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Kapitel 6

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14. Dezember, 09:58

Meyer und Steiner klopften eine halbe Stunde später an einer Wohnungstür in einem schäbigen Block aus den Sechzigerjahren an der Röntgenstrasse westlich des Hauptbahnhofes. Die Tür öffnete sich. Jedoch nur, weil sie angelehnt war. Auf leisen Sohlen betraten Meyer und Steiner die Wohnung.

Die beiden warfen einen Blick ins Wohnzimmer. Die Sitzmöbel – eine Couch und ein Sessel – waren mit schwarzem Samt überzogen. An der Wand hing ein grosser Plasmafernseher. Auf dem dunkelgrauen Marmortisch, auf der Couch und auf dem Boden lagen diverse Magazine – einige geöffnet, einige zugeklappt mit dem Cover nach oben. Es handelte sich allesamt um Pornomagazine. Nackte Frauen, ihre Brüste umklammert, hatten sinnlich mit halboffenem Mund in die Kamera geschaut, als sie abgelichtet wurden. Ebenfalls lagen haufenweise DVD’s herum. Die leeren DVD-Hüllen verrieten, dass die Scheiben ebenfalls solches Material enthielten.

Der Besitzer verfügte über eine ansehnliche Sammlung von Kuckucksuhren. Als die Turmuhr der nahen St. Josefs-Kirche zehn Uhr schlug, öffneten sich mit Ausnahme einer Uhr die Türchen und die Kuckucke wurden auf einer Rollschiene nach aussen befördert. Meyer wandte sich der offensichtlich hinten nach hinkenden Uhr zu und beugte sich zu ihr herunter, um auf Augenhöhe mit der Tür zu sein. Als diese ebenfalls zehn Uhr schlug, öffnete sich die Tür und ein Boxhandschuh schlug ohne Vorwarnung dem ebenso überraschten wie verdutzen Meyer ins Gesicht. Der Kommissar, dessen Reflexe versagten, taumelte. Steiner fing ihn auf, bevor er rückwärts in den Flachbildfernseher gestolpert wäre.

„Guter Trick!“, murrte Meyer, als er wieder Herr der Lage hatte.

„Sieh mal“, rief Steiner. Meyer drehte sich um, und sah, wie Steiner ein kleines Päckchen in der Hand hielt. Es ähnelte einer Medikamentenschachtel.

Meyer ging auf ihn zu.

„Gib mal!“

Steiner reichte Meyer das Päckchen. Es trug die Aufschrift ‚Viagra’.

„Sieht so aus, als müsste er nachhelfen!“, bemerkte Meyer grinsend und öffnete das Päckchen. Zwei Aluminiumbögen mit einer grossen Anzahl blauen Pillen glitten in Meyers Handteller.

„Sie verrichten jedenfalls gerade ihren Dienst“, sagte Steiner.

„Was?“

„Hör mal!“ Meyer legte den Zeigefinger auf seine Lippen.

Dumpf hörten sie Geräusche, welche sich beim Näher treten als lautes Stöhnen einer Männerstimme entpuppten. Dazwischen war gelegentlich ein kreischendes Quieken einer Frauenstimme hörbar.

Meyer und Steiner schauten sich stumm an, verliessen das Wohnzimmer und gingen langsam auf die geschlossene Türe zu, durch die diese Geräusche drangen.

„Oh ja Baby!“, schreite die von einem starken italienischen Akzent gezeichnete Männerstimme. Sie gehörte zweifelsohne Mario Calvaro.

„Der eindeutige Akt hinter dieser Tür gilt weniger der Liebe als der Rekrutierung neuer Prostituierten“, mutmasste Steiner philosophisch, worauf Meyer auf die Lippen beissen musste, um nicht laut loszubrüllen.

Wieder ein Quieken.

„Oh Mann!“, schrie Calvaro.

Steiner griff die Türklinke. Meyer hob den Daumen.

