!« auswich. So wie der roch, hatte er es schon einige Tage lang an der Dusche vorbeigeschafft.

Ferdl war indessen entlassen. Laut schnatternd versuchten die Japanerinnen ihr künftiges Essen zu identifizieren, während der Dicke kurzerhand seine Bestellung über ihre Köpfe hinwegbrüllte. »Zwei Hotdogs und ein großes Bier, aber dalli!«

Wir ergriffen die Flucht und schlenderten in Richtung Michaelerplatz.

»So ein Ungustl. Der gehört verboten!«, schimpfte mein Lieblingskameramann.

Ich versuchte, ihn wieder auf Spur zu bringen. »Vergiss den, der spürt sich nicht. Erzähl mir lieber mehr von Marlena! Du hast sie am Rande immer wieder mal erwähnt. Wer ist das genau?«

Ferdls Gesicht wurde mit einem Mal weich. Jeglicher Unmut wich einem zärtlichen Lächeln. »Marlena ist meine sehr talentierte Nichte. Eigentlich ist das Mädel Bloggerin, aber es gibt nichts, was ihr verborgen bleibt, wenn sie auf der Jagd ist. Und sie macht die besten Buchteln der Welt. Oder die Powidltatschkerln, Lívanec und Palačinke, für die begehst ein Verbrechen, sag ich dir!«

Mit einem Seitenblick musterte ich Ferdls stattliche Wampe unter seiner ärmellosen Jacke mit den vielen Taschen. Oh ja, darin lagen neben Kilometern von Käsekrainern sicherlich auch Tausende Powidltascherl, Hefeküchlein und Palatschinken begraben. Diese Marlena klang jedenfalls interessant.

»In Oberösterreich hat sie dann schließlich Janas und Jelenas Papa gefunden. Der stammt von dort. Die Mutter war Tschechin, aus Krumau. Ist gestorben. Er hat Marlena erzählt, dass Jelena seit einiger Zeit verschwunden ist, ihm aber schreibt.«

Mittlerweile waren wir in den Kohlmarkt eingebogen, wo eine Baustelle den Weg blockierte. Auf dem passierbaren Schlurf parkte gerade ein Teenager einen der neuerdings omnipräsenten Mietroller. Ein Bauarbeiter in grelloranger Montur hob seine Faust und brüllte: »Weg damit, sonst prack i dir eine, dass du mit’m Oasch auf die Uhr schaust!«

Wien im Hochsommer.

»Verschwunden?«, echote ich.

Ferdl berichtete ungerührt weiter. »Jelena hat die Postkarten über eine App erstellt, mit der man auch die Marken selber gestalten kann. Stell dir vor, das waren lauter Wiener Wahrzeichen! Der Steffl, die Oper, die Burg, das Belvedere und sogar einmal ein Fiaker. Und der Poststempel war auch aus Wien. Da war der Marlena natürlich sofort klar, wo die Jelena sein könnte.«

Auf die Idee, Janas Schwester vor unserer Nase zu suchen, war ich natürlich nicht gekommen!

»Und das mit den Marken und dem Stempel ist ihrem Vater nicht aufgefallen?«

»Wahrscheinlich schon, aber Marlena meinte, er sei sehr verletzt und traurig über Jelenas Verhalten. Es kann natürlich auch sein, dass er einfach gelogen hat.«

»Und wo wohnt diese Jelena jetzt? Was macht sie? Wo kann ich sie finden?«

»Despacito!«, brummte Ferdl und musterte angewidert ein buntes Etwas in einer der teuren Nobelboutiquen.

»Ich bin aufgeregt, ich kann das Gas jetzt nicht rausnehmen!«

»Vom Hudeln kommen die Kinder, Lilly!«

Der Kerl konnte einen wahnsinnig machen!

Abrupt blieben wir stehen, aufgehalten von einer schier undurchdringlichen Wand an Menschen vor dem Gourmettempel Meinl am Graben. Normalerweise war es ein Vergnügen, dort herrliche Köstlichkeiten aus aller Welt zu entdecken, aber nicht, wenn es zuging wie auf einem Rockkonzert.

Ferdl verzog das Gesicht. »Lauter Depperte!«, sagte er laut und erntete den verwunderten Blick einer gepflegten älteren Dame.

»Scusi?«, fragte sie verunsichert.

