Читать книгу Die Herren von Telkor - Die Trollhöhle - Daniel Sigmanek - Страница 8
Das Tal des Frostes
ОглавлениеAls sie sich schließlich alle gemeinsam dagegenstemmten, öffnete sie sich einen Spaltbreit. Helles Licht drang herein, aber es war kein Tageslicht. Nach einigen Anstrengungen gelang es ihnen endlich, die Tür vollends aufzuschieben. Der Anblick des Dahinterliegenden ließ Tado erstarren. Sie befanden sich keineswegs auf dem Mond, wie er insgeheim befürchtet hatte, auch wenn er nicht wusste, wie es auf dem Mond aussah, aber das hier war er ganz sicher nicht. Denn er kannte diesen Ort. Er war schon einmal hier gewesen, vor anderthalb Tagen: Sie befanden sich mitten im Thronsaal des Palastes von Kaher. Um genau zu sein, standen sie hinter dem neu gebauten Thron in einer Geheimtür in der Wand.
„Aber das... das ist unmöglich!“, meinte der Goblinkönig ungläubig. Wir sind zig Meilen gelaufen, wir müssten das halbe Mauergebirge durchquert haben, aber doch nicht bloß diese geringe Entfernung bis zur Goblinstadt!“
„Anscheinend sind wir im Kreis gelaufen“, vermutete Tado. „Hattet ihr denn nicht auch das Gefühl, dass ihr an manchen Stellen mehrmals vorbeikamt?“ Kaher war der leicht spöttische Unterton in diesen Worten nicht entgangen, daher verzichtete er auf eine entsprechende Antwort und machte eine Handbewegung, als wolle er das Thema damit wegwischen.
„Wie auch immer, es ist schon später Nachmittag und ein Weitergehen würde sich nicht lohnen“, sagte er an Tado und Spiffi gewandt. „Wollt ihr nicht noch eine Nacht bleiben?“
„Nur, wenn wir nicht wieder irgendetwas für euch erledigen müssen, und zu unmenschlichen Zeiten geweckt werden“, entgegnete Letzterer.
Der Goblinkönig lächelte. „Oh, ganz sicher nicht. Diese ganze Tortur der letzten zwei Tage reicht mir wahrscheinlich für etliche Jahre.“
Mit diesen Worten wandte er sich nach rechts und steuerte eine seiner Wachen an, während Regan, Tado und Spiffi den Palast verließen und Letztere wieder auf ihr Zimmer zurückkehrten.
Der Rest des Tages verlief hauptsächlich ohne nennenswerte Ereignisse. Spiffi verbrachte fast zwei Stunden damit, sich an irgendwelchen goblineigenen Köstlichkeiten satt zu essen, und vor allem füllte er natürlich seinen Vorrat an Pfeilen und Käsebroten wieder auf. Tado versuchte, sich von all den Geschehnissen zu erholen und ahnte noch nicht, dass er sich einst in jenes Labyrinth zurückwünschen würde, denn es war nicht viel mehr als ein leichter Vorgeschmack auf seine bevorstehende Reise.
Dann brach die Nacht herein. Es geschah ziemlich schnell und Tado verspürte auch prompt eine wohlige Müdigkeit, die ihn wie eine Woge aus warmem Wasser einhüllte...
Er kannte dieses Land, er war schon einmal hier gewesen, nur wusste er nicht mehr, wann. Er erinnerte sich nur noch an Wölfe und eine langbeinige Spinne und... Schnee. Es hatte damals geschneit. so wie jetzt. Hier schien es immer zu schneien. Obwohl es das nicht dürfte. Er wurde durch ein leichtes Beben aus seinen Gedanken gerissen. Das Vibrieren nahm zu und gleichzeitig nährte sich ein Geräusch, das wie das Galoppieren vieler Pferdehufe klang. Der Schnee vor ihm wuchs plötzlich empor, wurde höher als ein Haus, bis Tado das Geschöpf, welches da vor ihm aus dem eisigen Ödland hervorkam, identifizieren konnte: Es war eine Raupe. Die gewaltigste Raupe, die er je gesehen hatte. Sie öffnete ihr Maul und schoss auf ihn zu...