„Mach von hinten, mach!“, schrie eine Frauenstimme mit russischem Akzent. Das Stöhnen verstummte.

Meyers Zeigefinger gesellte sich zum Daumen.

„Immer wenn ich will!“, gurrte Calvaro und begann sofort wieder zu stöhnen.

Meyer reckte den Mittelfinger in die Höhe und Steiner öffnete in einem schnellen Zug die Türe.

Links von der Türe stand eine mit schwarzem Samt bedeckte Kommode, auf der eine Kerze brannte. Das Bett war wie die Kommode und die Wohnzimmermöbel mit schwarzem Samt überzogen. Auf dem Boden lag ein unordentlicher Kleiderhaufen. Eine hübsche dunkelhaarige Frau mit schmalem Gesicht und eher bleicher Haut kniete nackt auf dem Bett und stützte sich mit den Händen auf der Matratze ab. Mit weit aufgerissenem Mund starrte sie die Beamten an. Der Lustschrei war ihr im Hals stecken geblieben, als sie die beiden Polizisten erblickte. Sie wurde von Calvaro von hinten bestiegen, die Hände um ihre prallen Brüste gefasst. Eine schwere Goldkette baumelte im Rhythmus seiner Stossbewegungen vor der schwammigen Brust. Er hatte noch nicht bemerkt, dass sie Besuch erhalten hatten und stöhnte weiter. Er hielt den Kopf, die Augen geschlossen, im Nacken.

„Was ist los, Lilijana. Tut es weh?“, fragte er ungeduldig.

„Du gucken! Tür“, stammelte Lilijana. Calvano drehte den Kopf und öffnete die Augen. Beim Anblick der Beamten hielt er inne.

„Kann man nicht mal mehr das ungestört machen?“, knurrte er ungeduldig.

„Also bei uns gehen Vorstellungsgespräche ein klein wenig anders vonstatten“, konterte Meyer trocken, doch Calvaro ignorierte die Bemerkung; stattdessen schleuderte er den Beamten ein harsches „Was ist los?“ entgegen.

„Petrova ist tot!“ Meyer verzog keine Miene.

„Na und? Lilijana ist gut genug, nicht wahr?“

Lilijana nickte. In ihren Augen spiegelte sich das Unbehagen.

„Wo waren Sie vorgestern?“

„Ich war arbeiten, den ganzen Tag. Als ich am Abend Petrova instruieren wollte, war sie nicht da!“

„Wer waren ihre Kunden?“, fragte Steiner.

“Was?“

„Welche Freier haben sie gefickt?“

„Ah. Warten Sie!“

Calvaro löste sich aus der Verkeilung mit Lilijana.

„Sie drehen sich um!“

„Angst, dass wir über ihr kleines Würstchen lachen?“, grinste Steiner.

Die beiden Beamten drehten sich um.

„Jetzt können Sie schauen!“

Lilijana lag auf dem Rücken und zappte sich durchs Fernsehprogramm. Calvaro hatte einen Bademantel angezogen, welcher in der Hüftgegend mit einer riesigen Kordel verknotet war.

Er befahl den Beamten, ihm ins Wohnzimmer zu folgen und wies sie an, sich zu setzen. Dann verschwand Calvaro wieder und kam wenige Augenblicke mit dem Buch zurück, in dem er bereits am Sihlquai geblättert hatte und Petrovas Foto entnommen hatte. Er nahm eine Kopie aus dem Buch und reichte sie den Beamten mit den Worten „Sie kommt nicht mehr zurück. Schade. War ein gutes Mädchen!“

den Beamten.

„Was ist das?“, erkundigte sich Meyer.

