Читать книгу Shadow House - Dan Poblocki - Страница 9

Оглавление

Poppy war vom Bahnhof Greencliffe aus schon fast 15 Minuten lang den Hügel hinaufmarschiert, als sie merkte, dass jemand ihr folgte. Über ihr raschelte das Laub der Bäume, deren Äste leise knarzend im Wind schwankten, und überall um sie herum zwitscherten die Vögel. Trotzdem konnte sie Schritte hinter sich hören. Sie blieb stehen, drehte sich um und stellte fest, dass sie einen guten Ausblick auf die Strecke hatte, die sie gerade erst zurückgelegt hatte – eine von grünen Bäumen gesäumte, gewundene Landstraße. In einiger Entfernung konnte sie das glitzernde Wasser des Hudson River sehen, der sich wie ein breites, mit Juwelen besetztes Band durch die Landschaft zog.

Poppy erstarrte, als sie am Fuß des Hügels eine Gestalt wahrnahm. Einzelheiten konnte sie nicht ausmachen, sie sah nur, dass es eine kleine Person war, vermutlich sogar kleiner als sie selbst. Es war ein Junge mit einer schwarzen Jacke und einer Kakihose, der einen schweren Gegenstand auf dem Rücken trug – was das wohl sein mochte? Poppy konnte es nicht erkennen.

Obwohl es jetzt, Ende August, noch schön warm war und die Sonne schien, bekam Poppy plötzlich eine Gänsehaut. Sie rückte den Riemen ihrer abgewetzten pinkfarbenen Umhängetasche zurecht und setzte ihren Fußmarsch hügelaufwärts fort. Dabei ging sie unwillkürlich etwas schneller, obwohl sie sich nicht einmal sicher war, ob sie überhaupt auf dem richtigen Weg war.

In der Umhängetasche befanden sich ihre wenigen Besitztümer: eine Zahnbürste, ein kleines Handtuch, ein paar Socken und Unterwäsche sowie das ausgehöhlte Exemplar von Der König von Narnia, in dem sie etliche der vielen kleinen Sachen aufbewahrte, die ihr das Mädchen unters Kopfkissen gelegt hatte. Obwohl es ihr fast das Herz brach, hatte sie all ihre anderen Bücher in Thursday’s Hope zurücklassen müssen. Aber Großtante Delphinia hatte ja versprochen, dass sie in Larkspur alles bekommen würde, was sie brauchte oder sich wünschte. Neues Heim, neue Schule, neue Familie. Während Poppy versucht hatte, sich das Geld für ihre Zugfahrt nach Greencliffe zusammenzuschnorren, hatte sie sich mehr als einmal gefragt, ob dazu auch neue Freunde gehören würden.

An dem Morgen, nachdem sie in ihrer Akte den Brief entdeckt hatte, stand sie vor dem Spiegel im Badezimmer und bürstete sich die Haare, als das Mädchen wieder auftauchte. Allerdings sah es nicht mehr wie das Mädchen aus, an das Poppy sich längst gewöhnt hatte. Das Gesicht war nur ein verschwommener Fleck, und es schien, als würde es ununterbrochen hektisch den Kopf schütteln. Poppy glaubte sogar, das Mädchen schreien zu hören, als würde es nach all der Zeit endlich versuchen zu sprechen.

Das Mädchen wollte ihr etwas sagen, das begriff Poppy sofort. Nur was?

Bevor Poppy darüber nachdenken konnte, war der Spiegel schwarz geworden, als hätte sich der Raum auf der anderen Seite – der gespiegelte Raum, in dem sich das Mädchen befand – plötzlich mit dichtem Qualm gefüllt. Poppy schnappte nach Luft.

Gleich darauf war der Spiegel wieder klar.

Das Mädchen war fort und hatte das Dunkel mit sich genommen.

Danach war es zwar noch einige Male im Spiegel aufgetaucht, hatte dabei aber immer so heftig den Kopf geschüttelt, dass sein Gesicht nicht zu erkennen gewesen war.

Das war ein derart verstörender Anblick, dass Poppy seither einen Bogen um jeden Spiegel machte.

Als Poppy hinter sich eilige Schritte hörte, die eindeutig näher kamen, riet ihr ihre innere Stimme wegzulaufen. Doch gleich beim ersten Schritt stolperte sie über ihren Schnürsenkel und fiel hin. Sie rollte ein Stück weit über den Asphalt und kam auf dem Rücken zu liegen. Schnell riss sie die Arme zur Verteidigung hoch und sah sich nach ihrem Verfolger um.

Zu ihrer Überraschung war niemand da. Über ihr wogten die Äste der Bäume leise im Wind, und Poppy blinzelte in die Sonnenstrahlen, die durch die großen, grünen Blätter fielen.

In einiger Entfernung, in einer der Biegungen unterhalb von ihr, glaubte Poppy die gemächlichen Schritte des Jungen zu hören, den sie zuvor gesehen hatte.

