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FRIESISCH MILD

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Ein Turm, schiefer als der in Pisa, Seeräubermythen und Fischerromantik: Ostfriesland hat mehr zu bieten als plattes Land und Wind.

TEXT: Sven Bremer

FOTOS: Martin Kirchner

Irgendwas stimmte nicht, irgendwas war diesmal anders in Ostfriesland. Die Deiche und Weiden waren immer noch genauso sattgrün wie sonst auch, der Himmel immer noch so weit über der topfebenen Landschaft. Die Türme der wuchtigen Backsteinkirchen waren immer noch so schief und die Dörfer im Hinterland der Nordseeküste noch genauso gemütlich wie verschlafen. Und die Menschen grüßten auch weiterhin mit einem herzhaften „Moin“, was sie hier bekanntlich auch noch kurz vor Mitternacht machen. So weit, so ostfriesisch. Aber was zum Teufel war anders als bei meinen vorherigen Touren?

Schon bald nach dem Start in Leer rollen wir hinterm Emsdeich auf das kleine Fischerdorf Ditzum zu. Dort gibt es am Hafen nicht nur astreine Krabbenbrötchen, sondern auch eine Fähre, die Radler hinüberbringt nach Emden. Wir passieren zahlreiche Schafgatter, die dafür sorgen, dass das liebe Vieh nicht reißaus nimmt.

Die Gegend hier nahe der niederländischen Grenze wird auch das „Endje van de Wereld“ genannt. Weite Teile liegen unterhalb des Meeresspiegels. Immer wieder haben die Ostfriesen hier nasse Füße bekommen, mehrere Dörfer sind einst im Dollart versunken. Der Sage nach sollen Seeleute die Spitzen der abgesoffenen Kirchtürme gesehen und sogar das Glockenläuten der Gotteshäuser gehört haben.

Hätte es damals schon Windräder gegeben, dann wären die sicherlich auch zu sehen gewesen. Und endlich klingelt es bei mir. Beim Anblick der Windkraftanlagen am Wegesrand wird mir klar, was diesmal so anders ist. Schlaff und reglos stehen die Windräder in der Weite der Landschaft herum, die riesigen Rotorblätter drehen sich keinen Millimeter. Es ist nicht nur zu wenig Wind, es ist windstill. Das kommt in Ostfriesland ungefähr so oft vor wie Schnee auf den Malediven. Auch der Fährmann von der Ditzumer Fähre schaut ungläubig auf seine schlaff am Mast hängenden Fahnen und sagt: „Da habt ihr ja man Glück gehabt, vor zwei Tagen hat’s noch so geweht, dass uns fast die Passagiere von Bord geflogen sind.“ Meistens weht es hier oben aus westlicher Richtung. Windstärke sechs ist gar nichts in Ostfriesland. Aber heute? Kein Windhauch weht von der Nordsee herüber.


Das Zwischenahner Meer ist der drittgrößte Binnensee Niedersachsens.


Der Pilsumer Leuchtturm hat Kultstatus.

Daran ändert sich auch in der Krummhörn nichts. Ostfriesischer ist Ostfriesland nirgendwo sonst, sagt man. Und schon nach ein paar Kilometern weiß man auch, warum es heißt, dass die Ostfriesen schon morgens sehen können, wer am Nachmittag zum Tee kommt. So platt ist das Land hier hinterm Deich. Nur die Dörfer in der nordwestlichsten Ecke Deutschlands wurden einst auf sogenannten Warfen errichtet, zumeist kreisrunden Erdhügeln. Zum Schutz vor den Sturmfluten, die so sicher wie das Amen in den Kirchen hereinbrachen. Auf die Idee, Deiche zu bauen, waren die Ostfriesen nämlich erst später gekommen. Aus den Dörfern ragen teils bedenklich schiefe Kirchtürme heraus, weil die massiven Backsteinbauten auf dem viel zu weichen aufgeschütteten Boden absackten. Der Kirchturm in Suurhusen lässt mit einer Neigung von 5,19 Grad sogar den Schiefen Turm von Pisa deutlich hinter sich.

Unser Weg führt vorbei an Rysum, dem wohl hübschesten der insgesamt 18 Warfendörfer in der Krummhörn. In der kleinen und gar nicht schiefen Rysumer Dorfkirche steht eine der ältesten noch bespielbaren Orgeln der Welt. Wenig später passieren wir den Leuchtturm von Campen: „Eiffelturm der Nordsee“ wird das 65 Meter hohe Ungetüm auch genannt. Es ist wenig los in Campen, das ändert sich ein paar Kilometer weiter schlagartig. Rund um den gelb-rot geringelten Pilsumer Leuchtturm ist solch ein Auflauf, als hätte jemand den Schlick der Nordsee in pures Gold verwandelt. Dabei ist der Pilsumer Leuchtturm ein Zwergenturm, gerade einmal elf Meter hoch. Aber als stummer Nebendarsteller in Otto Waalkes’ Kinofilm „Otto – Der Außerfriesische“ hat er nun mal Kultstatus erlangt.