„Eine Liste mit allen Freiern. Aus Sicherheitsgründen sind wir verpflichtet, über alle Gäste Buch zu führen. Jeder Freier muss sich auf einer Liste eintragen, quasi wie in einem Gästebuch eines Hotels. Das ist eine Kopie, können Sie behalten!“

Lilijana lag immer noch auf dem Bett und zappte sich durch die morgendlichen Wiederholungen der Telenovelas des vergangenen Nachmittags. Sie verstand kaum ein Wort, verstand aber das Prinzip, weil es im Kosovo in jedem Sender auch mindestens zwei dieser täglichen Serien mit dem ewigen Kampf für die Liebe einer Frau zu einem meist verheirateten Mann gibt.

Da kam Calvaro wieder zurück ins Zimmer. Er nahm sie regelrecht gefangen, das Studium war nur ein Vorwand, sie in die Schweiz zu locken. Lilijana wusste ganz genau, was der Italiener mit ihr vorhatte: Sie sollte als Prostituierte arbeiten und er bewertete mit seiner Vögelei sozusagen ihre Fähigkeiten. Obwohl sie ziemliche Angst hatte, hatte sie Calvaro vorgemacht, dass sie alles hier sehr lieben würde.

„Endlich sind Sie weg. Jetzt sind wir wieder ungestört!“, sagte Calvaro und legte den Morgenmantel ab. Sie wagte seinen nackten Körper kaum anzusehen, ohne dass in ihr die Erinnerungen an die ewigen Peinigungen hochkamen. Sie war für ihn nur ein Objekt, etwa gleich viel Wert wie eine Gummipuppe. Er umrundete das Bett und bückte sich vor den Nachttisch neben Lilijana. Aus der obersten Schublade nahm er ein kleines Säckchen, gefüllt mit weissem Pulver, Kokain, sowie eine Rasierklinge.

Er schloss die Schublade und leerte ein kleines Häufchen des Kokains auf das Holz des Tischchens und formte es mit der Rasierklinge zu einer Strasse. Er bückte sich nieder und zog sich den Stoff durch die Nase rein.

„Droge?“, fragte Lilijana zaghaft.

Calvaro schaute sie an, lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, ist ganz gute Ware! Du bist dran!“

Sie schaute ihn skeptisch an. „Ich will nicht!“

„Du musst!“, sagte Calvaro bestimmt und wiederholte die Prozedere des Kokains. Dann griff er zu einem Trinkhalm, der in einem leeren Martiniglas auf dem Tisch lag und reichte ihn Lilijana. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Halm.

„Ganz sanft einatmen! Ist nicht schlimm!“

„Echt?“, sagte sie leise.

Calvaro nickte.

Sie bückte sich zum Tisch, Calvaro senkte seinen Kopf zu ihren Brüsten und begann, an ihrer rechten Brustwarze zu saugen. Seine Zunge tanzte um den hart gewordenen Nippel, während Lilijana das Koks durch die Nasenlöcher zog.

Sofort begann die Droge zu wirken, die Realität schien ihr zu entfliehen. Sie merkte nur noch, wie sie wehrlos war, als Calvaro sie auf den Rücken drehte, die Beine auseinanderstiess und sich auf sie legte.

Mit grosser Zufriedenheit drang Calvaro in Lilijana ein. Der Drogenrausch kam ihr gelegen, sie wird sicherlich keine Gegenwehr mehr leisten.

Kurz vor elf Uhr verliess Menevoie den TGV am Gare de Lyon. Er hatte seinen Auftrag erfolgreich absolviert und nach der kurzen Nacht an der Place de l’Horloge war er in der Früh um 6 Uhr am Gare d’Avignon Centre in den ersten TGV nach Paris gestiegen. Da er knapp sechs Stunden geschlafen hatte, war er noch müde, hatte jedoch im Barwagen des Zuges bereits sein Frühstück eingenommen und die neuste Ausgabe der Le Monde gelesen. Die meiste Zeit der Bahnfahrt hatte er dennoch verschlafen.