»A geh, du Blunzn, dich mein ich doch ned!«, schimpfte mein wenig charmanter Begleiter, gefolgt von einem gesäuselten: »Buon giorno, Signora! Posso?«

Ich musste lachen. »Seit wann kannst du denn Italienisch?«

»Ach, das war Italienisch?«, grinste der Nachwuchscasanova neben mir und kämpfte sich schweigend in Richtung Tuchlauben weiter. Ich trabte neben ihm her und wurde immer ungeduldiger. Was hatte er vor?

Am Salzgries, kurz vor dem Rudolfsplatz, reichte es mir. »Dein Verdauungsspaziergang in Ehren, aber jetzt ist Schluss. Sagst du mir bitte endlich, wo ich Jelena finde?«

Statt einer Antwort blieb Ferdl stehen und deutete auf ein wunderschönes, neu renoviertes Jahrhundertwende-Palais direkt vor uns. Erste Lage. Unbezahlbar. Luxusresidenzen.

»Hier!«, sagte er.

Die Gegend zwischen Salzgries und Schottenring war früher das Zentrum des Wiener Textilhandels. Wir befanden uns also inmitten des ehemaligen Fetzenviertels. Schon längst waren die traditionsreichen Baumwoll- und Zwirnspinnereien noblen Wohnhäusern, Möbel- und Designgeschäften gewichen – und vielen Bars. Weil man hier problemlos abstürzen und tagelang verschwinden konnte, trug die Ecke den Namen Bermudadreieck.

»The Weaving Mill Residence«, stand in dezenten silbernen Lettern auf einem Schild, das seitlich am Eingangsportal des Palais angebracht war.

»Darf ich vorstellen: Das ist die Milli!«, sagte Ferdl und wies mit einer übertriebenen Geste in Richtung des weiß getünchten Prachtbaus mit den großen Sprossenfenstern. Über dem Mezzanin besaß er weitere vier stuckverzierte Stockwerke und eine daraufgesetzte Dachgeschoss-Beletage. Besonders auffällig waren zwei markante Erker. Außerdem entdeckte ich die Einfahrt einer Tiefgarage.

Fragend sah ich Ferdl an.

»Meine Liebe, du erblickst 20 lichtdurchflutete Wohnungen mit durchdachten Grundrissen in den Größen von 75 bis 200 Quadratmetern. Vier davon befinden sich in der Beletage – natürlich ohne störende Dachschrägen. Besonders spektakulär ist das Penthouse – samt Turmzimmer und sechs Meter hohen Räumen.«

So wie er klang, rezitierte er – übrigens in perfektem Burgtheaterdeutsch – die Website eines teuren Immobilienmaklers, war aber noch nicht fertig. »Purer Luxus findet sich natürlich auch im Innenbereich. Die Ausstattung der Wohnungen passt zum eleganten Gesamtkonzept: hochwertige Parkettböden, Stuckdecken, klassische Doppel-Flügeltüren, viel Naturstein und Designarmaturen – allesamt aus Manufakturen österreichischer Hersteller. In der hauseigenen Garage stehen den Bewohnern jeweils zwei Parkplätze zur Verfügung. Beeindruckt?«

Und wie! »Hier könnte ich mir wahrscheinlich nicht einmal die Fußmatte leisten«, ätzte ich. Was nicht ganz stimmte, denn ich hatte Georgs erkleckliches Vermögen geerbt, allerdings bislang nichts davon angerührt. Keinen Cent.

»Aber wie passt die kleine Jelena aus Krumau in diese Protzburg?«, fragte ich verwundert.

»Das ist die Frage, ned wahr? Die musst du allerdings selber beantworten. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass sie einer Stiftung gehört und Jelena hier gemeldet ist. Vermieter ist ein Dr. Novotny. Wir haben sie für dich gefunden. Jetzt übernimmst du, Lilly!«

Ferdl drückte mich kurz, wünschte mir alles Gute und war verschwunden.

Ratlos blickte ich an der Fassade empor und überlegte fieberhaft. Weil mir allerdings nichts wirklich Schlaues einfiel, überprüfte ich vorerst einmal das dezente Klingelpaneel. Dr. Novotny residierte offenbar nicht nur im Penthouse, er betrieb dort auch eine Praxis. Plastische Chirurgie. Das Schild aus gebürstetem Edelstahl erklärte mir, dass ich nur auf Voranmeldung eingelassen werden würde.

Binnen drei Sekunden warf Dr. Google mir die entsprechende Website aus. Begrüßt wurde ich dort von einer wunderschönen Nackten, die auf dem Rücken lag und mich verführerisch anlächelte. Es war ein hochprofessionell gemachtes Bild und weit weg davon, billig zu wirken. Nichts als perfekte Haut, makellose Kurven und die Anmutung von Unschuld, Schönheit und Reinheit. Das musste man erst mal hinkriegen.

