Читать книгу Shadow House - Dan Poblocki - Страница 7
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In dem Traum, der sie ständig heimsuchte, ging Azumi Endo barfuß durch den riesigen Wald hinter dem Haus ihrer Tante in der Präfektur Yamanashi. Das Vulkangestein, das der Berg Fuji, der höchste Berg Japans, vor langer Zeit ausgespuckt hatte, machte den Untergrund mit den knorrigen Baumwurzeln und dem dichten Unterholz uneben und tückisch. Weil sich Azumi nicht an die markierten Wanderwege hielt, die sich kreuz und quer durch diese Wildnis zogen, kam sie immer wieder ins Stolpern und fiel sogar mehrmals auf die Knie. Ihr Nachthemd war schon ganz schmutzig, doch sie sprang jedes Mal schnell wieder auf und lief weiter. Sie wusste: Wenn sie nur einen Moment stehen blieb, würde sie eine Hand auf der Schulter spüren, und wenn sie sich daraufhin umdrehte … nun, was sie dann hinter sich sehen würde, wollte sie sich lieber gar nicht erst vorstellen.
In dieser Nacht hatte sie sich tiefer in den Wald gewagt als je zuvor, bis zu einer steilen Schlucht, die das Gelände zerschnitt. In der Dunkelheit und wegen des Nebels konnte sie nicht mal bis zum Grund der Schlucht sehen. Ein weiterer Schritt, und sie würde in den Abgrund stürzen und von den spitzen Ästen dort unten aufgespießt werden – eine tödliche Falle, die nur darauf wartete, dass sie hineintrat. Azumi war einem der endlos langen Bänder gefolgt, die gleich nach dem Eingang zum Park an einem Baumstamm befestigt waren, und das hatte sie ins Herz des Waldes geführt.
Dorthin, wo die Toten lagen.
Im Traum war ihre Haut mit kaltem Schweiß überzogen, und durch ihren Kopf wirbelten so viele Gedanken, dass Azumi kaum noch wusste, in welche Richtung sie gehen sollte. Sie konnte nicht in die Schlucht hinunterklettern, das war viel zu gefährlich. Außerdem war es eher unwahrscheinlich, dass Moriko dort unten war. Sonst hätte sie längst auf Azumis Rufe reagiert, oder? Hatte Azumi überhaupt nach Moriko gerufen? Doch, ganz bestimmt. Deshalb war sie ja hergekommen.
Sie würde ihre Schwester finden. Sie musste sie finden.
Jetzt …
Erst in Momenten wie diesem, wenn Azumi sich fragte, wieso sie allein mitten in diesem Wald war, dämmerte ihr, dass sie wieder einmal träumte. Die Schattenwelt dieser Wälder existierte nur in ihrem Kopf. Oder zumindest der größte Teil davon. Der Traum bestand aber noch aus einem anderen Teil – dem Teil, an den sie sich immer erst erinnerte, wenn es zu spät war.
Denn immer wenn Azumi von diesem Wald träumte, schlafwandelte sie.
Azumi schlug die Augen auf und sah, dass sie von Dunkelheit umgeben war und mutterseelenallein in dem Wald hinter ihrem Elternhaus in einem Vorort von Seattle stand. Es war nun schon das dritte Mal in diesem Monat.
Mittlerweile lag ein riesiger Ozean zwischen ihr und dem Geisterwald in Japan, doch ihr Gehirn versuchte immer noch beharrlich, diese gewaltige Entfernung zu überwinden und sie an den Ort zurückzuversetzen, an dem sie ihre Schwester verloren hatte.
Der moosige Untergrund hier im US-Bundesstaat Washington war kalt und nass unter ihren Fußsohlen, und auch die nächtliche Sommerluft war kühl und feucht. Da es so dunkel war, konnte Azumi kaum etwas sehen, und sie fragte sich, ob die Schlucht zu ihrem Traum gehörte oder ob sie tatsächlich nur wenige Schritte von einer Katastrophe entfernt war.
Nicht jetzt, nicht schon wieder, dachte sie und kauerte sich nieder, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen. Mutter und Vater werden in Panik sein. Wie konnte sie ihnen das zumuten, nach allem, was mit Moriko passiert war, nach allem, was Azumi getan hatte?
Sie hatte ihre Schwester verloren.
Sie durfte nicht auch noch sich selbst verlieren.
Am Morgen nach ihrem letzten Albtraum hatte Azumi eine Idee, wie sie sowohl ihre Eltern als auch sich selbst schützen konnte. Sie musste akzeptieren, dass ihre Träume sie immer weiter in Gefahr bringen würden, wenn sie zu Hause blieb, bis auch sie eines Tages nicht mehr zurückkommen würde.
Also suchte sie im Internet nach Internaten an der Ostküste der USA, so weit weg vom Pazifischen Ozean wie nur möglich.
Seltsamerweise erschien lediglich eine einzige Website auf ihrem Bildschirm.
Die Larkspur-Schule.
Azumi startete eine neue Suche. Und noch eine. Sie schaltete den Computer aus und wieder an – doch das Ergebnis war immer dasselbe.
Larkspur.
Das muss ein Zeichen sein, dachte Azumi. Vielleicht muss es genau diese Schule sein.
Sie überflog das Profil, das die Schule von sich ins Internet gestellt hatte. Das Larkspur-Institut steht seit über einem Jahrhundert für schulische, künstlerische und gesellschaftliche Kompetenz. Die ruhige, abgeschiedene Lage ist ideal für Schüler, die sich voll und ganz auf den Lehrstoff konzentrieren wollen …
Azumi musste nicht weiterlesen. Diese Schule war perfekt für sie.