Um den Auftrag abzuschliessen, musste er nur noch ein Telefonat an R’s Büro in Moskau führen. Obwohl die Nummer samt der internationalen russischen Vorwahl ziemlich lang war, kannte sie Menevoie in- und auswendig. Er ging auf schnellstem Wege zu einer der Telefonzellen und legte den Hörer auf die Schulter, während er die Nummer tippte.

Doch das schlechte Gewissen nagte an ihm. Wie viele Frauen hatte er entwürdigt? Wie viele hatte er, die er nicht als würdig empfunden hatte, ihren Sinnen beraubt und unter Drogeneinfluss in den Canal St-Martin gestossen? Er wusste es nicht. Schon vor Jahren, als er noch beim Ministerium angestellt war, hatte er mit dem Zählen aufgehört.

Noch bevor er die letzte Ziffer gewählt hatte, warf Menevoie den Hörer auf die Gabel und stürmte aus der Telefonzelle in die mit Weihnachtsbäumchen und Lichterketten fast zu festlich geschmückte Einkaufspassage.

Als er unterhalb des Nobelrestaurants Le Salon Bleu stand und die mit gepfefferten Preisen gesäumte Speisekarte studierte, traf er eine Entscheidung.

Meyer und Steiner waren nach dem Verlassen von Calvaros Wohnung nach einem kurzen Abstecher zu einer Döner-Bude an die Kasernenstrasse zurückgefahren. Während der Autofahrt – Steiner hatte am Steuer gesessen – hatte Meyer einen Blick auf die Seite aus Calvaros Buch geworfen. Er hatte sich mit einer Liste beschäftigt und die einzelnen Punkte gezählt. Die Liste bestand aus Namen.

„Meine Güte“, seufzte Meyer, als sie auf den Eingang des Polizeigebäudes an der Kasernenstrasse zugingen, „die hatte nur 15 Freier – die dafür mehrmals ran durften!“

„Hab gar nicht gewusst, dass Nutten wählerisch sind“, bemerkte Steiner trocken.

„Sieht jetzt so aus. Rate mal, wer drauf ist?“

„Keine Ahnung!“ Steiner zuckte mit den Schultern. „Sicher irgendwelche Promis, die sonst wohlbehütet mit ihren Frauen auf Cüplipartys gehen!“

„Nicht nur! Auch solche, die einen Freund haben!“

„Was?“

Stumm hielt Meyer seinem jungen Kollegen das Papier vor die Nase. Mit dem rechteh Zeigefinger unterstrich er einen Namen: FRANZ GUTZWILER

„Gerade der, der mit erzkonservativen Ansichten gegen Homosexuelle und Prostitution vorgeht, tritt selber in dieser Szene auf!“, knurrte der Kommissar.

„Jetzt haben wir eine Verbindung zwischen zweien der Opfer!“, johlte Steiner.

„Aber das sagt uns nichts über das Motiv aus. Und schon gar nicht, wer die Unbekannte ist!“

„Was machen wir jetzt?“, fragte Steiner nach einigem Schweigen.

„Erstmals finden wir was über Petrova heraus. Vielleicht kann jemand aus ihrem Umfeld sagen, wer die unbekannte Tote ist“

„Und dann?“

„Dann werden wir mal eine Befragung dieser Freier hier durchnehmen. Vielleicht finden wir ja jemand, der keinen Aufpreis mehr zahlen wollte, oder so“

„Okay. Übrigens, Gian! Dein Auge wird langsam blau!“

„Na und?“, entgegnete Meyer cool. „Ich bin ja auch oft blau!“

Steiner schüttelte nur den Kopf.

Am Empfang händigte Meyer Fräulein Roggenmoser die Liste mit den Freiern aus.

„Alles klar, Herr Kommissar?“ Der Running-Gag begann langsam wirklich zu nerven!

„Ja!“ Dann halt gute Miene zum bösen Spiel.