Ich scrollte durch das Angebot. Fettabsaugung, Brustbereich, Botox, Gesicht. Körper. Möglich war scheinbar mittlerweile alles. Wer es sich leisten wollte, konnte sich sogar – ich sah zweimal hin – seine Schamlippen verkleinern lassen! Echt jetzt? Es gab einen Button für Terminvereinbarungen, eine Telefonnummer, die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Was nicht existierte, war ein Foto des guten Herrn Doktors. Aber das interessierte mich im Augenblick ohnehin nur am Rande, war ich doch lediglich einen Anruf davon entfernt, ihn kennenzulernen. Ich klickte auf das entsprechende Icon und landete auf einer von sanfter Musik unterlegten Telefonschleife, die mir mit sonorer Stimme ins Ohr säuselte, man freue sich und wäre gleich für mich da. Ich fragte mich, ob Jelena dort als Sprechstundenhilfe arbeitete.

»Ordination Dr. Novotny, Guten Tag! Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die Stimme war weiblich, aber ich nahm nicht an, dass Jelena, trotz ihres österreichischen Vaters, akzentfreies Deutsch mit leichtem Wiener Einschlag sprach.

»Mein Name ist Spell, guten Tag. Ich rufe auf Empfehlung einer Freundin an und beabsichtige, eine sehr gute Kundin zu werden. Aber nur, wenn mir bei Ihnen alles zusagt und ich umgehend einen Termin bekomme. Am liebsten heute noch. Was können Sie für mich tun?« Ich hatte alle Arroganz, die ich zusammenkratzen konnte, in diese Sätze gelegt, ein in dieser Umgebung zweifelsohne gängiges Accessoire.

In der Tat schien die Sprechstundenhilfe solcherlei gewohnt zu sein. Routiniert bat sie mich, ein Momentchen zu warten. 30 Sekunden später hatte ich einen Termin für ein erstes Beratungsgespräch.

Gleich am nächsten Tag, 8 Uhr.

»Es wird nicht lange dauern und wir schieben Sie selbstverständlich gerne ein, Frau Spell. Wir freuen uns auf Sie!«

Geld hatte kein Mascherl. Die Residenz wollte finanziert sein. Dafür stand der Herr Doktor dann auch gerne etwas früher auf.

Ich konnte meiner Neugier widerstehen, gleich mehr herausfinden zu wollen. Morgen war früh genug.

Ein eleganter Lift mit modernster Technik im Hintergrund, aber dem Aussehen eines Originals brachte mich leise nach oben und öffnete sich mit einem dezenten Ping. Ich war noch immer beeindruckt vom mächtigen Eingangsportal und den wunderschön restaurierten Treppen, deshalb brauchte ich einen Augenblick, um zu erkennen, dass ich direkt in der Ordination gelandet war.

Blendend helles Licht fiel durch die riesigen bodentiefen Fenster, am Boden edelstes Parkett. Nach ein paar vorsichtigen Schritten kam ich an einen Empfangstresen aus Naturstein, der inmitten des endlos hohen Raumes stand. Links und rechts davon reckten sich weiße und lilafarbene Orchideen auf schmalen Steinsäulen. Eine Schiebetür auf die Terrasse war geöffnet. Dahinter glitzerten Wiens Dächer, inklusive Stephansdom. Atemberaubend. Sogar für mich, die ich schon einige Wiener Prachtwohnungen von innen gesehen hatte.

Wie war es möglich, dass ich noch nie von diesem offensichtlich extrem wohlhabenden Dr. Novotny gehört hatte? Gut, das Palais war von Grund auf renoviert worden und noch nicht lange am Markt, aber diese Preisklasse hatte mich schon rein beruflich zu interessieren.

Ich versuchte, mich einzukriegen und nicht völlig in die Knie zu gehen angesichts des ganzen Pomps. Vor mir lag eine heikle Aufgabe. Und vor mir saß der Inbegriff der Sprechstundenhilfe eines Schönheitschirurgen. Blond, schlank, faltenlos, mit dicken Augenbrauen, dunklen Reh-Augen, Stupsnäschen und dezent aufgespritzten Lippen. Die perfekte Visitenkarte ihres Chefs. Makellose Schönheit zum, wie ich annahm, Nulltarif. Jede potenzielle Patientin, die sich noch nicht sicher war, würde angesichts dieses Wunders der Schönheitschirurgie, ohne zu zögern, genau das verlangen.

