Читать книгу Shadow House - Dan Poblocki - Страница 10
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Oberhalb der Biegung ertönte ein so lauter Schrei, dass Marcus Geller um ein Haar sein Gepäck fallen ließ. Im nächsten Moment brach der Schrei abrupt ab, und das machte ihn noch nervöser. Wer hatte da geschrien? Das Mädchen, das vor ihm den Bahnhof verlassen hatte? War ihr etwas zugestoßen?
Hastig legte Marcus sein Gepäck am Straßenrand ab und sprintete los.
Als er um die Biegung rannte, sah er das Mädchen vom Bahnhof, das mitten auf der Straße lag, ohne sich zu rühren.
»Hey!«, rief er, während er auf sie zurannte. »Was ist mit dir?«
Er kniete sich neben sie und merkte, dass er keine Ahnung hatte, was er tun sollte. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Arme seitlich ausgebreitet, die Knie angezogen und den Kopf von ihm abgewandt. »Bitte, sei nicht tot«, flüsterte er und hielt eine Hand vor ihre Nase. Warmer Atem kitzelte seine Haut, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Er wusste, er musste sie von der Straße wegbekommen – jeden Moment konnte ein Auto um die Ecke biegen. Ratlos griff er nach ihrer Hand und hoffte, dass sie reagieren würde.
Und tatsächlich: Ihre Augenlider begannen zu flattern, und dann schlug sie die Augen auf. Als sie ihn sah, verwandelte sich ihre anfängliche Verwirrung rasch in nackte Angst. Sie riss die Augen auf und schrie erneut.
Hastig fuhren sie auseinander und starrten sich dann so erschrocken an, als wollten sie einander an die Gurgel springen.
Nachdem der erste Schreck verflogen war, fiel Marcus wieder ein, dass er derjenige war, der zu ihr gelaufen war. Er holte langsam und tief Luft und breitete die Hände aus, um ihr zu zeigen, dass er nichts Böses wollte. »Alles gut«, sagte er. »Ich wollte dir nur helfen.«
Als er sich aufrichtete, griff das Mädchen nach der pinkfarbenen Umhängetasche, die am Straßenrand lag, und drückte sie an sich, als hätte sie Angst, dass er sie ihr klauen wollte. Anschließend klaubte sie ihren kleinen schwarzen Schminkspiegel von der Straße. Sie hielt ihn einen Augenblick lang fest, dann holte sie aus und schleuderte ihn so weit weg, wie sie konnte.
Der kleine Spiegel hüpfte über die Straße wie ein Stein über Wasser, bevor er in einem dichten Gestrüpp verschwand. Mit einem Seufzer der Erleichterung wischte sie sich mit dem Handrücken über die Nase, sah zu Marcus hoch und schüttelte den Kopf.
Marcus hatte das Gefühl, es mit einem Mädchen zu tun zu haben, das unter Wölfen aufgewachsen war.
»Ich bin Marcus«, sagte er langsam und deutlich, für den Fall, dass sie ihn nicht verstehen konnte. »Ich war ein Stück weiter unten auf der Straße, als ich dich schreien hörte. Und als ich hergelaufen bin, sah ich dich hier liegen.«
Das Mädchen blinzelte und blickte sich um. Es wirkte fast, als würde sie außer mit ihm mit noch jemandem rechnen, der sich eventuell im Gestrüpp versteckte.
»Tut mir leid«, fuhr er fort, als er merkte, dass sie nicht vorhatte, ihm zu antworten. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
»Du warst es nicht, der mir Angst gemacht hat«, erwiderte das Mädchen, ohne den Blick von den Bäumen abzuwenden.
Marcus bekam eine Gänsehaut. Seine Mutter hatte ihn gewarnt, dass er in Larkspur die unterschiedlichsten Leute treffen würde, doch dieses Mädchen war eindeutig neben der Spur. Aber gut, das waren viele musikalische Wunderkinder, deshalb sollte er eigentlich nicht überrascht sein. Am liebsten hätte er sie gefragt: Wenn nicht ich dir Angst gemacht habe, wer dann? Allerdings wusste er nicht, wie sie darauf reagieren würde, deswegen sagte er bloß: »Komm, wir müssen von der Straße runter. Danach kannst du mir ja vielleicht erzählen, was passiert ist.«
Jetzt sah sie ihn zum ersten Mal richtig an. Er konnte in ihren Augen lesen, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was passiert war. Schließlich stand sie auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung, bevor sie zu dem Kiesweg ging, der von der Straße abzweigte und in den Wald führte. Erst da bemerkte auch Marcus die Mauer und das ramponierte Eingangstor, das etliche Meter von der Straße entfernt stand und in dessen Pfeiler das Wort »Larkspur« eingraviert war.
»Oh!«, sagte er überrascht. »Wir sind da. Wir haben es geschafft.«
Das Mädchen warf ihm einen schiefen Blick zu. »Was meinst du damit?«, fragte sie.
»Na, wir sind in Larkspur«, erwiderte er und wurde ein kleines bisschen rot. »Entschuldige, aber wolltest du da nicht auch hin?«
»Doch«, antwortete sie unsicher.
Einen Moment lang betrachtete Marcus das verfallene Eingangstor und den dunklen Tunnel aus Bäumen, der in den Wald führte. Von irgendwo ganz in der Nähe trug der Wind leise, melancholische Klaviermusik an seine Ohren. Es war dieselbe Melodie, die der geheimnisvolle Musiker hinter der Wand gespielt hatte, nachdem Marcus seine Einladung nach Larkspur erhalten hatte.