* * *
Tado konnte nach diesem Alptraum nicht mehr einschlafen; bis Sonnenaufgang - und somit ihrer Aufbruchszeit - war es nur noch eine halbe Stunde. Also beschloss er, sich schon einmal fertig zu machen. Seine Kleidung, wie er überrascht registrierte, schien über Nacht von all den Spinnenweben und der zentimeterdicken Schicht Staub befreit worden zu sein.
Schließlich erleuchteten die ersten Sonnenstrahlen die Goblinstadt. Tado und Spiffi betraten wieder einmal den Thronsaal Kahers, wo der König und Regan bereits auf sie warteten.
„Ihr kommt recht spät“, begann Ersterer.
„Ja“, entgegnete Tado kurz. „Wir kamen auch nur, um Abschied zu nehmen.“
„Nun denn, Regan hat sich entschlossen, sich eurer kleinen Gruppe anzuschließen, sozusagen als eine Art Wiedergutmachung der letzten Tage. Der Weg, der vor euch liegt, ist lang und gefährlich, und wenn ihr das Mauergebirge durchqueren wollt, werdet ihr einen Führer brauchen.“
Tado war ein bisschen überrascht. Aber da er den Worten des Goblinkönigs durchaus einen Sinn abgewinnen konnte, nahm er das Angebot dankend an.
Nach einigen kurzen Abschiedsworten verließen die Drei die Stadt und schlugen den Weg nach Norden ein. Sie kamen wieder zum Plateau, über das sie auch zum Troll gelangten, wo Tado ein wenig verdutzt feststellte, dass einige Goblins bereits mit dem Beseitigen des eingestürzten Einganges beschäftigt waren.
Der Weg führte weiter geradeaus, schlängelte sich dann durch senkrechte Felswände hindurch und wurde schließlich zu einem steil bergab führenden Pfad, vor dem die Gefährten stehenblieben. Ganz weit unten konnten sie ein gigantisches Tal ausmachen, dessen Ende nicht einmal zu erahnen war.
„Vor uns liegt das Tal des Frostes“, begann Regan. „Dort müssen wir durch. Das Land wird vom Lord des Frostes beherrscht, der das einstmalige Grün zu einem Ödland aus Eis und Schnee gemacht hat. Seitdem streifen gefährliche Kreaturen durch das Tal. Sollten wir getrennt werden, wandert auf keinen Fall zu lange allein dort herum. Am sichersten ist man in der Gruppe.“
Mit diesen Worten ging er einige Schritte voraus und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Auch wenn sich seine Warnung, wie Tado fand, eher wie der Vortrag eines Reiseleiters anhörte, war sie dennoch wichtig.
Plötzlich blieb der Goblin stehen. Ihm schien noch etwas eingefallen zu sein. „Übrigens, der Lord des Frostes hat viele Späher in diesen Landen und seine Kreaturen sind überall. Wir werden ums Kämpfen nicht herum kommen.“
Das hatte Tado insgeheim befürchtet. Worauf ließ er sich da nur ein? Er war kein guter Kämpfer, er besaß ja noch nicht einmal eine Waffe! Dies veranlasste ihn dazu, sich einen kleinen Vorrat an Steinen zuzulegen, um wenigstens nicht völlig wehrlos zu sein. Dann beeilte er sich erst einmal, wieder zu seinen Begleitern aufzuschließen, die bereits ein gutes Stück vorausgegangen waren.
Der Weg ins Tal entpuppte sich als weitaus länger, als es von oben den Anschein gehabt hatte. Nachdem sie dessen Ende erreichten, stand die Sonne bereits im Zenit. Vor ihnen lag eine unberührte, weite Schneelandschaft, die durch die Sonnenstrahlen fortwährend glitzerte. Tado konnte sich nicht vorstellen, dass diese atemberaubende Landschaft tatsächlich vom Lord stammen sollte.
Die Drei betraten die weiße Pracht. Der Schnee war kalt, doch zum Glück sanken sie nicht sehr tief ein.
