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3.4 Kirchliche Mitarbeit zwischen Privilegien und Restriktionen

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»Der Begriff Lebensführung hat gerade wieder Konjunktur (…). Es sieht so aus, als würde die Frage danach, wie man sein Leben unter den gegebenen Bedingungen führen kann und soll, viele umtreiben. «(…). Mit der ›Alltäglichen Lebensführung‹ liegt seit den späten 80er Jahren ein Konzept vor, das Gesellschaft aus dem Alltag heraus begreift und den Blick darauf richtet, wie Personen diesen Alltag unter den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen organisieren. Die Rahmenbedingungen verändern sich jedoch derzeit rasant: Der Druck in der Erwerbs- und Care-Arbeit macht krank. Teilhabechancen polarisieren sich, sozialstaatliche Institutionen werden umgebaut, neue Technologien bestimmen den Alltag«. (ALF 2018, S. 1)

So lautete der Einladungstext des Instituts für sozialwissenschaftliche Information und Forschung isifo zu einer Tagung 2018 mit dem Thema Transformation alltäglicher Lebensführung.

Bei den Lebensführungsfragen der großen Kirchen als Körperschaften des Öffentlichen Rechts ergeben sich dabei durch ihren Tendenzschutz und Tendenzbetrieb- Status daraus abgeleitete bestimmte Besonderheiten im Arbeitsrecht. So können die Kirchen ihren beruflich Tätigen Vorschriften in Fragen der Lebensführung machen und haben dem öffentlichen Dienst ähnliche, aber nicht gleiche Vergütungssysteme. Statt auf das Mitbestimmungsrecht von Gewerkschaften setzen sie in Fragen des Arbeitsrechts auf eigene Schieds- und Schlichtungsstellen, vor denen arbeitsrechtliche Fragen verhandelt werden, den so genannten Dritten Weg.

»Als erster Weg wird das Recht der Kirche bezeichnet, durch einseitige, gerichtlich nicht überprüfbare Regelungen den Inhalt von Arbeitsverhältnissen selber zu bestimmen. Da das BAG ein solches Recht nicht anerkannt hat und entsprechende Regelungen einer Rechtmäßigkeits- und Billigkeitskontrolle unterwirft, haben die Kirchen hiervon Abstand genommen. Sie haben jedoch auch nicht Tarifverträge abgeschlossen, d. h., den sogenannten zweiten Weg gewählt, sondern setzen stattdessen durch paritätische Kommissionen die Grundregeln ihrer Arbeitsverhältnisse selber fest. Den Abschluss von Tarifverträgen verweigern die Kirchen in aller Regel. Sie konnten dies durchsetzen, da es bis vor kurzem noch herrschende Meinung unter den Juristen war, dass Kirchenangestellte nicht streiken dürfen. Dies sollte so sein, weil es angeblich keinen Interessenkonflikt zwischen der Kirche und ihren Mitarbeitern gibt, da beide gemeinsam einen geistig-religiösen Auftrag erfüllen und einen Dienst an der kirchlichen Gemeinschaft leisten, hinter dem z. B. finanzielle Interessen der Arbeitnehmer auf einen angemessenen Lohn zurückstehen müssen (…). Im Individualarbeitsrecht werden den Kirchen weitgehende Rechte eingeräumt, in die Privatsphäre ihrer Mitarbeiter einzugreifen.« (Heinrich, 2012, S. 1)

