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MECKLENBURGER SEENPLATTE

Müritz


Übergang: Auch der Malchower See ist keine Sackgasse. Die Seenplatte ist über viele Kilometer schiffbar.

SEENSUCHT

Ganz oben rechts in Deutschland lockt das Land zwischen den Silberspiegeln der Mecklenburger Seenplatte. Eine See-Fahrt in fünf Etappen.

TEXT & FOTOS: Jörg Spaniol

Bräsig. Ja, vielleicht ist bräsig das richtige Wort zur Beschreibung dieser sonntagnachmittäglichen Stimmung in Boek, wo offenbar die Straße endet: Eine sehr ungeschminkte Frau um die vierzig sitzt vor dem Haus und schaut ihrem Sohn halb fokussiert beim Rasenmähen zu. Der Halbwüchsige umkurvt auf einem Rasentraktor sechs, sieben Apfelbäume. Wir fahren vorbei und bleiben Minuten später im Sand stecken. Ende der Ausbaustrecke, ohne Vorwarnung – ganz offensichtlich haben wir den Radweg verloren. Umdrehen, zurück nach Boek, um ihn wiederzufinden. Die Frau in der weißen Kittelschürze sitzt noch immer reglos auf der Bank. Der Sohn mäht noch immer zwischen den Apfelbäumen. Neue Straße, zweiter Versuch, neuer Fehlschlag in Sand und Brombeeren. Boek ist offenbar ein Schwarzes Loch im Wegenetz, unentrinnbar. Und in Boek sitzt die Frau mit den verschränkten Armen auf der Bank in der Sonne zwischen den Apfelbäumen. Was soll sie hier auch sonst tun, in der grünen Hölle des Müritz-Nationalparks? Sie hat dann schließlich zwei Radler gerettet und ihnen den Weg gezeigt. Eigentlich war er kaum zu verfehlen. Nachher weiß man es immer besser.


Tunnelblick: In den Alleen bilden die Zweige ein schattiges Dach.


Schilfbürger: In den Uferzonen des Müritz-Nationalparks leben viele Vogelarten.

Im Herzen der Mecklenburgischen Seenplatte erwartet Ortsfremde eine Natur, deren Dramatik sich vor allem aus Wasserflächen, Weite und Menschenleere speist. Radler aus Ballungsräumen lieben so etwas, also hat man ein fast flächendeckendes Netz aus Radwegen darübergebreitet. Lokale Wege wie der rund um die Müritz sind dabei, aber auch Fernrouten wie die von Berlin nach Kopenhagen oder der Mecklenburgische Seenradweg. Wir dagegen haben uns für eine eigene Route entschieden, für eine Art „Best of Meckpomm“-Strecke, komponiert nach den Tipps eines Gebietskenners. Weil die nicht immer auf Radwegen verläuft, ist das GPS dabei.

Die Linie auf dem Display gibt uns außerdem das beruhigende Gefühl, nicht komplett im Land der Riesen verlorengegangen zu sein. Nördlich der Müritz enden fast alle Ortsnamen auf „-ow“ und die Mais-, Raps- und Getreidefelder wirken groß genug, um auf ihnen einen eigenen Kleinstaat zu gründen. Am fernen Feldrand stehen Alleebäume wie penibel hintereinandergesteckte Brokkoliröschen, und die Bauern bedienen die wohl größten Traktoren und Mähdrescher westlich des Urals. Einer dieser Äcker mit endlosen Furchen wirkt dennoch ungewöhnlich belebt. 300 Meter entfernt stehen große graue Tiere im grünen Flaum der Getreidesaat. Es sind Kraniche, bestimmt 100 dieser Riesenvögel, gegen die selbst ein Storch zierlich wirkt. Zehntausende ziehen im Herbst über Deutschland, und in der Mecklenburgischen Seenplatte legen sie besonders ausführliche Rast ein.

Auch ein älterer Bauer ist stehen geblieben und schaut ruhig zu, wie die langen Schnäbel seinen Acker plündern: „Die Russen haben sie geschossen und sie aufgegessen“, erzählt er. „Und in unserer LPG waren im Herbst immer zwei Mann abgestellt, die sie verscheucht haben. Aber heute, bei den modernen Flächenerträgen, ist es fast egal, was die anrichten.“ Dass die Bauern zugunsten des Artenschutzes Entschädigungen für Kranich-Schäden bekommen, dürfte seine Entspannung begünstigen. Die Kraniche selbst sind weit weniger entspannt: Den Versuch, für ein Foto näher als 200 Meter heranzukommen, quittiert die Truppe mit lautem Geschrei. Sekunden später heben alle ab. Sie werden auch in den kommenden Abenden den Himmel beleben. Schwarze, unüberhörbare Wolken aus Tausenden dieser Riesenvögel, die sich zu abgeknickten V-Linien formieren, bevor sie im letzten Licht des Tages ihre versteckten Schlafplätze ansteuern – stehend, im flachen Wasser. Weit genug weg von den Menschen zu sein fällt ihnen hier nicht schwer. Auch jenseits von Nationalpark und Naturschutzgebieten sorgt die geringe Bevölkerungsdichte für reichlich Ruhe in der Landschaft. Ein Phänomen, das nicht nur erfreuliche Gründe hat. Ein wichtiger davon heißt „Landflucht“.