„Ich würde vorschlagen, wir gehen nach Osten. Früher stand dort einmal eine Stadt, die verlassen wurde, nachdem der Lord kam. Es heißt aber auch, dass die ehemaligen Bewohner noch irgendwo dort in der Nähe in einem Versteck leben sollen. Vielleicht können sie uns für die erste Nacht eine Unterkunft gewähren. Jedoch sind sie schwach, und der Lord möchte sich ihrer entledigen, weshalb Patrouillen seiner Untergebenen dieses Gebiet durchstreifen.“
Nach diesen nicht gerade aufmunternden Worten wandte sich der Goblin nach rechts und marschierte los. Tado musste sich beeilen, um nicht erneut zurückzufallen. Spiffi ging vorsichtshalber bereits mit auf die Sehne gelegtem Pfeil. Eine halbe Stunde lang stapften sie so durch den Schnee, und gerade, als sie ihre Mittagspause einlegen wollten, gewahrte Tado eine Bewegung unter der weißen Decke. „Was ist das?“, fragte er an Spiffi gewandt.
Dieser zuckte nur mit den Schultern und gab die Frage dann an Regan weiter, ohne die Stelle auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Der Goblin betrachtete die Bewegung einen Moment genauer. Dann machte er plötzlich einige Schritte rückwärts und bedeutete den beiden, es ihm gleich zu tun. Sie taten es keinen Moment zu früh. Der Schnee stob in alle Richtungen davon. Etwas sehr langes, sehr dünnes, mit vielen Gelenken, erschien. Gleich darauf ein zweites und drittes. Schließlich waren es acht Beine, jedes etwa einen Meter fünfzig lang, und der schlanke, neun Handbreit messende Körper vollendete das Bild der gigantischen Spinne schließlich. Die Füße besaßen die Form (und wahrscheinlich auch die Schärfe) einer Sichel, womit dieses Tier vermutlich tödliche Tritte verteilen konnte. Die Beißzangen an den Kiefern klappten auf und zu. Spiffi stieß bei diesem Anblick einen entsetzten Schrei aus und ließ seinen Pfeil fliegen. Das Geschoss bohrte sich tief in den Kopf des Ungetüms.
Tado kannte dieses Geschöpf. Er hatte es im Traum gesehen. Unwillkürlich hielt er nach einem Rudel Wölfe Ausschau. Nichts. Diese Erkenntnis ließ ihn erleichtert aufatmen. Doch die Gefahr war keineswegs vorüber. Die Spinne lebte noch und stand zusammengekauert da. Der Anblick löste in Tado einen gewissen Ekel aus. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Regan gerade mit seinem Morgenstern zum alles entscheidenden Schlag ausholte. Doch sein Gegner sprang blitzschnell zur Seite, wodurch die Waffe ungebremst weiterrauschte, sodass sich der Goblin einmal um die eigene Achse drehen musste, damit die tödliche Stahlkugel erneut auf die Spinne krachte. Leider stand Tado mitten im Radius des Morgensterns. Diesmal rettete ihm das Ungetüm ungewollt das Leben: Als es nämlich mit einem seiner sichelförmigen Füße nach ihm schlug, duckte sich der Angegriffene, wodurch die Waffe des Goblins einen Fingerbreit über seinem Kopf hinwegrauschte und gegen den Körper des Tieres prallte. Sie musste ihn zerschmettert haben, allerdings besaß das Geschöpf ein sehr geringes Körpergewicht, wodurch der Morgenstern nur minimal abgebremst wurde und Regan sich erneut zu drehen begann. Diesmal retteten Tado die Kräfte des Goblins, der seine Waffe einfach verschwinden ließ.
