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Ländliche Ungezwungenheit: Scheißkübel und Misthaufen

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Gut 90 Prozent der europäischen Bevölkerung lebten im Mittelalter auf dem Land. Am Ende des Mittelalters zählte man im Deutschen Reich zwar 3000 Städte, doch 2800 von ihnen waren Ackerbürgerstädte und hatten nur bis zu 1000 Einwohner. Lediglich 15 Städte überschritten die Grenze von 10 000 Einwohnern. Köln war die größte Stadt des Reiches mit 30 000 Einwohnern, gefolgt von Lübeck mit rund 25 000.

Bei der ländlichen Lebensweise und der geringen Bevölkerungsdichte – um 700 lebten 2,7 Menschen auf einem Quadratkilometer, im frühen 14. Jahrhundert sieben Menschen auf einem Quadratkilometer in Europa – war die Entsorgung der Fäkalien im Grunde kein nennenswertes Problem. Fäkalien waren begehrt, denn in der mittelalterlichen Landwirtschaft war Dünger ein knappes Gut. Die intensive Landwirtschaft mit ihrem ungeheuren Einsatz von (Kunst)Düngern ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Es liegt auf der Hand, dass die Bauern im Mittelalter tierische wie menschliche Exkremente sammelten und als wertvollen Rohstoff handelten. Der hohe Stellenwert des Mists im Mittelalter zeigt sich auch ganz deutlich daran, dass im 12. Jahrhundert Pächter manchmal einen Topf Taubenmist – eine Kostbarkeit – als Grundzins zu entrichten hatten.

Man verrichtete seine Notdurft auf dem Feld oder – wenn überhaupt im Verborgenen – „hinterm Busch“. Im bäuerlichen Gehöft war der Ort für die Notdurft mit Vorliebe – im Winter vor allem auch wegen der Wärme – in den Stallungen und Pferchen der Nutztiere. In Regionen, in denen zweistöckige Bauernhäuser gebaut wurden, die im Erdgeschoss den Stall und im Obergeschoss die Wohnstätte hatten, ließ man bisweilen die Fäkalien direkt durch ein Loch im Zwischenboden in den Stall plumpsen. Bei Nichtgebrauch konnte dieser „Lokus“ mit Brettern verdeckt werden.

Eventuell hatte man auch schon einen speziellen Ort, nicht allzu weit vom Haus entfernt, gewählt, dort eine Grube gegraben und diese vielleicht sogar mit einem Sitz und einer Überdachung ausgestattet. „Abortanlagen mit Sitzgelegenheiten scheinen aber in den Dörfern und Gehöften der bäuerlichen Bevölkerung frühstens im 16. Jahrhundert aufgekommen und erst im 19. Jahrhundert zur Regel geworden zu sein.“1

Die bäuerliche Welt war „eine einfache und primitive Welt“2. Es gilt diese Aussage zu differenzieren, denn auch in der bäuerlichen Welt waren die Unterschiede zwischen Reich und Arm immens. Eine einmalige Quelle des bäuerlichen Lebens im Spätmittelalter stellt die Luzerner Diebold Schilling Chronik (um 1500) dar. Darin findet sich die Abbildung einer Bauernstube, in der sich ein Bett und darunter ein währschafter Nachttopf befinden. Offensichtlich legte man auf eine gewisse Bequemlichkeit wert und wollte in der Nacht nicht das Zimmer verlassen, um sich zu erleichtern. Das scheint verständlich, zumal der nächtliche Gang ins Freie mit lästigem Aufwand verbunden war: Man konnte nicht einfach das Licht anzünden, sondern musste sich mit einem Talglicht oder anderen Lichtquellen behelfen. Schließlich galt es sich in kalten Jahreszeiten warm anzukleiden. Gerade wenn die Zeit drängte, waren dies lästige Erfordernisse.


4 Das Bild zeigt, wie der ehemalige Söldner Hans Spieß seine schlafende Ehefrau erdrosselt. Aufschlussreich ist die Darstellung mit Blick auf die Ausstattung der bäuerlichen Schlafkammer. Unter dem Bett befindet sich ein solider Nachttopf aus Holz.

Die Entsorgung war einfach, denn Misthaufen oder Stall waren nicht weit. Anfänglich bestand der „Schizkübel“ aus einem hölzernen Daubengefäß; der Nachttopf aus Keramik ist erst eine Errungenschaft aus dem 16./17. Jahrhundert. Mit zwei und mehr Sitzöffnungen existierten im Spätmittelalter auch so genannte „Scheißkisten“. Es handelte sich dabei um tragbare Truhen, die in den Wohnräumen aufgestellt werden konnten und vom Gesinde nach Bedarf geleert und gereinigt werden mussten. In der frühen Neuzeit versah man solche Kisten mit Lehnen und Füßen.