„Was haben Sie für ein blaues Auge, Herr Kommissar? Haben Sie sich eine Schlägerei geliefert?“

„Er ist von einer Kuckucksuhr ausgeknockt worden!“, prustete Steiner dazwischen, worauf er von Meyer zur Seite gestossen wurde.

„Sorgen Sie dafür, dass alle diese Leute auf der Liste hier aufkreuzen. Wenn sie sich weigern, dann veranlassen Sie das Holen mit Polizeigewalt!“, sagte Meyer ernst.

„Ist mir ein Vergnügen, Herr Kommissar!“

Schnurstracks eilte er Steiner nach, welcher bereits den Knopf für den Aufzug am Ende des Flurs gedrückt hatte.

In der Aufzugskabine schauten sie sich an.

„Und? Wer war’s deiner Meinung nach?“, wollte Meyer wissen.

Steiner zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Calvaro ist ja der einzige, den wir kennen!“

„Aber er ist unser Hauptverdächtiger!“

„Wieso?“

„Er ist das Bindeglied zwischen den Toten!“

„Gutzwiler ja auch!“

„Dann finden wir ihn!“

„Er steht als hochrangiger Politiker unter Amnestie, schon vergessen?“

Meyer und Steiner entstiegen dem Aufzug im dritten Stock und betraten ein Grossraumbüro. Am Eingang griff sich Meyer ein Klemmbrett, welches in einem Halter an der Wand gelegen war. Der Raum bestand aus zehn schachbrettartig angelegten Würfeln, wovon jeder Würfel mit Trennwänden geviertelt wurde, so dass vierzig identische Arbeitsplätze mit Computerausrüstung zur Verfügung standen. Die beiden Beamten gingen durch die Reihen. Rund ein Drittel der Arbeitsplätze war besetzt. Dieses Büro war für diejenigen Kriminalbeamten reserviert, welche vorwiegend im Aussendienst arbeiteten und nur für das Verfassen eines Berichtes Computer benutzen müssen.

Sie traten auf einen Beamten zu, welcher krampfhaft handgeschriebene Notizen digitalisierte.

„Guten Morgen!“

Der Beamte fuhr erschrocken herum. Als er Meyer und Steiner erblickte, wischte er sich verlegen eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Guten Morgen, Kommissar Meyer und Kommissar Steiner!“

„Also Kommissar bin ich noch nicht!“, grinste Steiner.

„Also, Herr…“Meyer warf einen Blick auf das Klemmbrett, „…Ammann. Wir haben was für Sie.“

„Aber ich muss zuerst meinen Bericht fertig schreiben!“

„Das kann warten!“ Meyer klebte einen gelben Post-it-Zettel auf Ammanns Tastatur. Auf dem Zettel prangten die Buchstaben ‚MARIA PETROVA’

„Finden Sie alles über diese Frau heraus. Sollte im Nuttenregister vermerkt sein“

Der Begriff ‚Nuttenregister’ stand in der polizeilichen Umgangssprache für eine Datenbank, in der alle legal amtierenden Prostituierten der Stadt Zürich und des nahen Umlandes – Gemeinden wie Schlieren, Wallisellen oder Uitikon – registriert sind. Die Nuttenregistrierung war, genauso wie die von Calvaro erwähnte Buchführung über Freier, ein wichtiges Element zur Sicherung der Prostituiertenrechte. Wenn ein Freier gewalttätig würde oder sonst unangenehm gegenüber der Prostituierten, so kann infolge der Buchführung der fragliche sofort ermittelt werden. Nebenbei kann die betroffene Prostituierte – sofern sie legal in der Schweiz ist – für mehrere Wochen in Schutzhaft gestellt werden, bis das Verfahren gegen den Freier abgeschlossen ist.

