Читать книгу Die Hüter der vier Elemente - Das Land der Schatten - Dagmar Winter - Страница 4
BOOMER
ОглавлениеDer Elfenturm war einer der wenigen Bauwerke, die vom Feuer verschont geblieben waren. Alles andere glich einem Kriegsgebiet: Zerfallene Häuser, abgebrannte Scheunen, zerstörte Straßen. Überall lagen Steine und Geröll im Weg, welches Kinder und Frauen mühselig beiseiteschafften. Es war ein trauriger Anblick von der einst so prunkvollen und mächtigen Elfstadt.
Als Aaron, zusammen mit den anderen Hütern, den Elfenturm betrat, zog sich sein Magen zusammen und ein flaues Gefühl überkam ihn. Er hatte keine Ahnung, ob Istariel sie einzeln oder gemeinsam mit den anderen Königen oder den Weisen empfangen würde. Was sie wohl sagen würden? Aarons Magen zog sich noch stärker zusammen, als er sich die vorwurfsvollen Gesichter vorstellte. Mit hängenden Schultern und ein wenig langsamer als die anderen durchquerte er die Halle.
Wie selbstverständlich stellten sie sich auf das Blatt in der Mitte des Raumes, welches sich unmittelbar danach mit ihnen in die Höhe bewegte. Das alles, so faszinierend es immer noch war, konnte Aaron jedoch diesmal kein Lächeln entlocken. Im Gegenteil. Mit jedem Meter, den das Blatt sie weiter nach oben beförderte, hatte Aaron das Gefühl, dass die Luft immer dünner wurde und das Atmen ihm schwerer fiel. Als sie oben ankamen, stellte Aaron erleichtert fest, dass Istariel sie alleine empfing.
»Wie ich hörte«, begann der Elf sofort ohne große Begrüßung, »habt ihr die Nacht nicht allzu viel Schlaf bekommen. Deshalb habe ich für euch ein Frühstück herrichten lassen, das eure müden Geister wecken soll. Folgt mir!«
Mit einem letzten Blick, mit dem er die Hüter musternd in Augenschein nahm, wandte Istariel sich ab und lief zu der überdachten Außenterrasse, die einmal rings um die Spitze des Elfenturms führte. Dort erwartete die Hüter, wie auch damals nach ihrer Ankunft in Elfstadt, ein reichlich gedeckter Tisch mit frischem Obst, Brot, selbst gemachtem Honig und allem, was die Elfen aus den Erträgen des Waldes herstellen konnten.
»Der Blödmann Loén hat sich über uns lustig gemacht!«, zischte Moe zu Aaron hinüber, der sich gerade auf einen Stuhl gesetzt hatte.
»Ist doch egal!«, brummte Aaron mürrisch. Loén war gerade seine kleinste Sorge. Er versuchte viel mehr die Gemütslage von Istariel einzuordnen. War es noch sauer? Sein Blick hatte nicht so gewirkt. Eher ganz normal, sogar ein wenig zu freundlich für die sonst so emotionslos wirkenden Elfen.
Als Aaron sich an dem Brotkorb bedienen wollte, trat Istariel hinter ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Aaron versteifte sich sofort.
»Aaron, wir zwei müssen reden. Unter vier Augen!« Aarons Klos im Hals war augenblicklich wieder da. Tonlos nickte er und stand auf.
»Ich werde Aaron nur kurz entführen«, erklärte der Elf an die anderen gewandt »Danach werde ich euch allen von meiner Unterredung mit den Königen berichten.«
Aaron spürte die Augen seiner Freunde auf sich. Er erhaschte noch einen kurzen Blick auf Jules, die ihm besorgt hinterher blickte. Dann schob Istariel ihn hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Sie liefen schweigend ein paar Schritte durch den Saal. »Wir wissen nun, dass Kyra den Trank der Elfen gefälscht und ihn heimlich mit dem richtigen Trank, den Meister Omir bei sich trug, vertauscht hat. Sie hatte ihm aufgelauert, sein Vertrauen erschlichen und Mitleid erregt. So konnte Sie ihm, während er schlief, heimlich den Trank entwenden und ihn austauschen.«
Aaron riss erstaunt die Augenbrauen hoch. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Aber es ist doch gut, wenn wir das jetzt wissen. Dann gibt es keinen Verräter in unseren Reihen und Kyra ist tot. Sie stellt damit keine weitere Bedrohung für Nimoron dar«, sagte Aaron und klang dabei sichtlich erleichtert.