Sie lächelte mich strahlend an. »Frau Spell, nicht wahr? Willkommen! Ich bin Agnes, Dr. Novotnys Assistentin. Der Herr Doktor ist in einer Sekunde für Sie da. Nehmen Sie bitte kurz Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Wasser? Oder gerne auch ein Gläschen Champagner?«

Champagner? In den Ordinationen meiner Ärzte standen Wasserspender mit Plastikbechern!

Ich war versucht, verneinte aber dankend, denn ich brauchte einen klaren Kopf. Langsam sank ich in eine herrliche hellbraune Sitzgarnitur und lehnte mich genüsslich zurück, während mir der Duft feinsten Rindsleders in die Nase stieg. Die Assistentin reichte mir ein ebenfalls ledernes Klemmbrett samt Fragebogen. Aufseufzend machte ich mich ans Werk, füllte die Spalten mit lauter Müll. Aber ich wollte in jedem Fall als Patientin gelten. Datenschutz. War praktisch, wenn jemand neugierige Fragen stellte, lebte die Branche doch von größtmöglicher Diskretion, nicht von der Krankenkasse. Außerdem ging es den Arzt nichts an, wer ich wirklich war.

Ich war gespannt auf ihn, aber es konnte nicht schaden, vor meinem Termin noch ein wenig die Sprechstundenhilfe auszuquetschen. Sie trug ein echtsilbernes Namensschild, auf dem ihr vollständiger Name stand: Agnes Bednarik. Weit und breit keine Jelena.

Just als ich mich anpirschen wollte, öffnete sich die hohe weiße Flügeltür zu meiner Linken. Heraus trat ein erstaunlich nichtssagender Mann von etwa Mitte 40, mit dunklen Haaren, grauen Augen und durchschnittlicher Statur. Fast war ich enttäuscht. So viel Langeweile und dieses Ambiente passten einfach nicht zusammen. Sogar den biederen Ärztekittel ersparte er mir nicht.

»Gnädige Frau, ich begrüße Sie! Ich bin Dr. Novotny. Bitte schön!« Seine Stimme klang hell und selbstbewusst, mit einer einladenden Geste bot er mich herein.

Brav folgte ich seiner Einladung und betrat den nächsten phänomenalen Raum, diesmal einen Erker, der vollkommen verglast, aber durch Jalousien abgedunkelt war. Statt an den Schreibtisch lotste mich der Arzt zu einer kleinen Sitzgruppe. Vintage, tippte ich, mit echten 50er-Jahre-Stühlen und einem dazu passenden Tischchen.

»Nun, wo drückt denn der Schuh?«, fragte er und schob ein nettes Lächeln nach.

»Den Füßen geht’s gut«, versuchte ich einen matten Scherz, »das Problem sitzt weiter oben. Ich deutete auf meine Stirn. Ich war jetzt Ende 30, natürlich hatte ich dort Falten. Stirnrunzeln gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

»Darf ich?« Ein angenehmer Männerduft gemischt mit Pfefferminzkaugummi stieg mir in die Nase, als er meine Stirn in Augenschein nahm. »Nun, ein wenig Botox in die Zornesfalte könnte nicht schaden, und auch oben in die Stirn. Ein, zwei Pikser rund um die Augen würden die winzigen Krähenfüße glattbügeln. Viel muss nicht gemacht werden, Sie sind eine sehr schöne Frau, aber es schadet nicht, schon in Ihrem Alter regelmäßig vorzubeugen.«

Natürlich hatte ich bereits über so etwas nachgedacht, doch heute war ich aus einem ganz anderen Grund hier. Es war Zeit, zur Sache zu kommen.

»Das klingt vielversprechend«, sagte ich daher. »Ich bin auf Empfehlung einer Dame hier, die ich kürzlich auf einer Veranstaltung kennengelernt habe und die Sie als den Besten empfahl. Wenn man sie sieht, weiß man, dass sie recht hat.« Das war mutig, denn ich hatte ja keine Ahnung, wie Jelena aussah. Marlena hatte deren Vater schlecht nach einem Bild fragen können und im Internet oder in den Sozialen Medien war nichts zu finden gewesen. »Jelena Jelinek. Sie wissen doch, wen ich meine?« Ich packte alle Unschuld dieser Welt in meine Frage.

Seine Brauen zogen sich eine winzige Nuance zusammen, was vieles bedeuten konnte. Eine Antwort ersparte er sich.