Erschöpft setzte sich Meyer auf seinen Schreibtischstuhl und fuhr herzhaft gähnend seinen Computer aus dem Standby hoch. Während er seinen Benutzernamen und das Kennwort eintippte, schweiften seine Gedanken zu den beiden toten Prostituierten. Er überlegte sich, wieso die beiden ausgerechnet diesen Weg eingeschlagen hatten. Zugegebenermassen, sie stammten aus Osteuropa und besagtes Klischee – dass Osteuropäerinnen im Westen vielfach auf den Strich gehen – ist nicht ganz an den Ohren herbeigezogen.

Plötzlich tauchte einer der beiden Prostituierten vor ihm auf, nur mit einem BH und einem Slip bekleidet. Die Haut war an jeder Körperstelle makellos; auf ihre Proportionen könnte manches Topmodel neidisch werden. Meyer glaubte, anhand des Gesichtes Maria Petrova erkennen zu können. Lautlos formte sie mit den Lippen das englische Wort für ‚kommen’: „Come!“ Sie krümmte den Zeigefinger mehrmals und fuhr mit der Zunge sinnlich über ihre vollen Lippen, um Meyer anzulocken. Der Kommissar wusste nicht, wie ihm geschah. Petrova nestelte an ihrem BH herum. Plötzlich ertönte ein durchdringender Piepston und Maria Petrova verflüchtigte sich. Meyer schrak auf – und merkte, dass er eingeschlafen war. Das Piepen hatte aufgehört, rundherum glotzten ihn alle mit Froschaugen an und lachten schallend.

„Was ist los?“, brummte Meyer,

Steiner konnte sich vor Lachen kaum mehr halten:

„Du bist…“, prustete er los und fiel beinahe von seinem Stuhl, „eingepennt und mit dem Kopf auf die Tastatur geknallt. Da du dadurch mehrere Tasten gleichzeitig ‚gedrückt’“ – er umrahmte dieses Wort mit von Händen gemachten Gänsefüsschen – „hast, und der Computer ratlos war, hat er stattdessen lieber gepiepst!“

„Gopferdammi nomal!“, entfuhr es Meyer.

Steiner machte eine beschwichtigende Geste und ging auf seinen Kollegen zu.

„Während deines Nickerchens haben wir unsere Resultate bekommen. Von Ammann und von Fräulein Roggenmoser. Die gute Ledige hat dich beim Schlafen sogar fotografiert!“

„Diese Ausgeburt der Hölle“, Meyer war immer noch mieser Laune – er merkte, dass er müde war. Er reckte sich und gähnte, während er die Unterlagen Steiners Händen entnahm. Auf einem Papier stand fein säuberlich mit einer Handschrift – unverkennbar Roggenmosers – das Adressverzeichnis aller Freier Petrovas. Ammann – er hatte seinem Mosern zum Trotz tatsächlich eine Suche unternommen – hatte ein weisses A4-Blatt ungefähr zu einem Drittel per Computer mit Informationen über Maria Petrova beschriftet. Meyer wandte sich Petrovas „Lebenslauf“ zu.

Maria Petrova war 1985 in Sofia geboren worden. Überraschenderweise waren ihre Eltern keineswegs arme Leute, ihr Vater arbeitete zunächst in einer hohen Position bei einem bulgarischen Erdölunternehmen in Varna am Schwarzen Meer. Nach der Wende 1989 wanderte die Familie nach London aus, wo Vater Petrov 1991 mit der Petrov Trading Ltd. eine mittlerweile florierende Handelsgruppe ins Leben gerufen hatte, die hauptsächlich in England, Schottland und Wales im Lebensmittel- und im Modedetailhandel tätig war.

Die Liste von Petrovas Freier enthielt ein paar sehr interessante Namen. Es waren einige darunter, welche in Zürichs höchsten Polit- und Wirtschaftskreisen verkehrten.

„Die Petrova war allem Anschein nach so etwas wie eine Edelprostituierte!“, bemerkte Meyer leise. „Aber man kann es ihnen nicht verübeln, Frauen über 45 sind halt sexuell nicht mehr attraktiv. Sehen aus wie ein Faltprospekt!“

Steiner grinste. „Tja, meine Freundin ist halt erst 24 und ein richtiger Spalt. Hättest dir nach deiner Scheidung auch eine junge anlachen müssen!“

Als Meyer mit Lesen fertig war, runzelte Steiner die Stirn.