Vor allem das Pfarrdienstgesetz, das 2011 innerhalb der EKD für die Landeskirchen vereinheitlicht wurde, und die jeweiligen Ausführungsgesetze enthalten Bestimmungen zur Lebensführung. Vorschriften zur Lebensführung gelten auch bei der katholischen Kirche für alle Angestellten, nicht nur für Geistliche. Lebensführungsordnungen betreffen im Übrigen auch die Lebensführung leitender Ehrenamtlicher, deren Regeln sind aber nicht justiziabel, da Ehrenamtliche keinen Arbeitsvertrag haben und bei »Fehlverhalten« nicht dienstrechtlich sanktioniert werden können. Hinter den gesetzlichen Bestimmungen stehen normative Vorstellungen davon, wie »richtiges« christliches Leben auszusehen habe, die sich wiederum von Kirche zu Kirche unterscheiden. Z.B. gilt in der Katholischen Kirche, dass die Ehe ein Sakrament ist und von daher als unauflöslich betrachtet wird, was dazu führt, dass Angestellte der Katholischen Kirche die Kündigung riskieren, wenn sie zum zweiten Mal heiraten wollen. Jüngste Gerichtsurteile kommen allerdings zu anderen Ergebnissen. Im Jahr 2010 hat der EuGH eingegriffen und die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt. Demnach sind nun in jedem Einzelfall die Interessen der Kirchen gegen die Rechte des Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens abzuwägen (v. 23.09.2010 1620/03). Das BAG hat daher in seiner letzten Entscheidung zur Kündigung eines katholischen Chefarztes wegen Wiederverheiratung (8.11.2011, 2 AZR 543/10) das Recht des Arztes auf ein Leben in geordneter Ehe betont und die Kündigung für rechtswidrig erklärt, »zumal die Kirche das unverheiratete Zusammenleben zwei Jahre lang toleriert hatte« (A.a.O.). Hier zeigt sich, dass die Stellung der Kirchen als Tendenzbetrieb längst nicht mehr unangefochten ist. In der Evangelischen Kirche gibt es darüber hinaus Vorschriften zur Residenzpflicht, Ehepartner von Geistlichen müssen vor der Hochzeit dem Bischof vorgestellt werden, Bestimmungen über die Religionszugehörigkeit bzw. Konfession des Ehepartners von Geistlichen, Bestimmungen über die Taufpflicht von Kindern aller kirchlichen Mitarbeitenden, auch der Ehrenamtlichen, Sanktionen wie Versetzungen bei moralischem Fehlverhalten von Pfarrer*innen wie bei ehelicher Untreue mit einem anderen verheirateten Partner, Bestimmungen zur sexuellen Orientierung, u. a.m., wobei die einzelnen Kirchen sehr verschieden strikt mit diesen Vorschriften umgehen.

Supervision als berufliche Beratung in den pastoralen Arbeitsfeldern hat nun häufig mit den damit zusammenhängenden Fragen zu tun. Denn die in der modernen Arbeitswelt geltende Trennung von Berufs- und Privatleben scheint für das pastorale Arbeitsfeld so nicht zu gelten. Da besonders die Rolle des*der Pfarrer*in weithin immer noch als Totalrolle verstanden wird (theologisch gesehen eine katholische Sichtweise, aber im evangelischen Bereich oft genauso wirksam), sind Fragen der Abgrenzung von Privat- und Berufsleben, der nicht beruflichen Freiräume, der Umgang und die Überforderung durch die hohen Ideale und die sich dadurch auftuenden Ambivalenzen (geistlich – weltlich, Gotteswort – Menschenwort, Beruf – Berufung, Schlüsselberuf – Teamplaying, Generalist*in – Spezialist*in, Privatheit – Öffentlichkeit), die mit der Vorstellung einer Totalrolle einhergehen, häufige Supervisionsthemen. »Die Pfarrrolle lässt sich soziologisch als Totalrolle beschreiben, in der die enge Verbindung von Amt und Person eine besondere Herausforderung an die Gestaltung des Pfarrberufs darstellt. Es gilt, die Pfarrrolle so zu gestalten, dass die Person nicht dahinter verschwindet, da gerade diese der Pfarrrolle zu ihrer besonderen Kontur verhilft.« (Winkelmann, 2019, S. 421)

Im katholischen Bereich spielt dann noch zusätzlich die besondere Hierarchie in dieses komplexe Feld mit hinein. So sind nicht-geweihte Pastoralreferent*innen oft in ähnlich totalen Rollen wie etwa die geweihten Priester und leiden wie diese unter Erschöpfungssymptomen. Im Unterschied zu den geweihten Amtsinhabern stehen erstere jedoch dienstlich und arbeitsrechtlich in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu letzteren und sie haben nicht die gleichen Privilegien.