Also plapperte ich weiter. »Ich könnte mir gut vorstellen, das mit dem Botox zu machen. Wie würde es weitergehen?«

»Nun, wenn Sie möchten, können wir es sofort angehen. Oder Sie überlegen es sich noch und kommen ein andermal wieder.« Er klang, als ob er mich möglichst schnell wieder loswerden wollte. Ganz schlecht. Denn dann hätte ich mit der Aktion genau gar nichts erreicht. »Warum eigentlich nicht gleich?«, hörte ich mich flöten.

Hatte ich das gerade tatsächlich gesagt?

Ein leises Räuspern an der Tür ertönte. Agnes stand da, bewaffnet mit einer Kamera.

Der Arzt nickte routiniert und stand auf. »Wie Sie wünschen. Als Erstes würde ich gerne ein paar Fotos von Ihnen machen, damit wir die Entwicklung kontrollieren können. Danach könnten wir starten.«

»Botox to go?«, krächzte ich.

»Selbstverständlich. Es dauert nicht lange und man wird die Einstiche kaum bemerken.«

Ehe ich mich versah, wurde ich abgelichtet und auf einen bequemen Behandlungsstuhl verfrachtet. Und statt Jelenas Aufenthaltsort erfuhr ich, wie bizarr es war, wenn jemand eine Nadel mit einer der giftigsten Substanzen überhaupt in dein Gesicht spritzt. Mehrfach.

Wenigstens war die ganze Aufregung in der Tat nach ein paar Minuten vorüber.

Dr. Novotny lächelte zufrieden. »Wunderbar. In acht bis zehn Tagen wird sich die volle Wirkung entfalten, im wahrsten Sinn des Wortes!« Den Kellerwitz hatte er sicherlich schon Hunderte Male gebracht. »Wir sind fertig. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann, jederzeit!«

Das war mein Stichwort. »Oh ja, das können Sie ganz gewiss. Frau Jelinek hat mir von vielen Dingen erzählt, die ich ebenfalls noch gerne ausprobieren würde«, log ich, was das Zeug hielt, um meine letzte Chance zu nützen. »Ich möchte also eine sehr gute Kundin bei Ihnen werden, verehrter Herr Dr. Novotny. Allerdings ist mir Frau Jelineks Rat wichtig, deshalb hätte ich gerne ihre Kontaktdaten. Ich bin mir sicher, wir finden da eine Möglichkeit, nicht wahr?«

Er wand sich wie ein Aal. Was verband eine kleine tschechische Krankenschwester bloß mit diesem millionenschweren Faltenausbügel-Profi?

»Frau Spell!«, meldete sich Agnes zu Wort. Bis eben hatte sie still den Behandlungsraum in Ordnung gebracht. »Darf ich Sie nach draußen bitten, damit wir die Patientenkartei fertig anlegen können?«

Ich verstand. Agnes war offenbar eine ausgesprochen gute Sprechstundenhilfe. Sichtlich zwiegespalten verabschiedete sich Dr. Novotny. Ich hatte ihm viel Geld versprochen, aber er mochte mich nicht. Nun gut, ich fand ihn auch nicht gerade rattenscharf.

Agnes schloss die Tür hinter sich und setzte sich an das Empfangspult.

Ich stand ihr gegenüber, als sie mich mit ihrem – im Moment reichlich unterkühlten – Reh-Augen-Blick musterte, ein paar Sekunden verstreichen ließ und mich dann sehr direkt ansprach: »Reden wir Klartext, Frau Spell! Was wollen Sie denn wirklich von dieser Frau Jelinek? Ihre Räuberpistole von eben können Sie jemand anderem erzählen!«

Ich setzte alles auf eine Karte. »Also gut, Sie haben recht, Agnes. Es ist so: Ich bin Journalistin und suche Jelena Jelinek schon seit geraumer Zeit. Jemand gab mir den Tipp, es hier zu versuchen, bei einem gewissen Dr. Novotny. Ich muss unbedingt mit ihr sprechen. Es geht um ihre verstorbene Schwester Jana. Können Sie mir weiterhelfen?«

Agnes schwieg. Versuchte ungeniert, mich einzuschätzen. »Diese Information muss Ihnen sehr wichtig sein, wenn Sie dafür sogar Botoxspritzen in Kauf nehmen!«

Entdeckte ich da ein kleines Lächeln in ihren Mundwinkeln? Hatte sie mich von Anfang an durchschaut und es genossen, mich ein klein wenig leiden zu sehen? Wenn ich dafür weiterkam, dann von mir aus.