„Was ist das?!“, fragte Spiffi mit weit aufgerissenen Augen. Er starrte entsetzt auf den Spinnenkadaver, der einige Meter entfernt vor einem aus der weißen Decke ragenden Fels liegengeblieben war. Der Schnee um ihn herum hatte sich grünlich gefärbt.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Regan nur. „Aber wir sollten auf jeden Fall von hier verschwinden und unseren nächsten Rastplatz bei gegebener Deckung aufschlagen. Kommt!“ Sein letztes Wort hatte er bereits im Laufen gesagt, sodass sich Tado und auch Spiffi beeilen mussten, ihre Sachen zusammenzupacken und ihm zu folgen. Nach einigen hundert Metern, die sie im Eiltempo hinter sich brachten, mäßigten sie ihren Schritt, als es plötzlich zu schneien anfing. Zuerst fanden nur ein paar Flocken den Weg auf die Erde, doch mit fortschreitender Zeit wuchs ihre Zahl um ein Vielfaches. Nicht mehr lange, und Tado würde nicht einmal mehr die berühmte Hand vor Augen erkennen können. Doch dieser Wetterumschwung und die damit verbundene Kälte blieben nicht ihr einziges Problem. Schon seit einer ganzen Weile vernahm Tado in unregelmäßigen Abständen das unverkennbare Geheul von Wölfen. Er wusste einfach, dass es die Exemplare aus einem seiner Alpträume waren, und er hatte wenig Bedürfnis, sie auch im richtigen Leben kennenzulernen. Als er sich umblickte, erschienen schon die ersten Umrisse der Tiere hinter ihnen im Schneegestöber. Tado konnte sich ihre riesigen Fangzähne wahrlich lebhaft vorstellen, und so verfiel er wieder in einen Laufschritt. Die Lage schien trotzdem aussichtslos. Der Vorsprung schrumpfte beständig, ihren Verfolgern schien der Schnee nicht annährend soviel auszumachen wie ihnen.
Und wäre Spiffi nicht zufällig hineingestolpert, hätten die Drei vermutlich ihre einzige Rettung übersehen. Vor ihnen lag eine Höhle, deren Eingang absolut nicht zu erkennen war, wenn man nicht genau wusste, wonach man suchte. Tado folgte seinem tollpatschigen Begleiter, der sie diesmal ausnahmsweise gerettet hatte.
Der Goblin betrat als Letzter den großen, überraschend warmen Raum. Die Wölfe schienen den Fluchtort ihrer Beute merkwürdigerweise nicht zu sehen, sondern liefen daran vorbei.
„Glück gehabt“, sagte Regan, als das letzte Exemplar des hundert Tier starken Rudels in der Ferne verschwunden war. „Ich habe solche Wölfe noch nie gesehen.“
„Das sind Schatteneiswölfe, Diener des Lords.“
Tado fuhr überrascht herum. Vor ihnen stand eine Gruppe von ungefähr zwanzig Mann, allesamt in schwere Fellmäntel gekleidet. Einer war hervorgetreten und hatte die Drei angesprochen.
„Wer seid ihr?“, entfuhr es Regan, der seine Fassung als erster wiedergewann.
„Nun, ich dachte, dass Fremde ihren Namen vielleicht immer zuerst nennen sollten, aber in Anbetracht der Umstände werde ich mich wohl zunächst vorstellen müssen.“ Er räusperte sich. „Mein Name ist Etos, ich bin der ehemalige König der Aonarier. Dies hier ist unser Versteck, seit der Lord die Stadtfestung gestürmt hat.“
Damit wäre die Frage, ob sie zum Lord gehören, wohl auch geklärt, dachte Tado bei sich. Auf Etos’ Frage hin nannten die Gefährten nun auch ihren Namen.
„Wie mir scheint, seid ihr keine Verbündeten des Lords. Nun denn, da wir alle Flüchtlinge, die uns finden, aufnehmen, heiße ich natürlich auch euch willkommen. Ihr könnt hierbleiben, solange ihr wollt.“
„Das ist wirklich großzügig“, begann Regan, „aber ich denke, dass-“
„Selbstverständlich werden wir eurer Einladung nachkommen, da die Zeit bereits recht fortgeschritten ist, und somit eine heutige Weiterreise nicht in Frage kommt“, unterbrach ihn Tado.