»Das stimmt, zumindest zum Teil«, begann der Elf ein wenig nachdenklicher »es ist gut, zu wissen, dass kein weiterer Verräter in unseren Reihen verweilt.« Er schwieg einen kurzen Moment, bevor er fortfuhr: »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Ellas die Person gewesen sein muss, die Kyra solch mächtige Zaubertranklehre beigebracht hat.«
Istariels Blick ruhte nun auf Aaron, als wollte er seine Reaktion auf diese Nachricht abwarten. Aaron schluckte schwer. Wie hatten die Elfen das herausfinden können? Das würde für Ellas schwere Folgen nach sich ziehen. Aaron bemühte sich um einen überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ellas böse Hintergedanken hegte, als er Kyra diese Dinge beibrachte. Kyra hat es scheinbar verstanden, ihr Umfeld zu manipulieren. Und wenn sie es sogar geschafft hat, Meister Omir zu täuschen, dann hatte der arme Ellas keine Chance.«
Istariel betrachtete Aaron eine Weile nachdenklich. Dann nickte er langsam.
»Ja so sehen wir das auch. Wir sind der Überzeugung, dass Ellas durch seine Gefangenschaft bereits genug gelitten hat. Dennoch werden wir diesen Fall den Weisen vortragen müssen. Das letzte Urteil sprechen sie. Aber selbst Prinzessin Lariana hat sich bereits zu Ellas Gunsten geäußert. Es sind schwere Zeiten, die uns alle zu grausamen Taten zwingen. Aber bei all dem Schmerz und Hass sollte man niemals vergessen, Milde walten zu lassen.«
Istariel legte Aaron erneut eine Hand auf die Schulter. »Ich bin froh, dass du es genauso siehst, wie wir, Aaron. Ich denke, derzeit haben wir wichtigere Sorgen und die Ältesten werden uns verzeihen, wenn wir diese Umstände erst zur Sprache bringen, wenn wir Kratos endlich besiegt haben. Weißt du, Aaron, diese schweren Zeiten fordern von uns allen Opfer. Von dem Einen fordern sie zudem körperliche, von dem Anderen geistige Höchstleistungen. Jeder von uns hat eine Rolle in dem großen Spiel des Lebens. Es ist ein Kreislauf, der Tod und Leben beinhaltet.«
Istariel wandte sich ab und ging zum Fenster hinüber. »Jeder von uns hat viele kleine Aufgaben im Leben, die es zu bewältigen gilt. Und manchmal heißt diese Aufgabe einfach nur akzeptieren, loslassen und verzeihen.«
Aaron blickte Istariel verwirrt an und trat neben ihn ans Fenster. »Ich verstehe nicht ganz, wovon ihr sprecht, Istariel! Geht es um meinen Fehler mit dem Buch? Wenn ja, dann kann ich nur beteuern, wie sehr ich mich für diese Sache schäme und wie…«
Der Elf wandte sich abrupt um und hielt Aaron mit beiden Händen an den Schultern fest. In seinen Augen lag etwas, dass Aaron im ersten Moment nicht sicher deuten konnte – Traurigkeit und noch etwas anderes. Etwas, das Aaron vor einigen Jahren schon einmal gesehen hatte. Bei den Leuten, die zu der Beerdigung von seinem Vater gekommen waren und die ihnen danach ihr Beileid ausgesprochen hatten. Mitgefühl!
Aaron wurde unruhig und wich ein paar Schritte nach hinten. »Istariel, woraus wollt ihr hinaus?«
Plötzlich hörte Aaron ein ihm wohl bekanntes Geräusch hinter sich.
»PLOPP!«
»Boomer! Was machst du denn hier?«
Aaron blickte sich verwirrt zu dem kleinen Waschbären um, der mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie Istariel jetzt auf ihn zukam.
»Boomer war dabei, als Meister Omir Kyra getötet hat«, begann Istariel vorsichtig zu erklären. »Er konnte alles mit anhören, was die beiden besprochen haben.
»Meister Omir hat Kyra kurz vor ihrem Tode verraten, wer ihr Vater war«, begann Boomer mit belegter Stimme zu berichten und wechselte kurz einen flüchtigen Blick mit Istariel, bevor er weitersprach. »Die Nachricht hat Kyra, die bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, ihre leiblichen Eltern seien tot, schwer getroffen. Zu oft war sie bereits enttäuscht worden. Getrieben von blankem Hass, hat sie Meister Omir daraufhin auch ein Geheimnis verraten. Ein Geheimnis, dass er mit ins Grab nehmen sollte.«
Boomer holte noch einmal tief Luft und blickte Aaron dann fest in die Augen.
»Aaron, Kyra hat deinen Vater getötet. Es war kein Unfall. Sie war es!«
Aaron stolperte rückwärts und konnte sich gerade noch so auffangen. Ihm rauschte das Blut in den Ohren. Was hatte Boomer da gerade gesagt? Kyra hatte seinen Vater ermordet? Aber wie war das möglich gewesen? Weit entfernt nahm Aaron wahr, wie ihn jemand an den Schultern fasste und auf ihn einredete. Aber er verstand die Worte nicht. Zu weit waren sie entfernt. Jemand zog ihn mit sich und setzte ihn schließlich auf einen Stuhl. Aaron spürte etwas Kaltes an seinem Gesicht: Eine Hand, die ihn liebevoll streichelte. Jetzt registrierte er auch ein Gesicht, direkt vor seinem. Es war Jules, die ihn besorgt ansah.