»So ist es! Wissen Sie, wo sie ist?«

Sie schürzte die Lippen.

Da dämmerte es mir. Der Arzt war die falsche Adresse gewesen. Agnes war die Verbindung zu Jelena!

»Vielleicht machen wir es so«, schlug ich vor, »Sie rufen Jelena an und erzählen ihr, dass ich, also Lilly Speltz, sie sehen möchte. Dann soll sie selber entscheiden, ob sie darauf eingeht.«

Insgeheim schüttelte ich den Kopf über meine Dummheit. Warum hatte ich vorhin bloß meine Eignung zum menschlichen Nadelkissen auf die Probe gestellt und war nicht gleich zur Sache gekommen? Wenn wirklich Jelena mir Janas Führerschein in die Handtasche geschmuggelt hatte, dann würde sie doch darauf brennen, mich zu treffen, wozu sonst der ganze Aufwand? Wobei – eine schlichte Telefonnummer neben dem Führerschein hätte die Sache deutlich vereinfacht und zum selben Ziel geführt.

Ohne mich aus den Augen zu lassen, griff Agnes nach ihrem Smartphone und drückte auf eine Kurzwahltaste. Sie hatte Jelena unter ihren Favoriten gespeichert? Interessant! Wie standen die beiden Frauen zueinander? Jelena war Anfang 30, Agnes wohl auch. Beide arbeiteten als Hilfskräfte im medizinischen Bereich. Hatten sie eine gemeinsame Vergangenheit? Nur zu gerne hätte ich Bescheid gewusst, aber vielleicht würde sich ja bald alles aufklären.

»Ich bin’s«, hörte ich. Danach folgten ein paar Worte in Maschinengewehr-Tschechisch, von denen ich lediglich meinen Namen verstand. Agnes sprach Jelenas Sprache perfekt? Noch ein Puzzleteilchen, das sich einfügte!

Mit einem Mal verwandelte sich Agnes’ Gesichtsausdruck von skeptisch zu ehrlich erstaunt. »Wirklich?«, fragte sie wieder auf Deutsch. Und dann: »Okay, mach ich.«

Sie legte auf.

Mit einem Seufzen riss sie ein Blatt von ihrem Notizblock, kritzelte etwas darauf. Stumm schob sie es herüber und fixierte mich. »Von mir haben Sie nichts gehört! Wir verstehen uns?«

Ich prägte mir alles genau ein. Von wegen Wohnung im Palais!

Nach ein paar Sekunden zog Agnes den Zettel wieder zu sich und zerriss ihn in winzige Schnipsel.

Am liebsten wäre ich sofort zu Jelenas richtiger Adresse gefahren, doch leider hatte ich zuvor noch etwas ganz anderes zu erledigen.

Wahljahr. Ende September würden wir zu den Urnen schreiten.

Das hieß, die Spitzenkandidaten trachteten danach, sich dem Volk lässig und wählbar zu präsentieren. Eine gute Gelegenheit, mehr aus ihnen herauszukitzeln als die üblichen Floskeln. Die öffentlich-rechtlichen Kollegen fuhren mit ihnen spazieren. Wir kochten. In unserer Serie »Wahlmenü« panschten wir in der Schauküche eines Werbekunden nach den Rezepten der Kandidaten Gerichte zusammen und unterhielten uns währenddessen mit ihnen über Gott und die Welt. Die simple Idee bescherte uns tolle Quoten. Mein Job war der Blick hinter die Kulissen.

An und für sich machte es Spaß, aber heute brauchte ich diese vielstündige Aufzeichnung überhaupt nicht. Unkonzentriert und lieblos spulte ich ab, was nötig war. Nicht einmal die Tatsache, dass ich den Kandidaten wählbar fand, half.

Die Dreharbeiten dauerten bis nach 23 Uhr. Als wir endlich fertig waren, beschloss ich hundemüde, bis morgen zu warten. Außerdem wollte ich Jelena ein wenig schmoren lassen. Sie wusste, dass ich sie kontaktieren würde, nicht aber, dass ich plante, unangemeldet bei ihr aufzukreuzen, um das Überraschungsmoment auf meiner Seite zu haben.

Gegen Mitternacht kroch ich ins Bett und schlief tatsächlich auch gleich ein. Mein letzter Gedanke galt dieser merkwürdigen Frau, die sich offenbar versteckt hielt.

Was ich morgen wohl alles zu hören bekommen würde?