„Wieso arbeitet eine Tochter aus gutbürgerlichem Hause als Prostituierte?“

Meyer zuckte die Schultern, gab aber preis, noch am selben Nachmittag eine Reise nach London zu unternehmen.

„Wieso?“, fragte Steiner.

„Um ihr Motiv, als Prostituierte zu arbeiten, herauszufinden! Und vielleicht erfahre ich ja auch, wer die namenlose Tote im Wohnwagen ist!“

„Na toll! Du machst jetzt Ferien! Und ich darf wie ein Esel hier blöd rumarbeiten und Spuren lesen! Vielen Dank!“

„Ramon! Das sind keine Ferien!“

„Aber…“

„Ich werde morgen Abend zurückkommen!“

„Was mache ich während dieser Zeit?“

„Du lässt alle Freier hierherhoppeln und befragst sie!“

„Aber…“

“Aber Ramon!“, grinste Meyer, „du wolltest doch immer Autorität haben! Jetzt hast du sie! Du jagst Polizisten durchs ganze Land und sie müssen dir gehorchen!“

Bevor Steiner reklamieren konnte, verliess Meyer das Büro und fuhr mit dem Aufzug zur Etage, wo sich das Büro vom Polizeipräsidenten Philipp Estermann befand.

„Sie wollen also eine Dienstreise nach London antreten?“, fragte der Polizeichef, nachdem er Meyers Papiere mit Argusaugen beäugt hatte.

„Ja. Wir haben die Angehörigen des im Shopville gefundenen Opfers ausfindig gemacht. Sie leben in London.“

„Meiner Ansicht nach können wir auch die Metropolitan Police damit beauftragen, die Nachricht zu überwinden.“

Meyer schüttelte den Kopf.

„Nein, ich will mit den Angehörigen selber reden!“

„Wieso denn?“, wollte Estermann wissen.

„Erstens besteht bei der mündlichen Überlieferung das Risiko einer Verdrehung der Geschichte und zweitens möchte ich nicht, dass ein Beamter, der noch nie was von Maria Petrova gehört hatte, ihren Eltern über den Tod ihrer Tochter Bescheid sagt!“

Estermann nickte. „Das verstehe ich. Kann es aber auch sein, dass sie noch rumschnüffeln wollen?“

„Naja“ Meyer wand sich verlegen. „Ich will mit den Eltern über die Verhältnisse und Beziehungen ihrer Tochter reden. Es ist ja äusserst merkwürdig, dass eine Tochter aus gutem Hause auf den Strich geht.“

„Okay. Ich werde die Metropolitan Police über ihren Besuch informieren. Sollte sie Ihnen personellen Beistand leisten?“

„Um Himmels willen, nein!“, winkte Meyer ab. „Kommt nicht in die Tüte!“

„Von mir aus“, seufzte Estermann, „Aber Sie ermitteln nicht! Denn in diesem Falle müsste ich die Bundesanwaltschaft darüber in Kenntnis setzten und die wiederum müssten das britische Innenministerium informieren. Das wäre dann ein bürokratischer Wahnsinn, und für den haben weder ich noch Dr. Göhner Zeit.“

„Ich verspreche es!“, sagte Meyer, hob die Hand zum Schwur und ging zur Tür.

„Gute Reise!“

„Danke“, entgegnete der Kommissar und verliess Estermanns Büro.

Per Aufzug fuhr er ins Untergeschoss, wo er seinen RS6 holte. Sein Flug geht gegen zwei Uhr und er hatte schliesslich noch seinen Koffer, der in irgendeinem Schrank in seiner Wohnung vor sich hin gammelte, zu packen!

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