»Aaron ist alles ok? Was ist passiert?«
Aaron hörte, wie jemand mit Jules sprach und sie sich kurz darauf erhob und mit den Hütern und Istariel den Raum verließ. Boomer kletterte an ihm hoch, in einer Pfote eine Flasche Endorphia Fortuna.
Er hielt es ihm entgegen.
»Trink, Aaron, nach so einem Schock wird dir der Glücksklee auch ohne elementaren Angriff helfen!«
Aaron setzte wie in Trance das Fläschchen an seine Lippen und trank ein paar Schlucke. Beinahe zeitgleich spürte er, wie er seine Umgebung wieder wahrnahm. Er blickte an sich herunter. Boomer saß auf seinem Schoß und blickte ihn mitfühlend an
Aaron rieb sich mit seinen Händen über sein Gesicht und bemerkte erst jetzt, wie ihm die Tränen die Wange herabflossen.
»Es tut mir so leid!«, sagte Boomer und legte ihm eine Pfote auf den Arm.
»Ich verstehe das alles nicht« sprach Aaron mit kratziger Stimme. »Natürlich hat mein Vater sie im Stich gelassen, was sicherlich eine furchtbare Verletzung für sie gewesen sein muss. Aber deswegen bringt man doch niemanden um.«
»Wir vermuten, dass sie bereits einige Abweisungen und schlimme Erfahrungen im Leben erlitten hatte und sie die Verletzung durch deinen Vater einfach nicht verkraftet hat. Das ist für eine gesunde Seele natürlich kein Grund, jemanden zu töten. Aber wir bezweifeln, dass sie nach so vielen schlechten Erfahrungen noch fähig war, rational zu entscheiden. Sie ist, genau wie Kratos, ihr Vater, vom Hass zerfressen.«
Diese Information, machte alles anders!
»Aber, wie hat sie das gemacht?«
»Genaues wissen wir nicht. Alle, die dazu etwas sagen könnten, weilen leider nicht mehr unter uns.«
Plötzlich fielen Aaron seine Träume wieder ein. »Ich habe es gesehen!«, gab er tonlos von sich, noch immer in Gedanken.
»Wie bitte?«, Boomer sah Aaron schockiert an.
»Ich habe diese Träume, in denen ich viele Dinge über Kyra gesehen habe. Unter anderen habe ich dort auch von der Höhle erfahren. So konnten wir den Luftstein finden. Und genauso habe ich immer wieder von dem Tag des Todes meines Vaters geträumt. Ich habe gesehen, wie er ertrinkt und wie Kyras Gesicht über der Wasseroberfläche erscheint. Sie hat immer wieder gefragt, warum mein Vater ihr das angetan habe. Währenddessen hat sie ihm beim Ertrinken zugeschaut.
Boomer riss die Augen auf.
»Hast du Istariel schon von diesen Träumen erzählt? «
Aaron schüttelte nur den Kopf.
»Ich wusste ja nicht, was sie zu bedeuten haben. Außerdem wollte ich kein Misstrauen bei Istariel wecken. Schließlich bestand eine Beziehung zwischen Kyra und mir!«
»Du sagst „bestand“ – das bedeutet, seit ihrem Tod, hattest du diese Träume nicht mehr?«
Aaron schüttelte erneut den Kopf.
»Merkwürdig!« Boomer rieb sich mit der Pfote an der Nase. Dann krabbelte er von Aarons Schoß auf den Tisch und befüllte einen Teller mit reichlich Obst, Brot und Butter, wobei ein paar Trauben dabei in seinem eigenen Mund landeten. Dann schob er den überfüllten Teller mit der Nase zu Aaron herüber.
»Hier, iss etwas, das wird dir gut tun. Istariel setzt gerade die anderen in Kenntnis. Und danach müssen wir ihm unbedingt von deinen Träumen berichten!«
Aaron nickte und betrachtete den Teller vor sich. Eigentlich hätte er niemals etwas essen können nach einer solch furchtbaren Nachricht. Aber dank Endorphia Fortuna, war die tiefe Traurigkeit in ihm einer gewissen Neutralität gewichen. Aaron war in diesem Moment dankbar darüber. Er hatte keine Zeit durchzuhängen. Nicht jetzt. Sein Vater war tot, daran ließ sich nichts mehr ändern. Aber jetzt lag es an ihm dafür zu sorgen, dass dieser Tod nicht ungestraft blieb. Er würde Kratos vernichten. Kratos, der Kyra gezeugt und verlassen hatte. Der diesen Menschen erschaffen hatte, der dann später seinen Vater ermordet hatte: Kyra, die sein Leben und das seiner Familie für immer zerstört hatte.
Mit diesem Vorsatz langte Aaron beherzt zu und schob sich ein großes Stück Brot in den Mund.