„Weiterreise?“, fragte der König zweifelnd. „Ihr wollt doch nicht etwa da raus?“ Er deutete auf die eisige Einöde hinter dem Höhleneingang, auf die noch immer Tonnen des kalten, weißen Schnees fielen. „Es wäre euer sicherer Tod. Schatteneiswölfe und Schneespinnen und noch gemeinere Geschöpfe treiben dort ihr Unwesen!“
„Wir müssen“, brachte sich nun auch Spiffi in das Gespräch ein. „Wir müssen es tun, da das Ziel unserer Reise noch in weiter Ferne liegt.“
„Euer Ziel?“, wiederholte Etos.
„Die Trollhöhle.“ Diese beiden von Tado gesprochenen Worte lösten ein Raunen in der Mannschaft hinter dem König der Aonarier aus.
„Und was“, fragte dieser gefasst, „treibt drei Wanderer dazu, diesen Wahnsinn durchzuführen, außer dem Willen, zu sterben?“
Tado seufzte innerlich. Warum schafften es nur alle, ihn so zu entmutigen? Einen Moment spielte er sogar mit dem Gedanken, Etos die ganze Geschichte zu erzählen, besann sich dann jedoch eines Besseren und sagte stattdessen: „Genau das ist der Grund.“
Regan und Spiffi sahen ihn nur mit deutlicher Verwunderung an, doch der König schien diese Antwort zu akzeptieren, wahrscheinlich hatte er auch keine wirkliche Begründung erwartet; er machte nur eine Handbewegung, als wolle er das Thema beiseite schieben und fuhr dann schließlich fort: „Also schön. Ihr wollt das Tal durchqueren. Das dürfte ein kleines Problem darstellen. Alle Ausgänge dieses Tals sind mit einem magischen Zauber belegt. Und ihr dürft raten, wie man diesen brechen kann.“ Er sah die Drei erwartungsvoll an, nahm dann aber, ohne ihnen die Möglichkeit einer Erwiderung zu eröffnen, die Antwort vorweg: „Gar nicht, richtig.“ Er nickte, wie um seine eigenen Worte zu bestätigen. „Denn dazu müsstet ihr den Lord des Frostes töten.“
„Anscheinend bleibt uns keine andere Wahl“, sagte Tado geradeheraus, ohne sich der Folgen seiner Worte bewusst zu sein. Im Nachhinein vermochte er nicht mehr zu sagen, ob es gedankliche Abwesenheit oder einfacher Übermut war, der ihn zu dieser Aussage trieb.
„Mir scheint, etwas vernebelt eure Sinne. Ein solches Vorhaben ist zum Scheitern verdammt, noch ehe der Gedanke daran überhaupt gefasst, geschweige denn ausgesprochen wurde.“
Tado war kurz davor, aufzugeben und einfach umzukehren, seinen Auftrag abzubrechen und Haktir den Sieg zuzugestehen. Allerdings realisierte er in diesem Moment, dass, wie Etos sagte, ein Umkehren nun nicht mehr möglich sei. Sie mussten also wohl oder übel gegen den Lord des Frostes antreten. Vielleicht hatte der König ja Recht, und irgendein fauler Zauber trübte tatsächlich seine Sinne, wie sonst war es zu erklären, dass er nach alldem noch immer an der Erfüllung seines Auftrages festhielt. Er verscheuchte den Gedanken hastig.
„Wie dem auch sei“, fuhr der König fort. „Ihr seht aus, als hättet ihr seit längerer Zeit nichts zu essen bekommen und wir haben noch frisches Wolfsfleisch übrig.“ Tado und sowohl Spiffi als auch Regan folgten ihm.
Zwar hatten sie ausreichend Proviant für über eine Woche, aber der Gedanke an Fleisch war einfach zu verlockend. Selbst die Tatsache, dass es womöglich von den blau-schwarzen Ungeheuern, die sie verfolgten, stammte, schrecke sie wenig.