Ein großes, weites Agrarland ist die Gegend seit Jahrhunderten. Schon vor der Kollektivierung zu riesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der DDR dominierte der Großgrundbesitz. Seine baulichen Reste sind heute bröselnde Kathedralen der Landwirtschaft, turmhoch aus Backstein gemauerte Hallen, Schlösser, Stallungen. Heute, nach dem Ende von DDR und Preußens Gloria, gibt es für etliche dieser Güter keine echte Verwendung mehr. Brombeeren umklammern eiserne Gitter, hinter denen sich der einstige Glanz noch gut erahnen lässt. Wer den erfolgreichen Kinofilm „Das weiße Band“ gesehen hat, fühlt sich an dessen Schauplätze versetzt – und das gilt stellenweise auch für die Straßenbeläge: Der Film spielt vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, also vor gut 100 Jahren. Die Kutschen rappeln über Pflaster und schlingern im Sand. Einige Ortsdurchfahrten haben sich diesen Charme erhalten. Dort sind wir froh über unsere etwas fetteren Pneus.


Prachtstück: Schloss Basedow und die Gutsanlage sind Touristenmagneten.


Spitze: Auf der Landzunge einer großen Bucht der noch viel größeren Müritz sticht die Backsteinkirche von Röbel himmelwärts.


Gutsherrenart: Gut Briestow erinnert an vergangene Zeiten.

Beim Malchiner See – von der Ostsee bei Rostock trennen uns hier nur noch 60 Kilometer Luftlinie – kulminiert die Runde. Auch die Mecklenburger haben ihre Schweiz, und auch die Mecklenburger Schweiz ist abwechslungsreich, kleinräumig und ausgesprochen bucklig, ganz wie die anderen Schweizen in Deutschland. Breitschultrige Backsteinkirchen setzen rote Punkte in die Landschaft, am Rand kleiner Ortschaften irgendwo im Grün stehen Vielfamilienhäuser im Beigegrau eines Erich-Honecker-Anzuges. Nordostdeutschland im Retrolook, einmal mehr erschlossen durch eine ausgeklügelte Linie auf dem Lenker-Navi. In Teilen der flachen Seenplatte verrieten nur vorbeiziehende blaue Flecken auf dem Gerät, dass außerhalb des dichten Waldes und hinter dem schier endlosen Schilfgürtel gerade ein See vorbeizieht. Für Ausblicke sind dort hölzerne Türme und Plattformen nötig. Im Hügelland nördlich davon murrt die Begleiterin kurz über die steilen Anstiege – um sich dann über den Fernblick von den Hügelkuppen zu freuen. Die Aussicht lässt erahnen, warum diese große Weite kaum öde Geradeausstrecken hervorbringt. Außer den Wellen der Landschaft verdankt sie es vor allem den vielen darin versteckten Seen. Es sind Hunderte, die in der Seenplatte und hier, der „Schweiz“, umfahren werden wollen.

Der größte ist die Müritz, wo Fremdenverkehrsorte wie Waren, Klink oder Röbel mit Uferpromenaden, Grünanlagen und Badestränden protzen und der Wind weiße Segel seitwärts neigt. Die Saison ist lang, Berlin und Hamburg liegen nahe genug für Wochenendausflüge. Für einen geselligen Badestopp sind die wohlpräparierten Strände der großen Seen mehr als okay, doch das Rad trägt einen auch dahin, wo die Spiegel kleinerer bis winziger Gewässer zwischen Schilf und Bäumen aufblitzen.

In einigen davon ist man mit Hecht und Saibling allein. Das teure Rad bleibt unabgeschlossen am Ufer liegen, niemand wird es bemerken. Bloß eine Libelle nutzt den Lenker als Aussichtspunkt. Ihren Kugelaugen entgeht rundum fast nichts. Ein Fischadler mit weißer Unterseite holt sich gerade mit ganz leisem „Plitsch!“ einen Fisch. Auf der anderen Seite stehen Reiher unbewegt vor einem Schilfgürtel, aus dem unsichtbare Vögel keckern. Frösche quaken, hinter einem in der Ferne pflügenden Traktor kreisen fünf Störche.

