Читать книгу Shadow House - Dan Poblocki - Страница 5
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Immer wenn Poppy Caldwell in einen Spiegel schaute, sah sie ein anderes Mädchen hinter sich stehen.
Es gab viele andere Mädchen in Thursday’s Hope, dem Heim, in dem Poppy lebte, seit sie fünf Jahre alt war. Doch das Mädchen, das sie sah, war ganz anders als die Mädchen aus dem Heim.
Poppy war sich ziemlich sicher, dass es tot war.
Das Mädchen im Spiegel lächelte sie immer an. Es hatte freundliche braune Augen und lange dunkle Haare. Und über einem dunklen Kleid trug es immer dieselbe weiße Schürze mit großen Taschen, die in Hüfthöhe aufklafften und mit Geheimnissen gefüllt zu sein schienen.
Poppy wusste, dass es merkwürdig war, dieses Mädchen zu sehen. War es ein Geist? Ein Engel?
Einmal hatte Poppy allen Mut zusammengenommen und ihre Zimmergenossin Ashley gefragt, ob es normal sei, im Spiegel ein anderes Mädchen hinter sich zu sehen – ein Mädchen, das nicht sprechen konnte und im Übrigen gar nicht da war, wenn man sich umdrehte. Ashley hatte so schallend gelacht, dass Poppy schnell mitgekichert und so getan hatte, als sei es ein Scherz gewesen.
Sie hatte gehofft, Ashley würde es für sich behalten. Doch Ashley war ein Plappermaul, das kein Geheimnis für sich behalten konnte.
Die Sache mit Poppys »Visionen« machte augenblicklich im ganzen Schlafsaal die Runde und brachte Poppy einen unschönen Spitznamen ein: Verrückte Poppy. Anfangs versuchte sie, sich zu verteidigen und die anderen davon zu überzeugen, dass es das Mädchen wirklich gab. Aber das machte es nur noch schlimmer.
Mit der Zeit begann Poppy selbst zu glauben, dass sie verrückt war.
Doch an Tagen, an denen es ihr so richtig schlecht ging, weil die anderen Mädchen in Thursday’s Hope wieder einmal besonders fies zu ihr waren, war das Mädchen Poppys einziger Trost – eine Freundin, dank der sie sich weniger einsam und ängstlich fühlte. Manchmal, wenn sich ihre Blicke im Spiegel trafen, fischte das Mädchen etwas aus den Tiefen der riesigen Taschen seiner Schürze und hielt es hoch, als wollte es Poppy damit ein Lächeln entlocken.
Am nächsten Morgen entdeckte Poppy diese Gegenstände dann unter ihrem Kopfkissen.
Beim ersten Mal war es ein Vogel gewesen, aus einem dünnen Draht gebogen. Danach kamen gepresste Blumen, kleine Comicstrips aus vergilbten Zeitungen und ein Pinsel mit eingetrockneter grüner Farbe an der Spitze.
Alte Dinge.
Überraschende Dinge.
Sonderbare Dinge.
Erst wollte Poppy es nicht glauben. Doch die Gegenstände waren da – sie konnte sie anfassen, und das bedeutete, dass sie real waren. Unerklärlich, aber real.
Poppy nahm eines ihrer Bücher und schnitt ein Loch in den Innenteil, um diese kleinen Geschenke darin zu verstecken. Sie sollten ihr Geheimnis bleiben. Dann aber entwickelte Ashley eine besondere Freude daran, in Poppys Sachen herumzuschnüffeln und Poppys Schätze den anderen Mädchen aus dem Heim zu zeigen, die nichts Besseres zu tun hatten, als diese Dinge zu zerreißen und kaputt zu machen. Nach solchen Tagen hatte Poppy schlimme Albträume. Sie träumte von verheerenden Feuern und musste schreiend mit ansehen, wie die anderen Mädchen um sie herum verbrannten. Das Schlimmste an diesen Träumen war, dass Poppy ganz genau wusste, dass sie diese Feuer gelegt hatte.
Im wahren Leben wusste Poppy sich nicht zu wehren … bis zu dem Tag, als Ashley das Bild in die Finger bekam. Es handelte sich um eine filigrane Kohlezeichnung, die fünf Kinder in Masken und Kostümen vor einer Steinmauer zeigte. Poppy hatte diese Skizze extra woanders aufbewahrt, zwischen den Seiten eines Buchs, das sie besonders liebte – ein Buch, von dem sie wusste, dass Ashley es niemals lesen würde. Doch Ashley war eine bessere Schnüfflerin, als Poppy ahnte. Denn eines schönen Tages stand sie neben ihrem gemeinsamen Stockbett und schwenkte triumphierend diese Zeichnung.