Agnes hatte mir eine Adresse im 16. Bezirk aufgeschrieben, in der Roseggergasse in Ottakring. Dabei handelte es sich um ein Mehrparteienhaus aus den 1980er-Jahren, wie es sie in Wien zu Tausenden gab. Es war relativ schmal, wahrscheinlich eine aufgefüllte Baulücke, mit gesichtsloser, glatter Fassade und vielen Fenstern.

Auf ihrem stummen Zettel hatten eine Telefonnummer und diese Adresse gestanden. Mehr nicht. Jelena lebte offenbar inkognito hier.

Etwas verunsichert stand ich vor dem Eingang aus geriffeltem Sicherheitsglas und musterte die Klingelknöpfe mit den kleinen Schildchen daneben. Ich war aufgeregt, denn ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete und ob ich Jelena tatsächlich beichten würde, was ich ihrer Schwester angetan hatte. Es war kurz vor acht Uhr früh und ein Samstag, eine Zeit, zu der sie, wie ich annahm, jedenfalls zu Hause sein dürfte, egal was sie tagsüber so alles trieb.

In diesem Augenblick öffnete sich die Eingangstür und ein Junge mit einem Longboard unterm Arm erschien. Ohne mich zu beachten, schlurfte er mit verschlafenem Gesicht davon. Ehe die Tür wieder ins Schloss fallen konnte, war ich drin und landete in einem nichtssagenden Stiegenhaus samt Lift und jeder Menge Briefkästen. Da ich das richtige Stockwerk nicht kannte, musste ich jede Wohnungstür einzeln abklappern.

Pro Etage gab es jeweils drei. Ich inspizierte ein Namensschild nach dem anderen, aber keines passte. Schließlich gelangte ich unters Dach, wo ein Fenster in den Hinterhof wies und den Flur mit Tageslicht erhellte.

Zwei Türen.

Neben der einen eine leere Schuhablage und ein Schirmständer. Auf der Fußmatte mit der Aufschrift »Die Novaks« ein Fußball ohne Luft.

An der zweiten hing weder ein Schild noch irgendein anderes Indiz, das auf Bewohner hindeutete. Nichts als tristes Grau und sogar noch eine gute alte Klinke. Sicherheitsschlösser hatten es nicht hierhergeschafft, die Zeit schien seit den 1980ern stillzustehen. Türen, Geländer, Lift, alles war abgenutzt und nie erneuert worden.

Ich fasste mir ein Herz und presste den Daumen auf den roten Knopf rechts neben dem Museumsstück. Was konnte mir schon Schlimmeres passieren, als dass ich jemanden aufweckte und mich für die Unannehmlichkeit entschuldigen musste.

Doch es blieb still.

Ich kam mir dumm vor. Entweder war Jelena tatsächlich nicht zu Hause, oder sie stellte sich tot. Verständlich, ich an ihrer Stelle würde ebenfalls den Teufel tun, einer Fremden zu öffnen. Also doch ein Anruf. Ich suchte im Speicher nach der Nummer, wählte und drückte währenddessen probehalber die Klinke hinunter.

Die Tür gab nach.

Verwundert hielt ich inne. Stoppte das Telefonat. Lauschte.

Jetzt wurde eine Entscheidung fällig. Sollte ich mich lieber verziehen oder Hausfriedensbruch begehen, der mir im schlimmsten Fall als Einbruch ausgelegt werden konnte? Peinlich in jedem Fall.

Mein Bauchgefühl siegte.

Vorsichtig betrat ich den Flur. Mein erster Eindruck: penibelste Ordnung. »Hallo! Ist da jemand?«, durchbrach ich die Grabesstille und bemerkte einen Knoten in der Magengegend. Weitere Schritte, nochmaliges Rufen. Rechts von mir leere Garderobenhaken, darunter ein geschlossener Schuhschrank aus Holz. Blanke weiße Wände, auf dem Fußboden Parkett, eher strapazierfähig als teuer. Kein Teppich oder anderer Schnickschnack.

»Jelena!«, versuchte ich es erneut. »Sind Sie zu Hause?«

Die Wohnung war nicht besonders groß, es gab nur noch zwei weitere geschlossene Türen, einen offenen Küchen- und Wohnbereich mit blankgescheuerten Arbeitsflächen, ein helles Sofa aus Stoff, einen niedrigen Couchtisch und ein leeres Bücherboard. Alles Massenware. Kein Fernseher, keine Bilder, keine Pflanzen, keine Jelena.

