Читать книгу Shadow House - Dan Poblocki - Страница 6

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Marcus Geller hörte Musik, die außer ihm niemand hörte, Musik, die aus einem benachbarten Raum kam, von dem nur er allein wusste.

Er konnte nichts dagegen machen. Ignorieren konnte er sie aber auch nicht.

Deshalb spielte Marcus die Melodien mit, wann immer es ging.

Er hatte sich auf den Hocker in einer Ecke des Esszimmers gesetzt, das Cello bereits zwischen den Knien, und wollte gerade den Bogen ansetzen, als er seine Mutter rufen hörte: »Marcus! Kommst du bitte mal hoch?«

Ihre Stimme klang dünn und weit weg, und er wusste sofort, dass sie wieder einmal am Computer in ihrem Schlafzimmer saß, wo sie sich gern vor der realen Welt versteckte.

Marcus schluckte trocken. Er hatte noch nicht mal angefangen zu spielen, und schon wollte seine Mutter ihn davon abhalten! Er ballte die Fäuste und lockerte sie langsam wieder, bevor er auf den Ruf seiner Mutter reagierte. »Eine Minute noch!« Dann ließ er den Bogen über die Saiten gleiten, und der Raum füllte sich mit einem tiefen, klangvollen Brummen, das all seine Sorgen und auch die Antwort seiner Mutter übertönte.

Zu Hause zu üben war immer schon schwierig gewesen – so etwas wie eine Privatsphäre zu haben, wenn man mit drei älteren Geschwistern unter einem Dach wohnte, war ungefähr so wahrscheinlich, wie ein schlafendes Einhorn unter seinem Bett zu finden –, doch in letzter Zeit hatte sich das Problem noch mehr zugespitzt.

Marcus’ Musik schien seine Mutter ungewöhnlich nervös zu machen.

Das lag vermutlich daran, dass ihr jüngerer Bruder Shane ebenfalls Cello gespielt hatte. Wie alle in der Familie versicherten, war er außergewöhnlich talentiert gewesen. Ihm wurde eine glänzende Karriere als Musiker vorausgesagt …

Und dann war etwas Schreckliches passiert.

Die näheren Umstände von Shanes Tod kannte Marcus nicht. Über diesen Teil der Geschichte sprach niemand.

Er wusste nur, dass Shane mit zwölf Jahren gestorben war.

Genau in dem Alter, in dem Marcus jetzt war.

Vielleicht hing es mit dem Alter zusammen. Oder vielleicht auch damit, dass Marcus am Cello immer besser wurde. Was immer es war, es schien seine Mutter schwer zu belasten – und das musste er nun ausbaden.

Das war total unfair!

Dabei hätte Marcus niemals aufhören können zu spielen. Denn sonst hätte ihn die Musik, die niemand außer ihm zu hören schien, überwältigt.

Für Marcus waren die Klänge der Saiten-, Streich- und Blasinstrumente so klar und lebendig, die Rhythmen so wild und mitreißend, dass er sich kaum vorstellen konnte, dass sie außer ihm niemand hörte. Als er noch klein gewesen war, hatte er allen davon erzählt und die Melodien mitgesummt, damit die anderen ihm glauben würden.

Irgendwann hatten seine Eltern ihn zu einem Arzt geschleppt, der ihm Medikamente verschrieb, um den »Halluzinationen« ein Ende zu setzen. Daraufhin hatte Marcus beschlossen, niemandem mehr von der geheimnisvollen Musik zu erzählen. Er wollte nicht, dass sie verstummte, auch wenn sie nur in seinem Kopf war.

Das war ungefähr zu der Zeit gewesen, als er begonnen hatte, sämtliche Instrumente aus dem Musikraum in der Schule und aus der Sammlung seines Onkels auszuprobieren, um die wundervollen Melodien nachzuspielen, die ihn ständig umfluteten.