»Auch von deiner Freundin?«, fragte Ashley mit einem kleinen spöttischen Grinsen. Sie tat so, als wollte sie die Zeichnung zerknüllen.
Das brachte für Poppy das Fass zum Überlaufen. Ohne lange zu überlegen, griff sie nach Ashleys größtem Schatz, einem reich verzierten Spiegel, der auf ihrem gemeinsamen Nachttisch stand, und warf ihn hinter sich an die Wand. Ein Splittern. Ein Schrei. Ashley ballte die Faust, um die Zeichnung zu zerknüllen – doch die war ihr bereits entglitten und wie durch Zauberhand unversehrt auf Poppys Bett gelandet.
Poppy stand reglos da, während Ashley schockiert um Hilfe rief.
Poppy war noch nie ins Büro von Mrs Tate, der Heimleiterin, geschickt worden. Die kalten Metallschränke und der große Schreibtisch aus Eichenholz hatten sie immer schon eingeschüchtert, wenn sie nur an der offenen Tür vorbeigegangen war. Nun aber saß sie direkt vor diesem Schreibtisch, wie auf einer Anklagebank. Die Sekretärin hatte ihr eingeschärft, ja nichts anzufassen und brav zu warten, weil Mrs Tate zuerst mit Ashley reden wollte.
Poppy wusste, dass sie diesen Rat besser beherzigen sollte. Sie würde ohnehin gleich Ärger bekommen. Doch in ihr brodelte eine solche Wut, dass sie ihre übliche Zurückhaltung ganz vergaß. Sie zögerte nicht lange: Endlich bot sich ihr die Gelegenheit, von der sie immer geträumt hatte. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, sprang Poppy wieder auf. Sie wollte endlich einmal einen Blick in ihre Akte werfen. Hektisch durchsuchte sie die Schränke und Schubladen. Auf ein bisschen Ärger mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an.
Im Büro der Heimleiterin roch es unangenehm süßlich, fast so, als hätte jemand Kaugummis unter jedes Möbelstück geklebt. In den Sonnenstrahlen, die durch das hohe Fenster hereinfielen, sah man die vielen Staubflöckchen tanzen, die Poppy bei ihrer hektischen Suche aufwirbelte. Ah, da war noch ein Aktenschrank auf der gegenüberliegenden Seite. Poppy fand die richtige Schublade, zog ihre Akte heraus und legte sie auf Mrs Tates Schreibtisch.
Während Poppy die Papiere überflog, wurde ihr Gesicht vor Enttäuschung immer länger. In ihrer Akte fand sie ihre Zeugnisse, Krankenberichte und Bilder, die sie früher gemalt hatte, aber nicht den kleinsten Hinweis darauf, wo sie gelebt hatte, bevor sie hier ins Heim gekommen war. Warum stand hier nichts über ihre Eltern? Man konnte fast glauben, sie hätten nie existiert und Poppy sei aus dem Nichts gekommen.
Das war höchst ungewöhnlich.
Und dann wurde es noch ungewöhnlicher.
Ganz hinten in ihrer Akte entdeckte Poppy einen versiegelten Briefumschlag, auf dem ihr Name stand. Sie drehte ihn hin und her, während ihr das Herz bis zum Hals schlug.
In der oberen linken Ecke stand in zierlichen Buchstaben der Absender: Larkspur House, Hardscrabble Road, Greencliff, N.Y. Der Poststempel war verschmiert, und man konnte nicht erkennen, wann der Brief abgeschickt worden war. Poppy konnte es nicht glauben. Ein Brief für sie? Wieder packte sie die Wut. Warum hatte Mrs Tate ihr diesen Brief nie gegeben?
Poppy schob einen Fingernagel vorsichtig unter der Klappe entlang und zog einen lachsfarbenen Briefbogen, der an den Rändern mit einem kunstvollen Blumenmuster verziert war, aus dem Umschlag. So etwas Schönes hatte Poppy noch nie gesehen. Ein kleines Foto, auf dem ein stattliches Herrenhaus zu sehen war, lag auch dabei. Poppy legte das Foto erst mal beiseite und begann zu lesen.
Meine liebste Nichte,
wenn Du wüsstest, wie sehr ich mich freue, dass ich Dich endlich gefunden habe! Du kannst Dir nicht vorstellen, was unsere Familie durchgemacht hat, auch wenn es sicher nichts ist im Vergleich zu dem Leben, zu dem Du gezwungen worden bist, mein armes Kind!