Das Mädchen schien die Melodie nicht zu hören. Damit hatte er auch gar nicht gerechnet. Er war immer der Einzige.
»Nicht ganz das, was ich erwartet habe«, sagte er. »Du?«
»Was meinst du?«
»Na, hast du das erwartet?«
Das Mädchen war sichtlich verwirrt. »Ich – ich weiß nicht«, stammelte sie schließlich. »Wie heißt du noch mal?«
»Marcus Geller«, sagte er langsam. Vielleicht hatte sie sich beim Fallen ja den Kopf angeschlagen. Schwer.
»Und warum bist du hier?«
»Na ja, ich habe eine Einladung bekommen. Du nicht?« Sie gab ihm keine Antwort. Vor Nervosität redete er weiter. »Ich spiele hauptsächlich Cello, aber ich experimentiere auch mit anderen Instrumenten. Klavier, Querflöte, Mundharmonika. Mundharmonikaspielen macht echt Spaß.« Er griff in seine Gesäßtasche und zog ein kleines, glänzendes Instrument heraus, das er vor seiner Abreise in Ohio dort verstaut hatte. Er hielt es an die Lippen und spielte ein kurzes, jazziges Riff. »Was spielst du?«, erkundigte er sich.
»Spielen?«
»Ja, welches Instrument?«
»Ich spiele kein Instrument.«
»Ah, dann singst du also. Cool! Du siehst aus, als hättest du eine schöne Stimme.«
Die Wangen des Mädchens färbten sich so pink wie ihre Tasche. »Ach ja?« Ihre Stimme klang plötzlich ganz weich.
»Absolut. Ich merke so etwas. Hör mal, ich hab meine ganzen Sachen unten liegen lassen, als ich deinen Schrei … wie auch immer. Macht es dir etwas aus, kurz zu warten? Dann können wir das restliche Stück zusammen gehen.« Und du kannst mir auch erzählen, wieso du auf der Straße gelegen hast. »Es ist bestimmt gleich am Ende des Weges, oder?«
Das Mädchen warf einen Blick hinter sich, in Richtung des Waldes. Mit zusammengepressten Lippen drehte sie sich dann wieder zu ihm und nickte.
»Ist es okay, wenn ich dich kurz allein lasse?«, fragte Marcus.
Sie straffte die Schultern und strich sich eine Haarsträhne hinter die Ohren.
Das deutete er als ein Ja.
Er lief los, um sein Gepäck zu holen. Nach wenigen Schritten hörte er sie rufen. Er drehte sich um und sah, dass sie ihm nachblickte. Offenbar hatte sie ihm etwas zugerufen, das er jedoch nicht verstanden hatte.
»Poppy«, wiederholte das Mädchen. »Ich heiße Poppy Caldwell.«
Wieder ertönte die Klaviermelodie, doch sie hatte sich verändert, sie klang fröhlicher – nicht direkt glücklich, aber definitiv nicht mehr so traurig wie vorhin. Die Larkspur-Melodie, dachte er spontan, eine Melodie, die zu diesem Ort gehörte. Sobald er mit Poppy in der neuen Schule war, würde er ein Klavier suchen und ihr die Melodie vorspielen.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Poppy Caldwell«, rief er lächelnd.
»Und danke«, sagte sie. »Für deine Hilfe vorhin.«
Er salutierte, woraufhin sie überrascht auflachte. Okay, vielleicht war sie doch nicht total neben der Spur.
Marcus war noch nie länger als ein Wochenende von zu Hause weg gewesen, und jetzt war er ganz allein den weiten Weg bis fast nach New York City gereist, weil er ein Stipendium für die angesehene Larkspur-Akademie für Musik und darstellende Künste bekommen hatte. Ein Jahr lang würde er mit einer Schar talentierter Schüler, die voll auf seiner Wellenlänge lagen, Musik verschlingen, atmen und leben, ohne dass ihm seine Mutter oder seine Geschwister in die Quere kamen. Er konnte sein Glück noch immer kaum fassen.
Vielleicht sind an der Akademie Leute, die die Welt auf dieselbe Weise wahrnehmen wie ich, dachte er, als er bei seiner Reisetasche und seinem Cello am Straßenrand ankam. Vielleicht lerne ich Menschen kennen, die bei Namen wie Chet Baker, Dave Brubeck und Nina Simone genauso ausflippen wie ich …
Als er zurückkam, stand Poppy noch an derselben Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte: an dem Kiesweg, der von der Straße abzweigte und zu dem düsteren Durchgang in der Steinmauer führte. Sie wirkte beunruhigt.
»Bereit?«, fragte er. Poppy nickte. Zusammen marschierten sie los.
»Und?«, erkundigte er sich vorsichtig. »Willst du mir jetzt erzählen, was vorhin passiert ist?«
Poppy biss sich auf die Lippen. Dann entgegnete sie: »Kannst du mir zuerst erzählen, wie du zu der Einladung nach Larkspur gekommen bist?«
»Na, vermutlich genau wie du.«
»Das ist es ja«, sagte sie, während sie durch das verbogene Eingangstor in den dunklen Tunnel zwischen den Bäumen traten. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es bei dir anders war.«