Aber was war das eben gewesen? Wer war ihr so dicht auf den Fersen gewesen? War die betreffende Person weggelaufen, in den Wald? Stand sie jetzt irgendwo zwischen den Bäumen und beobachtete sie?

Verrückte Poppy, hörte sie die Mädchen von Thursday’s Hope in ihrem Kopf höhnen. Verrückte Poppy, verrüüüückte Poppyyy.

Um sich wieder zu fassen, stand sie auf und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. In dem dichten Buschwerk, nur wenige Meter von ihr entfernt, entdeckte sie eine hohe Steinmauer, die sie vorhin wegen der vielen Kletterpflanzen und der dünnen, jungen Bäumchen am Straßenrand gar nicht bemerkt hatte. War das die Grenze zu Großtante Delphinias Anwesen?

Etwa zehn Meter weiter oben entdeckte Poppy einen breiten Kiesweg, der von der Straße abzweigte und in den Wald führte. An der Stelle, wo der Kiesweg auf die Mauer traf, befand sich ein Loch, das wie ein fehlender Zahn im Grinsen eines Totenschädels aussah. Zwei Pfeiler ragten aus dem Waldboden und bildeten eine Art Eingangspforte. Ein dekorativer Eisenbogen verband diese beiden Pfeiler am oberen Ende, doch die verrosteten Schnörkel waren zerbrochen und verbogen, als hätte sie jemand mit übernatürlichen Kräften auseinandergedrückt. Dort, wo sich bei einem normalen Tor die hübsch verzierten Türflügel befunden hätten, klaffte eine Lücke. Dahinter führte der Weg in den Wald. Durch die dicht stehenden Bäume wirkte es wie ein Tunnel, der zum Ende hin immer dunkler wurde.

Bei dem Anblick wurde Poppys Mund ganz trocken. Sie ging ein paar Schritte weiter, hielt vor der Abzweigung jedoch wieder an. Da entdeckte sie die Buchstaben, die in die Pfeiler eingraviert waren: Larkspur.

Sie war am Ziel. Ihr neues Zuhause!

Doch was hatte es mit dem hohen Gras und dem vielen Unkraut auf sich, das hier büschelweise zu ihren Füßen wucherte? Dieser Durchgang sah aus, als hätte ihn seit Jahrzehnten kein Mensch mehr benutzt. Poppy wusste nicht, was sie davon halten sollte.

Verrückte Poppy …

Entnervt schloss sie für einen Moment die Augen. Aufhören!

Vielleicht gab es ja noch einen zweiten Eingang, ein Stück weiter oben – den Zugang, den Großtante Delphinia öfter benutzte.

Während Poppy vor sich hingrübelte, entdeckte sie noch etwas, das direkt unter dem Namen des Anwesens in den beiden Pfeilern eingeritzt war – ein vertrautes Symbol, das sie aus dem Gedächtnis hätte zeichnen können. Die Umrisse eines Vogels. Er sah genauso aus wie der Drahtvogel, den das Mädchen im Spiegel vor vielen Jahren aus ihrer Schürzentasche gezogen hatte, das erste der vielen Geschenke, die Poppy am nächsten Morgen unter ihrem Kissen gefunden hatte.

Plötzlich knirschten hinter ihr Schritte auf dem Kies.

Poppy erstarrte. Vorsichtig warf sie einen Blick über ihre Schulter und sah, dass die Straße leer war. Wieso hörte sie dann so viele Schritte um sich herum?

»Hallo?«, wisperte sie. Hier war doch niemand! Oder jedenfalls niemand, den sie sehen konnte.

Gut, es gab eine Möglichkeit, das zu ändern, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte. Doch es musste sein …

Mit zitternden Fingern holte sie den kleinen Spiegel aus ihrer Umhängetasche und klappte ihn auf. Während sie den Spiegel langsam auf Augenhöhe hob, wusste sie bereits, wen sie gleich erblicken würde.

Trotzdem zuckte sie erschrocken zusammen.

In dem kleinen Spiegel stand das Mädchen nur wenige Schritte hinter ihr. Es zitterte am ganzen Körper. Die Zuckungen schüttelten es regelrecht durch, und es flackerte, wie wenn man einen Videofilm im Schnelldurchlauf vorspulte.

Bevor Poppy reagieren konnte, machte das Mädchen einen Satz und stürzte sich auf sie.

Eisige Kälte umfing Poppy, als das Mädchen beide Arme um ihren Oberkörper schlang und fest zudrückte. Sie wurde rückwärts auf die Straße gerissen, weg von dem ramponierten Eingangstor. Als sie auf dem Boden aufschlug, stieß sie einen Schrei so voller Entsetzen aus, dass sämtliche Singvögel aus den Baumkronen aufflogen. Ihre schrillen Rufe klangen wie Echos auf Poppys Schrei. Die Vögel stoben davon, während Poppy die Luft ausging und der Himmel vor ihren Augen schwarz wurde.

Shadow House

Подняться наверх