Es war eine geniale Idee gewesen: nicht mehr über die Musik zu reden und sie stattdessen zu spielen. Ab da waren seine Eltern zwar beruhigt, aber dafür wurden die Lehrer und andere Erwachsene auf ihn aufmerksam, die von seinem plötzlichen Talent begeistert waren.

Obwohl Marcus die Aufmerksamkeit genoss, war er sich nicht sicher, ob er sie auch verdient hatte. Er kam sich wie ein Hochstapler vor, denn er hatte sich diese Kompositionen ja gar nicht selbst ausgedacht.

Sie kamen ihm von irgendwo jenseits dieser Welt zugeflogen.

»Marcus!«

Widerwillig nahm er den Bogen von den Saiten und schlug die Augen auf. Seine Mutter stand in der Esszimmertür, ein Blatt Papier in der Hand. Marcus hatte gar nicht gemerkt, wie sehr er in der Musik aufgegangen war, und auch nicht, wie friedlich der Nachmittag geworden war. »Entschuldige, Mom«, sagte er. »Ich war im Geiste ganz woanders.«

Zu seiner Überraschung lächelte sie. »Schon gut.« Sie reichte ihm das Blatt. »Ich habe gerade diese Mail hier bekommen. Ich dachte, es ist wahrscheinlich einfacher, wenn ich sie schnell ausdrucke und dir bringe.«

»Worum geht es denn?«

»Lies, dann weißt du es.«

Sehr geehrte Mrs Geller,

mein Name ist L. Delphinium, und ich bin der Direktor der Larkspur-Akademie für Musik und darstellende Künste im Staat New York. Einer der vielen Talentscouts, mit denen ich weltweit zusammenarbeite, war neulich beim Auftritt Ihres Sohns auf dem Oberlin-Campus in Ohio anwesend, und er war von seiner kraftvollen Darbietung überwältigt. Aus diesem Grund möchten wir Ihrem Sohn einen Studienplatz an unserer Akademie anbieten.

Hier in Larkspur wird Marcus die Möglichkeit erhalten, von den besten Musikern und Dozenten von New York City zu lernen. Im Anhang finden Sie eine Broschüre mit weiteren Informationen über unser musikalisches Programm und die Zielsetzungen unserer Akademie.

Uns ist natürlich bewusst, dass es für eine derartige Einladung etwas spät im Jahr ist. Es ist jedoch einer unserer Grundsätze, dass wir stets versuchen, die vielversprechendsten Nachwuchstalente unter unserem Dach zu vereinen, daher möchten wir Ihnen unser Angebot zumindest unterbreiten. Für einen Schüler von Marcus’ Format sind wir selbstverständlich bereit, die Studiengebühren, Unterbringung, Verpflegung und Reisespesen zu übernehmen. Auf Ihre Familie kämen also keinerlei Kosten zu.

Bitte lassen Sie uns Ihre Antwort baldmöglichst zukommen.

Mit freundlichen Grüßen

L. Delphinium

Direktor der Larkspur-Akademie

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Marcus.

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Das ist ja verrückt! Beim Konzert am Oberlin war ein Talentscout da?«

»Du hast nun mal Talent, Marcus«, erwiderte seine Mutter. »Tu nicht so überrascht.«

»Und du hättest nichts dagegen, wenn ich dorthin gehe?«

»Ich würde mich freuen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte. Marcus fand, dass sie etwas zu erfreut aussah.

Noch bevor er etwas entgegnen konnte, füllten schaurige, vielstimmige Missklänge seine Ohren, ein Durcheinander von so vielen Instrumenten, dass er sie nicht hätte aufzählen können. Diese fürchterliche Katzenmusik hatte so gar nichts mit den melodiösen Klängen gemeinsam, die er sonst immer hörte – es klang mehr wie ein gewaltiger Aufschrei. Marcus zuckte zusammen, doch als er den Blick seiner Mutter bemerkte, versuchte er rasch, seinen Schreck als freudige Überraschung zu tarnen.

Seine Mutter hatte natürlich nichts gehört.

Shadow House

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