Den Nachttopf als Scheißkübel oder, wie auch üblich, als „Prunzscherbe“ oder „Prunzkachel“ zu bezeichnen, deutet auf ein unverkrampftes Verhältnis der Landbevölkerung zu den menschlichen Bedürfnissen hin. Vielfach wiesen die Nachttöpfe scherzhafte Verzierungen und Devisen auf. Ein beliebter Hochzeitsscherz bestand darin, dem Brautpaar „Kammertöpfe“ mit anzüglichen Inschriften oder Bildern zu überreichen, etwa mit einem entzückt die Augen aufreißenden Antlitz, worunter sich die Unterschrift befand: „Wenn du wüsstest, was ich sehe.“ In der Barockzeit war es bei wüsten Gelagen nicht unüblich, sich aus den „Brunz- und Saichkacheln“ zuzutrinken. Meistens waren die Nachttöpfe zu jener Zeit aus Ton, manchmal auch aus Zinn und später aus Porzellan gefertigt.

Wer nun meint, dass dieses unverkrampfte Verhältnis gegenüber der menschlichen Notdurft nur der ländlichen Bevölkerung zu eigen war, irrt sich gewaltig. Selbst in theologischen Texten wurde am Ende des Mittelalters das Wort „scheißen“ verwendet, ohne dass jemand daran Anstoß nahm. Leo Jud, ein Mitstreiter des Schweizer Reformators Huldrich Zwingli (1484 – 1531), brauchte bei der Übersetzung einer lateinischen Abhandlung ohne Hemmung den Ausdruck „schyssender mensch“ als Gegenstück des Heiligen.3 Eine ebenso deftige Sprache benutzte der deutsche Reformator Martin Luther (1483 – 1546), als er am 1. Mai 1515 die Festpredigt vor den Mitgliedern des Augustinerordens hielt. Hier sprach er über die Sünde der üblen Nachrede und meinte:

„Ein Verleumder tut nichts anderes, als dass er den Unrat anderer mit den Zähnen wiederkäut und wie ein Schwein mit der Nase im Dreck wühlt; daher auch stinkt sein Dreck am meisten, nur übertroffen vom Teufelsdreck … Und obwohl der Mensch seinen Kot heimlich ablegt, so lässt es der Verleumder nicht heimlich sein; er hat Lust, darinnen zu wälzen, ist auch nichts Besseres wert nach Gottes gerechtem Gericht. Wenn der Verleumder sagt: Sehet wie hat sich der beschissen, ist die beste Antwort: Das frissest du.“4

Luthers Wortwahl war weder auffällig noch anstößig – auch nicht innerhalb der Kloster- oder Kirchenmauern. Der Kardinal von Mainz und Kanzler des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hat sich im Jahre 1521 Luther gegenüber als wertloser Mensch, als „Scheißdreck“ offenbart: „Ich weiß wohl, dass ohne die Gnade Gottes nichts Guts an mir ist, und sowohl ein unnützer stinkender Kot bin, als irgend ein ander, wo nicht mehr.“5


5 Das Zeitalter der Reformation sah auch die Beeinflussung der Bevölkerung durch Flugschriften und Flugblätter. Diese Karikatur ist eine Schmähschrift gegen Martin Luther. Hier wird gezeigt, wie der Reformator mit dem Kopf voran in den Abort stürzt. Über dem Abort ist eine Raufe mit Stroh zu sehen, das als Ersatz für Toilettenpapier diente.

Diese fäkaliengesättigte Sprache ist ernst zu nehmen. Sie ist als Ausdruck eines mit Leib und Seele geführten schmerzhaften Kampfes gegen das Böse – den Teufel als Widersacher von Leib und Seele – zu verstehen. Darüber hinaus diente das „Mistvokabular“ einem agitatorischen Zweck, denn mit Begriffen aus der Fäkaliensprache wollte man den „einfachen Mann“ erreichen. Was Martin Luther mit Fäkalien und der menschlichen Notdurft verbindet, geht jedoch noch weiter: Es scheint, dass für Luther das stille Örtchen der Geburtsort für das reformatorische Gedankengut war. Er äußerte einmal: „Dise kunst [gemeint ist das Gedankengut der Reformation] hatt mir der Spiritus Sanctus (Heiliger Geist) auf diss Cloaca eingegeben.“6

Wasserthron und Donnerbalken

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