Etos führte die Drei in eine weitaus größere Höhle, die auf geheimnisvolle Weise genauso warm wie die vorige war und in der sich hunderte Menschen tummelten. Auf dem festgetretenen Schneeboden befanden sich unzählige Decken und Matten, anscheinend stellte dies hier wohl die Behausung der Aonarier dar. Ein wenig überrascht stellte Tado fest, dass die ganzen Menschen kaum Notiz von ihnen nahmen. Offenbar waren Neuankömmlinge nichts Ungewöhnliches. Der König wandte sich nun einer kleinen Feuerstelle zu, über der Spieße mit Fleisch gebraten wurden. Um das Feuer herum lagen einige Baumstämme, die offenbar als Sitze dienten. Etos nahm auch prompt auf ihnen Platz und bedeutete Tado und den anderen, es ihm gleich zu tun. Sofort wurden ihnen einige Teller mit dem Wildbret gebracht. Es schmeckte ungewöhnlich, aber nicht unbedingt schlecht. Während sie aßen, begann der König wieder, zu erzählen: „Ich finde ja, beim Essen redet es sich besser. Wie ihr sicher wisst, war unser Tal einst nicht so kalt, sondern grün und friedlich und warm. Wirklich Winter wurde es nur einmal in fünf Jahren. Jetzt jedoch, da der Lord des Frostes mit seinen direkt der Hölle zu entstammen scheinenden Kreaturen das gesamte Land hat einfrieren lassen, ist aus dem einst so schönen Tal eine eisige und verlassene Einöde geworden, in der es kaum noch Leben, dafür aber umso mehr Schmerz und Leid gibt.“
Etos sprach recht schnell und Tado wunderte sich nicht zum ersten Mal, dass er sich in seinen eigenen Worten nicht verhaspelte. Nun machte dieser jedoch eine Pause, wahrscheinlich, um einen Plan für einen besonders langen Satz zu entwerfen. Bevor er dies aber tun konnte, warf Regan eine Frage in den Raum: „Woher stammen eigentlich die Wölfe und Spinnen? Lebten sie schon vor Ankunft des Lords in diesem Land?“
Der König sah ihn einen Moment lang an, als hätte der Goblin etwas furchtbar Dummes gesagt, bis er sich darauf besann, dass dieser und seine anderen Gäste ja nicht aus dem Tal stammten. Also rang er sich letztendlich doch zu einer Antwort durch: „Nein. Oder doch. Selbstverständlich gab und gibt es hier Wölfe, Waldwölfe. Ebenso lebten im Tal auch Erdspinnen. Der Lord züchtete aus diesen jedoch seine Bestien und ließ sie mittels dunkler Magie wachsen, sodass sie viel stärker und größer als ihre ursprüngliche Art wurden.“
Etos machte eine kleine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, ehe er mit leicht veränderter Stimme fortfuhr: „Nun denn. Als ihr davon erzähltet, dass ihr den Lord bekämpfen wollt, ist mir sofort ein Orakel, welches ich letztens gelesen habe, ins Gedächtnis gesprungen. Darin heißt es nämlich“, er kramte einen Zettel unter seinem Fellmantel hervor, „dass drei Wanderer“, er sah Tado, Spiffi und Regan an, „die im Besitz der Drachenklinge“, sein Blick glitt über das Gepäck der Drei, offenbar suchte er besagte Waffe, „und in Begleitung eines mausähnlichen Wesens sind“, erneut musterte er seine Gäste, „über das Schicksal des Landes entscheiden werden.“ Nun sah der König endgültig von seinem Zettel auf, den er gleich wieder unter seinem Mantel verstaute. „Natürlich ist dies nur eine von mir angefertigte Abschrift eines kurzen Fragments, das Orakel selbst ist eine umfassende Schrift, die irgendwo in den Städten im Osten, jenseits des Mauergebirges, verloren ging. Zuerst hielt ich es für Unsinn, Hirngespinste eines Propheten, der sich die Aufmerksamkeit seines Volkes sichern wollte. Aber jetzt, da ich sehe, dass es sich bei den Wanderern um zwei Menschen und einen Goblin handelt, was auch genauso in diesem Orakel stand, bin ich doch stutzig geworden.“
Tado starrte Etos fassungslos an. Was er da sagte, konnte einfach nicht wahr sein. Er war nie und nimmer ein Auserwählter irgendeines Orakels, und konnte schon gar nicht über das Schicksal dieses Tals entscheiden. Es musste irgendein dummer Scherz sein, immerhin fehlten ja auch die Drachenklinge und die Maus. Diese Dinge redete sich Tado in Gedanken ein, doch insgeheim breitete sich in ihm eine Ahnung aus, ein beunruhigendes Wissen, dass sein Auftrag in einem weit größeren Maße ausufern würde, als er es sich ausgemalt hatte. Dieses Gefühl beunruhigte ihn. Er war niemand, der sich gern in unüberblickbare Gefahren begab. Was, wenn er mit diesem Auftrag seinen Tod besiegelt hatte?