Du kannst mich Großtante Delphinia nennen. Ich lebe in einem großen Anwesen im Hudson Valley, mit wesentlich mehr Räumen, als ich brauche. Es wäre mir eine große Ehre, wenn Du Dich entschließen könntest, zu mir zu ziehen. Ich werde dafür sorgen, dass Du die beste schulische Ausbildung, erstklassige Mahlzeiten und teuerste Kleidung bekommst – eben alles, was sich ein Mädchen in Deinem Alter nur wünschen kann –, obwohl Dir gewiss bewusst ist, dass derlei Dinge wertlos wären ohne ein liebevolles Heim, das den Grundstock für Dein neues Leben hier in Larkspur bilden wird.
Anbei ein kleines Foto, damit Du in etwa weißt, was Dich hier bei mir erwartet!
Ich würde Dich gern selbst in Thursday’s Hope abholen, doch meine Gesundheit erlaubt es leider nicht. Aber gib mir bitte Bescheid, damit ich weiß, dass Du dieses Schreiben erhalten hast, und damit ich Deine baldige Anreise organisieren kann. Wir haben uns bestimmt viel zu erzählen!
Mit den innigsten Grüßen
Delphinia Larkspur
Schauder des Glücks liefen Poppy über den Rücken, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das hier war besser als jeder Schatz, den das Mädchen im Spiegel ihr jemals geschenkt hatte. So etwas passierte normalerweise nur im Märchen – aber doch nicht einem Mädchen wie ihr. Eine Verwandte! Ein Happy End!
Hinter ihr knarrte ein Fußbodenbrett, und als Poppy herumwirbelte, sah sie die Heimleiterin im Türrahmen stehen.
»Was machst du da, Poppy Caldwell?« Mrs Tates Blick wanderte von der offenen Akte auf ihrem Schreibtisch zu dem Schreiben in Poppys Hand.
»Ich wollte Sie nach meiner Akte fragen.« Poppy versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
»Diese Akte ist nicht für deine Augen bestimmt«, erwiderte Mrs Tate streng.
Poppys Gesicht brannte. »Ich habe das hier gefunden.« Sie hielt den Umschlag hoch. »Ein Brief. Der an mich adressiert ist.« Sie zwang sich, Mrs Tates Blick standzuhalten. »Warum haben Sie ihn vor mir verheimlicht?«
Mrs Tates eben noch zorniges Gesicht wurde ratlos. »Warum hätte ich das tun sollen? Darf ich mal sehen?«
Widerwillig reichte Poppy ihr das Schreiben und beobachtete mit Argusaugen, wie sie es überflog. »Poppy, ich habe diesen Brief nie gesehen, das musst du mir glauben.«
»Ich habe eine Familie!«, sagte Poppy.
»Ich würde keine voreiligen Schlüsse ziehen.«
»Meine Großtante Delphinia weiß alles über mich«, beharrte Poppy leise, aber mit Nachdruck.
Mrs Tate seufzte, und es sah ganz so aus, als wären ihr solche Dinge nicht ganz neu. »Der Absender ist sehr vage. Es gibt keine Telefonnummer, keine E-Mail-Adresse. Wie sollte ich deiner Meinung nach mit dieser Frau in Verbindung treten?«
Brauchen Sie gar nicht, dachte Poppy. Das mache ich schon allein.
Als die Heimleiterin Poppys trotzigen Gesichtsausdruck sah, ging sie hinter ihren Schreibtisch und setzte sich an ihren Computer. Poppy wagte kaum zu atmen, während Mrs Tate im Internet nach Larkspur House suchte.
»Da gibt es nicht viel. Nur etwa ein Dutzend Anwesen im ganzen Land. Und über eine Delphinia Larkspur kann ich auch nichts finden.«
Poppys Brust zog sich schmerzhaft zusammen. »Das ist alles?«
»Ich weiß, dass die anderen Mädchen in letzter Zeit nicht sehr nett zu dir waren.« Mrs Tate lehnte sich zurück und sah Poppy mitfühlend an. »Ich fürchte, du musst davon ausgehen, dass es sich hierbei um einen dummen Scherz handelt. Wobei ich anmerken möchte, dass du auch nicht gerade ein Unschuldslamm bist. Was du Ashley angetan hast, ist unentschuldbar.« Auweia – Poppy merkte, dass diese Sache noch lange nicht vom Tisch war.
Als Poppy an diesem Abend auf den Spiegel im Badezimmer zuging, tauchte das Mädchen nicht hinter ihr auf.
Das war noch nie vorgekommen.
Erst später, als sie in ihrem Bett lag, die über die Zimmerdecke huschenden Scheinwerferlichter vorbeifahrender Autos beobachtete und Ashley im Bett unter ihr leise schnarchen hörte, wurde ihr klar, woran es vermutlich lag: Nun, da ich von Larkspur House und Großtante Delphinia weiß, brauche ich das Mädchen vielleicht nicht mehr.
Poppy ahnte nicht, wie falsch sie damit lag.