Eine halbe Stunde später ist der Badesteg wieder verwaist. Der Pfad hat Anschluss gefunden an ein Betonplattensträßchen in den grünen Wellen Mecklenburgs. Wohin es führt? Vermutlich in einen Ort, der auf „-ow“ endet. Sehr wahrscheinlich auch zu einem anderen See. Aber ganz sicher in viele, viele Quadratkilometer dieser Landschaft mit rauem Charme unter einem niedrig aufgehängten Himmel.


Ostalgie: das DDR-Museum in Malchow.


Agrarsteppe: Sonst wachsen Raps und Mais auf den quadratkilometergroßen Äckern.

INFO MEHRTAGESTOUR260 km, 1.182 Hm

TOURCHARAKTER

Die Müritz ist das bekannteste Gewässer der Mecklenburgischen Seenplatte nördlich von Berlin. Mit ihren mehr als 100 Quadratkilometer Wasserfläche ist sie ein touristischer Hotspot. Nördlich schließt die sogenannte Mecklenburgische Schweiz an, ein hügeliger Landstrich um den Malchiner und Kummerower See. Den Startort, Waren an der Müritz, erreicht man sehr gut per Bahn.

UNTERKUNFT

Waren

Pension U-Nautic Sehr originell im Schiffslook dekorierte Pension mit Restaurant mitten in der Fußgängerzone. Lange Straße 15, Tel. 03991/663710, www.u-nautic.de

Linstow

Gutshaus Linstow Sorgfältig renoviertes Haus mit guter, auch vegetarischer Küche und nahem Badesee. Wer keine Kinder mag, ist hier verkehrt. Hofstr. 15, Tel. 0151/70512406, www.gutshaus-linstow.de

Bredenfelde

Schloss Bredenfelde Interessantes Konzept: ein renoviertes Schlösschen ohne elitäre Allüren. Dorfstr. 56–59, Tel. 039955/39777, www.schloss-bredenfelde.de

Neustrelitz

Alte Kachelofenfabrik Bezahlbare und lässige, eher „alternative“ Unterkunft auf einem ehemaligen Fabrikgelände mit Gastronomie, Kino und Galerie. Tel. 03981/237096, www.basiskulturfabrik.de

ESSEN & TRINKEN

Der Landstrich bietet eine große Auswahl an frischem Süßwasserfisch. Sehr zu empfehlen ist das Restaurant Klabautermann in Waren, winziges Fischlokal mit etwas Tanzteecharme nahe der Müritz. Sehr freundliche Wirtsleute. Marktstraße 1, www.klabautermann-waren.de

SEHEN & ERLEBEN

In Waren informiert das Müritzeum anschaulich und unterhaltsam über die Natur der Region. Viele Tierpräparate und Aquarien. Zur Steinmole 1, www.mueritzeum.de

TOURIST-INFO

TV Mecklenburgische Seenplatte Röbel/Müritz, Turnplatz 2, Tel. 039931/5380, www.mecklenburgische-seenplatte.de

TV Mecklenburg-Vorpommern Rostock, Tel. 0381/4030550, www.auf-nach-mv.de/radwandern


LANDFLUCHT

Leere Immobilien gibt es viele, funktionierende Ideen dafür eher selten. Torsten Dietzel und Franziska Hesse scheint jedoch ein Treffer geglückt: Die zwei Städter kauften das zerbröselnde Gutshaus Linstow und verwandelten es in ein unaufgeregt schönes Hotel, das vor allem Familien schätzen. „Außerdem machen wir den besten Kaffee zwischen Berlin und Rostock“, wirbt Dietzel selbstbewusst.


Zugepflastert: Die Steinbeläge mancher Ortsdurchfahrten zwingen zu festem Griff am Lenker.


TAG 1 Waren – Müritz-Nationalpark – Rechlin – Ludorf – Röbel

52 km, 96 Hm

Fast ausschließlich Radwege – die Müritz-Umrundung ist sehr beliebt.

TAG 2 Röbel – Göhren-Lebbin – Malchow – Nossentiner Heide – Gutshaus Linstow

50 km, 120 Hm

Ruhige Landpartie auf Nebensträßchen. Für die Mittagsrast Malchow einplanen.

TAG 3 Linstow – Malchiner See – Schloss Basedow – Bredenfelde

64 km, 509 Hm

Die Mecklenburgische Schweiz macht diese Etappe so attraktiv wie wellig.

TAG 4 Bredenfelde – Ankershagen – Penzlin – Neustrelitz

53 km, 296 Hm

Ruhige Landpartie auf Nebensträßchen.

TAG 5 Neustrelitz – Kratzeburg – Müritz-NP – Waren

41 km, 161 Hm

Stille Wälder und kleine Seen.

Radurlaub in Deutschland

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