Bevor sich Tado weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, begann Etos schon wieder zu erzählen, nachdem er von seinen Gegenübern nur ungläubig angestarrt wurde und auf die erwartete Antwort vermutlich noch einige Stunden hätte warten können.
„Jedenfalls, da ihr, wenn auch aus anderen Gründen als wir, gegen den Lord des Frostes kämpfen wollt, bin ich gewillt, euch meine Unterstützung anzubieten. Seit langer Zeit schon werden wir unterdrückt und es kann nicht mehr ewig dauern, bis unser Versteck entdeckt wird. Viele Jahre spielten wir mit dem Gedanken, den Lord zu stürzen, doch niemand wagte bisher, einen der gefassten Pläne in die Tat umzusetzen. Doch vielleicht ist dies unsere letzte und einzige Chance, den Tyrannen zu bezwingen.“
„Möglich“, erwiderte Tado, sich langsam beruhigend, „aber die hier versammelten Menschen reichen dafür nicht aus. Wie viele seid ihr? Hundert? Zweihundert?“
„Dreihundertdreiundachtzig“, erklärte Etos stolz. „Allerdings sind dort auch Frauen und Kinder dabei. An kampffähigen Männern haben wir eine nur knapp dreistellige Zahl. Deswegen müssen wir auch die anderen Völker des Tals um ihre Mithilfe bitten.“
„Andere Völker?“, fragte Spiffi.
„Aber ja! Die Aonarier bildeten zwar die größte, nicht aber die gesamte Bevölkerung des Landes hier. Dennoch die schwächste. Deswegen hat der Lord uns auch angegriffen. Damals sind viele ums Leben gekommen. Mittlerweile existieren nur noch die vier Großmächte als freie Völker, die sich der Lord nicht traut, anzugreifen. Doch auch dies wird nicht mehr allzu lange der Fall sein. Wir müssen sie vereinen“, sagte der König. „Wenn alle Armeen dieses Tals gemeinsam den Lord angreifen, gelingt es uns vielleicht, ihn zu bezwingen.
„Und... wer sind diese Großmächte?“, fragte Regan interessiert.
„Zuerst wären da die im Norden lebenden Bärenmenschen. Ihre Muskelkraft ist unangefochten, doch sie sind mittlerweile schon fast zur allgemeinen Bedrohung geworden, da der Lord ihren König durch eine List gefangen nahm und sie nun alles und jedem misstrauisch begegnen.“
Etos’ Erzählung wurde von einer Zwischenfrage seitens Spiffi unterbrochen: „Warum hat er ihn nicht getötet?“
Der König der Aonarier lachte leise. „Den kann man nicht töten. Jedenfalls nicht so leicht. Er zerquetscht Körper und Fels gleichermaßen so mühelos wie ein rohes Ei. Der Lord ist froh, ihn überhaupt in die Finger bekommen zu haben, was allein schon einem Wunder gleicht. Einem schrecklichen Wunder...
Aber nun wieder zurück zu den Großmächten: Als nächstes sind da die Eiskreischer am Todesfluss. Über ihre Stärke ist nichts bekannt, da sie niemals jemanden angriffen und auch niemals angegriffen wurden. Der Lord fürchtet sie, da sie das Eis, mit dem er ihr heimisches Gewässer zufrieren ließ, scheinbar mühelos durchbrachen. Daher stammt auch ihr Name, den sie seit einiger Zeit angenommen haben.
Die dritte Macht bildet das Reich der Bäume. Die Kampfkunst der Bewohner mit Pfeil und Bogen ist präzise und tödlich und die Königin verfügt ebenso wie der jetzige Herrscher des Tals über Zauberkräfte. Sie werden wohl am ehesten gewillt sein, sich unserem Vorhaben anzuschließen.