Ein paar Pedalumdrehungen weiter auf dem Themenradweg „Seeräuber und Häuptlinge“ entern wir Greetsiel. Tagtäglich werden hier am Busparkplatz Horden von Touristen ausgespuckt, die für einige Stunden die kleinen Gassen bevölkern. Greetsiel sollte man sich deshalb am besten ganz früh am Morgen anschauen, wenn die Busse noch auf den Betriebshöfen in Wanne-Eickel oder sonstwo stehen. Dann liegen vielleicht auch noch die Krabbenkutter im Hafen. Wenn die Greetsieler Seeleute am frühen Abend wieder in den Hafen einlaufen, werden sie bereits von neugierigen „Sehleuten“ erwartet, die am liebsten gleich vom Kutter den „Granat“ kaufen – wie die Nordseekrabben auch genannt werden.


Pittoresk und menschenleer: das Hafenstädtchen Greetsiel in der Nebensaison.


Die schmalste Autobrücke Deutschlands führt über die Leda bei Amdorf.

In Marienhafe lagen früher auch Schiffe am Kai. Doch durch die Verlagerung der Küstenlinie liegt der Ort heute gut zehn Kilometer von der Nordsee entfernt im Binnenland. Einer, der hier im Mittelalter häufig anlegte, war Klaus Störtebeker. Der berühmt-berüchtigte Seeräuber ist allgegenwärtig. Es gibt Störtebeker-Kuchen, Störtebeker-Schinken, jedes Jahr das Störtebeker-Straßenfest und alle drei Jahre die Störtebeker-Freilichtspiele in Marienhafe.

Wir essen unseren Kuchen in Störtebekers Teestube im Schatten des Störtebeker-Turms der St.-Marien-Kirche. Störtebeker hatte sich dort nach seinen Beutezügen versteckt, bei denen er mit Vorliebe die „Pfeffersäcke“ der Hanse ausraubte und seine Beute anschließend – zumindest teilweise – unter den Armen verteilte. Unterstützt wurde der Pirat vom ostfriesischen Häuptling Widzel tom Brok, der im Clinch mit der Hanse lag. Das ist kein Ostfriesenwitz. Die ostfriesischen Herrscher im Mittelalter hießen tatsächlich Häuptlinge.


Rasenmäher und Stromerzeuger: Schafe und Windräder bei der Arbeit.

Einer der Hauptsitze der „Hoventlinge“ war damals Aurich, heute Kreisstadt und Stammsitz von Enercon, dem größten deutschen Hersteller von Windenergieanlagen. Alles ruhig am Firmengelände, noch scheint sich niemand Sorgen zu machen über die anhaltende Flaute in Ostfriesland. Kritiker der Windenergie nörgeln ja gern mal über die „Verspargelung“ der Landschaft. Aber Umfragen haben ergeben, dass sich die Wenigsten an den mehr als 1.000 Windkraftanlagen in Ostfriesland stören. Und für Radler erweisen sich die Dinger sowieso als äußerst praktisch: Zeigen sie doch zuverlässig an, woher der Wind weht. Normalerweise. Kaum zu glauben, aber wahr, auch auf dem Weg nach Dangast am Jadebusen weht kein Lüftchen. Meinem Mitradler Martin, bekennender „Windphobiker“, gefällt das außerordentlich gut. „Ich hasse Wind“, hatte er schon bei der Reiseplanung zwischen den Zähnen hervorgepresst. Er behauptet, Wind gäbe es ausschließlich als Gegenwind, und er würde lieber dreimal hintereinander nach L’Alpe d’Huez hochfahren als eine Stunde gegen den Wind.

Wir gondeln jedenfalls gemütlich bei Windstille am Jade-Ems-Kanal entlang und gewinnen locker das Rennen gegen ein Motorboot mit dem schönen, aber unpassenden Namen „Tornado“. Kurz vor Jever gönnen wir uns in einem gemütlichen Dorfkrug eine Tasse Tee. Man sieht es uns sogar nach, dass wir ihn schwarz trinken statt klassisch ostfriesisch – nämlich mit Kandis und Sahne. Vielleicht liegt es ja daran, dass wir die Grenze von Ostfriesland nach Friesland überfahren haben – ohne es gemerkt zu haben.

In Richtung Ammerland radeln wir entlang der hier so typischen Wallhecken. Ansonsten ist alles beim Alten. Nach wie vor kein Wind, was auch Frank Bullerdiek, Tourismus-Chef im Ammerland, arg wundert. „Hier haben wir im Schnitt eine Windstärke weniger als an der Küste, aber eigentlich weht es auch bei uns immer ordentlich.“ Sagt’s und schaut übers Zwischenahner Meer, wo in der Abenddämmerung ein paar Segelboote über das spiegelglatte Wasser motoren.

Auch das Ammerland ist platt wie eine Flunder. Die höchste Erhebung der gesamten ostfriesischen Halbinsel ragt gerade einmal 20 Meter in den Himmel, die härtesten Anstiege beschränken sich auf die Deiche und die Autobahnbrücken.

Gemeinsam mit dem leidenschaftlichen Radler nehmen wir die letzte Etappe in Richtung Leer in Angriff. Und schon beim Aufstehen weiß ich Bescheid. Die Fahne vor dem Hotel knattert im Wind, meine am Abend zuvor sorgsam aufgehängten Radklamotten sind auf der Terrasse verteilt – der Wind ist zurück. Es geht westwärts, zunächst durch die Gärten und Parks des Ammerlands und schließlich immer entlang der Leda. Weil der Zufluss der Ems in Schlangenlinien durchs Overledingerland mäandert, haben wir den Wind mal von der Seite, kurzfristig sogar Rückenwind, aber meistens genau von vorn.


Historisch: alte Waage und Börse im Hafen von Leer.

INFO MEHRTAGESTOUR305 km, 453 Hm
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