Insgesamt hat die jüngere Generation in den Pfarrämtern inzwischen ein historisch neues Bestreben, Arbeit und private Existenz sorgfältiger zu unterscheiden. Es besteht »das Bedürfnis, das Familienleben abzuschirmen und die Freizeit zu schützen und gleichzeitig die besondere Qualität, die das gesamte Leben durch den Glauben erhält, in einer angemessenen Verbindlichkeit zu realisieren« (Lammer & Klessmann, 2007, S. 146).

Supervision im pastoralen Arbeitsfeld beschäftigt sich mit solchen Angemessenheits- und Realisationsfragen.

In beiden Kirchen gibt es derzeit auf allen Ebenen große strukturelle, demographisch bedingte Veränderungen. Beide Großkirchen stehen in einem lebendigen Prozess, um auf diese Veränderungen und die damit aufgeworfenen Fragen für ihre Beschäftigten zu antworten und zu reagieren. Die katholische Kirche macht sich dabei auf den sog. Synodalen Weg, (diskutiert den Zugang von Frauen zum Diakonat bis hin zur Abschaffung des Pflicht-Zölibats für Priester), die evangelische Kirche hat sog. Pfarrbild - bzw. Berufsbildprozesse ins Leben gerufen, um vor Ort in den Kirchenbezirken die Stimmen und Stimmungen ihrer haupt- und nebenamtlich Beschäftigten zu hören, zu sammeln, und gegebenenfalls ihre veralteten Dienstrechte der neuen Situation anzupassen.

Für die Arbeitswelt 4. 0 gilt: »Der virtuell zugängliche Raum ist grenzenlos. Jederzeit und überall können Nachrichten und Wissensbestände gesendet und empfangen, können Waren gehandelt werden. In der von globaler Konkurrenz beschleunigten Arbeitswelt wird just in time disponiert. Im individuellen Alltag legt das Smartphone nahe, zeitlich spontan zu handeln anstatt vorab zu planen. Zukunftsperspektiven schrumpfen. Die wachsende Menge fragmentierter Optionen zu gewichten, auszuwählen und entsprechend zu disponieren, erfordert schnellen Einsatz – also eine neuartige gegenwartsbezogene Rationalität« (Zeiher, 2018, S. 1). Der*die Pfarrer*in bzw. Diakon*in der Zukunft wird nicht nur technisch vernetzter und mobiler sein als alle seine*ihre Vorgänger*innen, sondern auch sozial kooperativer und kollegialer sein (müssen). Der Konzentrationsprozess macht auch vor der Kirche nicht halt. Landauf und landab werden Gemeinden zu Kooperationen zusammengelegt und bilden sich sog. Dienstgruppen. Hier kommt jetzt auch die Berufsgruppe der Gemeindediakon* innen noch einmal speziell ins Spiel, die in diesen Prozessen ebenfalls vermehrt der supervisorischen Begleitung bedarf, was auch so im Gemeindediakoninnen- und -diakonengesetz fest verankert wurde.

Dass hierbei in den Supervisionssitzungen mit diesen beiden Berufsgruppen dann auch – mehr oder weniger intensiv – generelle Lebensführungsfragen tangiert und angesprochen werden, versteht sich von selbst. Denn: Supervision im Raum der Kirche und wo immer sie sonst geschieht, vollzieht sich in einem Beziehungsdreieck von Person – Amt – Beruf und im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Dabei sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einem steten Wandel unterworfen. Hatte die Kirche als Institution und auch als Arbeitgeberin früher noch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, so ist heute von einem Autoritäts- und Bedeutungsverlust zu sprechen. Die Sonderstellung der Kirchen als Tendenzbetrieb im Arbeitsrecht, ebenso wie die Steuerbegünstigung als gemeinnützige Körperschaft öffentlichen Rechts wird gesellschaftlich und damit auch politisch mehr und mehr in Frage gestellt. Kirche wird damit zu einem Verein wie jeder andere. Und das bekommen v. a. die in der Kirche hauptamtlich Arbeitenden zu spüren:

Im sogenannten klassischen Pfarrer*innen-Beruf trug das Amt noch die Person, war der*die Pfarrer*in noch die Amtsperson, das konnte als Entlastung empfunden werden. Der Dienst des Pfarrers oder der Pfarrerin war also stark berufsförmig. Im modernen Pfarrer*innen-Beruf dagegen hat es eine Verschiebung vom Amt hin zur Person gegeben. D. h., weniger die Amtsautorität, die jemand hat, zählt als vielmehr die persönliche Authentizität. Das wird dann von den Amtsinhaber*innen als neu gewonnene Freiheit empfunden. Zugleich aber wächst mit dieser Freiheit ein enormer Druck, als Pfarrer*in ein*e gute*r Performer*in zu sein. Denn jetzt muss die Persönlichkeit mehr und mehr das Amt tragen. Aus pastoral-soziologischer Perspektive verlagert sich die Berufsförmigkeit des klassischen Dienstes hin zur Lebensförmigkeit des modernen Dienstes (Stichworte: Individualisierung, Subjektivierung, Selbstorganisation, unternehmerisches Selbst, Flexibilisierung, entgrenzte Arbeit, prekäre Freiheit, work-life-balance.) Damit bildet Kirche auch den gesamtgesellschaftlichen Kontext der Arbeitswelt ab. Und ähnlich wie in der Arbeitsgesellschaft sprechen die rasant gestiegenen Zahlen von Burnout-Erkrankungen unter der Berufsgruppe der Pfarrer*innen eine deutliche Sprache. Nach der jüngsten Studie zur Pfarrgesundheit »Stadt, Land, Frust?« ist in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) jede*r achte Pfarrer*in (13 %) von Burnout betroffen, 33 % gehören zur Risikogruppe (Stahl, Hanser & Herbst, 2020). Pfarrer*innen, das zeigen die gegenwärtigen Pfarrbildprozesse, wünschen sich wieder eine stärkere Berufsförmigkeit ihres Dienstes, in Form von abgegrenzten Tätigkeitsfeldern, klaren Arbeitszeiten, klaren Zuordnungen, ohne aber in den alten paternalistischen Schoß von »Mutter Amtskirche« wieder zurück zu wollen. Nach J. Koll spricht viel dafür, »dass mit dieser neuen Pfarrgeneration der Übergang von der Lebens- zur Berufsförmigkeit des Pfarrberufs vollständig vollzogen wird« (Deutsches Pfarrerblatt 2/2018, S. 64). Man darf also gespannt sein, wohin dieser Weg der sog. Y- Generation noch führt, wenn J. Böhm für die Zukunft prognostiziert: »Die Generation Y wird uns mehr verändern als wir sie verändern werden« (Böhm, 2015, S. 91–94). Supervisorisch gilt es jedenfalls, bei allen kirchlichen Mitarbeiter*innen (unabhängig davon, ob Y-, 68er-, Babyboomer- oder X-Generation) in diesem Beziehungsdreieck von Person – Amt – Beruf, den Fokus immer wieder auf die pastorale Berufsrolle zurück zu lenken und gleichzeitig zu markieren, dass diese nur einen Teil der Person ausmacht und keinesfalls mit dieser identisch ist. Und es ist weiter klar herauszuarbeiten, dass die Rolle, die der*die Pfarrer*in bzw. Gemeindediakon*in ausübt, nur eine von vielen in der Amtskirche darstellt, also eine kleine Schnittmenge zwischen Person und Institution darstellt, auch wenn bei Pfarrer*innen und Gemeindediakon*innen v. a. der 68er- und Babyboomer-Generation die eigene Biographie oft mit der Organisations-/Institutionsbiographie eng verbunden ist und darum Kürzungen von Stellen, Fusionen oder gar Kirchenschließungen nicht selten als persönliche Kränkungen empfunden werden. Umso mehr muss darum auch die Institution Kirche – die Kirche als Arbeitgeberin – immer wieder kritisch angeschaut werden, und zwar in arbeitsrechtlicher wie in theologischer Hinsicht.

In einem Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde als Wesen der Kirche die »Freiheit« herausgestellt. (»Kirche der Freiheit«, so der Titel des Impulspapiers von 2007). Dieses Wesen muss sich Kirche auch im 21. Jahrhundert bewahren: Kirche der Freiheit, Kirche der Spielräume, Kirche als zugleich geistlicher Ruhepol und Sand im Getriebe, nicht bloßes Spiegelbild einer Beschleunigungs-, Optimierungs- und Leistungsgesellschaft.

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