Kommen wir nun zur vierten und mächtigsten Großmacht. Dem Reich der Sonne. Die Rüstungen der Krieger gelten als die besten ganz Gordoniens. Noch nie hat sie jemand bezwungen. Ehe der Lord dieses Volk angreift, wird wohl noch so einige Zeit vergehen, aber auch nicht endlos. Die Königin lebt in ihrem Palast im Sonnengebirge, was auch unser erstes Ziel sein wird.“
„Gebirge?“, fragte Tado, als Etos seine Erzählung beendete. „Ich dachte, wir sind in einem Tal.“
Der König musste über seine Frage lächeln. „Natürlich. Es ist eigentlich auch mehr ein Ausläufer der umliegenden Berge, aber da es trotzdem eine beachtliche Höhe aufweist, nannten wir es eben Gebirge.“
Etos machte eine kurze Pause. Nachdem weder Tado noch die anderen eine weitere Frage hatten, räusperte er sich und fuhr fort: „Nun, da es schon spät ist, solltet ihr euch einen freien Lagerplatz zum Schlafen suchen, da drüben zum Beispiel“, er deutete mit einer Geste auf einen leeren Platz an der Wand. „Selbstverständlich werde ich nach Freiwilligen meines Volkes fragen, vielleicht findet sich ja noch der eine oder andere, um uns zu begleiten.“
Mit diesen Worten trennten sich ihre Wege. Tado, Spiffi und Regan breiteten ihre Decken auf dem ihnen zugewiesenen Platz aus, während ihr Gastgeber zwischen den Männern umhereilte.
Schließlich brach die Nacht herein...
Er stand auf einer Art Felsplateau und sah zum Mond. Doch sein Blick suchte nicht den Gesteinsball. Er war auf etwas am Rand des Plateaus gerichtet. Eine Gestalt, in einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllt.
Er spürte ihren Blick, das mordlustige Flackern in den rot glühenden Augen, die ihn unentwegt anstarrten. Wenn er jemals Angst gehabt hatte, dann jetzt. Dieses Ding, das einfach nur dastand, den übergroßen, leuchtenden Vollmond im Rücken, wie eine Art Portal, ein Portal in eine andere Welt, eine Welt der Angst und der Qual, löste in ihm eine nie zuvor auch nur ansatzweise gedachte, geschweige denn gespürte Panik aus. Er wollte sich umdrehen, wegrennen, dieses Bild aus seinen Erinnerungen verbannen, aber dieser Anblick, der eine solche Furcht in ihm auslöste, war auf eine nicht zu beschreibende Art und Weise faszinierend, sodass er sich eigentlich gar nicht abwenden wollte.
In dem Moment, in dem er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, spürte er einen unbeschreiblich heftigen Stoß in den Rücken, der sich anfühlte, als würden all seine Innereien in einer riesigen Weinpresse gleichzeitig zerdrückt, und noch ehe er überhaupt wusste, wie ihm geschah, da...
...erwachte er. Es passierte so plötzlich, dass er im ersten Moment nicht einmal wusste, ob er nicht immer noch träumte.
Vorsichtig tastete er, soweit es ihm möglich war, seinen Rücken ab. Nichts, keine Schmerzen, und er fühlte sich unversehrt wie immer an. Trotzdem beruhigte ihn das nur teilweise. Bisher hatten seine Träume allesamt damit aufgehört, dass er erwachte, kurz bevor etwas geschah. Diesmal allerdings war etwas geschehen.
Hoffentlich, dachte Tado, würden seine Träume von nun an nicht noch länger werden, sodass er womöglich eines Tages noch mitten im Schlaf starb... Dieser Gedanke hatte irgendwie etwas Beunruhigendes.
Er setzte sich auf. Es schien noch immer finstere Nacht zu sein. Sehen konnte Tado natürlich nichts, da sie sich ja in einer Höhle befanden, und die Aonarier alle Feuer gelöscht hatten. So beschloss er, wider seiner inneren Stimme, die vehement dagegen anschrie, sich noch einmal hinzulegen.