Alles in mir drängte danach, von hier zu verschwinden, doch das konnte ich vergessen. Also ersparte ich mir sinnloses Rufen, machte weiter und landete in einem winzigen Badezimmer mit Dusche. Ebenso minimalistisch eingerichtet, ebenso sauber. Jelena schien ein kleiner Putzteufel zu sein.

Blieb nur noch die letzte Tür. Man musste kein Raketenwissenschaftler sein, um zu erahnen, dass sich dahinter das Schlafzimmer verbarg.

Ich stieß sie auf.

In den letzten Tagen hatte ich viel versucht, um Jelena Jelinek zu finden.

Nun hatte ich es geschafft.

Sie lag auf dem Boden, und ich brauchte sie nicht zu berühren, um zu wissen, dass sie tot war. Wohl noch nicht lange, aber zweifelsohne. Erst jetzt bemerkte ich den beißenden Geruch, der es noch nicht geschafft hatte, sich flächendeckend über alles zu legen.

Ich würgte.

Jelena war hübsch gewesen, ein zartes Persönchen. Vollkommen bekleidet lag sie seitlich und mit angezogenen Beinen auf dem Fußboden, wirkte unverletzt. Ein Wust dunkler Haare ergoss sich über ihr verkrampftes Gesicht, Blase und Darm hatten sich entleert und ihre grüne Freizeitkluft verschmutzt. Dazu bröckelige Flecken überall, Erbrochenes, aber bereits angetrocknet. Sie musste also schon vor etlichen Stunden gestorben sein – vielleicht genau zu der Zeit, als ich in der Schauküche halbgare Scherze gemacht hatte.

Ach Jelena, dachte ich mehr traurig denn entsetzt, wäre ich gestern noch gekommen, hätte ich vielleicht …

Wo war ich da bloß wieder hineingeraten?

Sorgsam schloss ich die Tür. Ich brauchte einen Plan, und den auszuhecken, war unmöglich mit einer Leiche vor Augen. Reiß dich zusammen, Lilly, rief ich mich zur Ordnung und suchte meinen Blick im Spiegel, während ich durchatmete. Noch mal würgte. Im Grunde war ja nur eines passiert: Ich hatte eine Tote entdeckt. Niemand wusste über die Hintergründe Bescheid. Nicht einmal Ferdl. Und selbst wenn die Polizei alles aufdeckte: Nachweisen konnte man mir nichts.

Weitere Minuten verstrichen, in denen ich verzweifelt versuchte, mich zu beruhigen, die Eisenklaue in der Kehle zu lockern. Schließlich hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Halbwegs zumindest.

Brennende Fragen drängten sich auf.

War es überhaupt noch wichtig, warum, wie ich annahm, Jelena mir den Führerschein ihrer Schwester untergejubelt hatte?

Ja.

Würde ich die Polizei rufen?

Selbstverständlich!

War Jelena eines natürlichen Todes gestorben?

Nie im Leben!

Das hing doch alles zusammen! Sie war vor ihrem Tod offensichtlich untergetaucht. Ich hatte nach ihr gesucht und herumgefragt. War es meine Schuld? Hatte ich Jelena mit meinen Nachforschungen unabsichtlich das Leben gekostet? Musste ich tatsächlich jetzt auch noch ihren Tod auf meine Kappe nehmen?

Schon wieder steckte ich in Schwierigkeiten, die mir wie Blei auf der Seele liegen und mich vor sich hertreiben würden. Doch es war zu spät. Aus dieser Gleichung konnte ich mich nicht mehr herausnehmen, viel zu tief war ich darin verstrickt, trug Verantwortung. Die Frage war nur: wie viel? Ob ich also wollte oder nicht: Ich musste und würde weitermachen.

Der erste Schritt: nicht wie üblich kneifen, sondern den Polizeinotruf wählen. Alle Routinen anlaufen lassen. Und parallel dazu mein eigenes Süppchen kochen.

Noch einmal betrat ich das Schlafzimmer, sah mich um, ohne jedoch irgendetwas Verdächtiges zu bemerken. Wie in Trance beugte ich mich zu Jelenas totem Körper hinab und berührte sanft ihr wirres braunes Haar. »Ich werde herausfinden, was passiert ist«, murmelte ich, »es tut mir so unglaublich leid. Bitte verzeih! Und diesmal werde ich es richtig machen.«

Mit zusammengebissenen Zähnen richtete ich mich wieder auf.

Drehte mich um.

Im Durchgang stand eine reglose Gestalt.

Schöner sterben in Wien

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